Andererseits geht eine Zwangseinweisung immer mit einem tiefen Eingriff in die Persönlichkeitsrechte der Patienten einher und wird von Betroffenen daher oft als traumatisches Erlebnis mit einschneidenden Folgen wahrgenommen – insbesondere wenn es während der Behandlung zu einer Zwangsmedikation kommt, was 2013 knapp 1.500 Mal der Fall war."Auch für ausführende Pfleger und die verantwortliche Ärzteschaft stellen Zwangsmassnahmen oft eine persönliche Herausforderung dar", erklärt Tabea Meyer, Assistenz-Psychologin auf einer psychiatrischen Akutstation im Raum Zürich. Da sie momentan mitten im Bewerbungsprozess steht, möchte Meyer ihren richtigen Namen hier lieber nicht lesen. Rund jeder fünfte Patient wird auf Meyers Station per FU eingewiesen. Einige kämen zwar unfreiwillig aber kooperierend, andere würden von der Polizei auf einer Liege fixiert und mit einem Spuckschutz vor dem Mund vorbeigebracht. "Die harten Fälle, oft stark psychotisch, toben und schreien manchmal vor Wut, wenn sie ankommen", erklärt die 27-jährige Psychologin, die sich mittlerweile daran gewöhnt hat, in solchen Situationen beleidigt oder bedroht zu werden. "Die müssen dann ins Isolationszimmer gebracht werden, wo alle Möbel aus Schaumstoff sind, was dem Selbst- und Fremdschutz sowie der Reizabschirmung dient. Wenn sie sich dort immer noch nicht beruhigen und zudem die angebotenen Eskalationsmedikamente nicht oral einnehmen wollen, müssen sie mit einer Spritze zwangsmediziert werden", so Meyer. Dazu komme es auf ihrer Station etwa ein Mal pro Woche – bei rund jeder fünften Zwangseinweisung. "Klar, es ist nicht schön zuzuschauen, wenn jemand von zehn Pflegern überwältigt wird. Aber in gewissen Situationen gibt es keine Alternative.""Die FU stellt eine wichtige und oftmals auch lebensrettende Massnahme des Erwachsenenschutzes dar."
Selbst wenn er eines Tages ein psychisches Problem hätte, würde er auf keinen Fall professionelle Hilfe aufsuchen wollen."Die FU sollte deshalb sehr vorsichtig und nur dann angewendet werden, wenn sämtliche milderen Massnahmen nicht ausreichen, um eine ernsthafte Gefahr für das Leben oder die Gesundheit der betroffenen Person oder von Dritten abzuwenden", erklärt Anita Biedermann, stellvertretende Geschäftsleiterin von Pro Mente Sana, einer Stiftung zur Unterstützung von Menschen mit einer psychischen Beeinträchtigung. Ihrer Meinung nach werde deren Selbstbestimmung aber immer noch "deutlich zu häufig" beschnitten. Den Hauptgrund sieht sie bei manchen Kantonen vor allem im Fehlen einer integrierten und patientenorientierten Versorgungsstruktur sowie eines unabhängigen Rechtsbeistand:"Ich habe das Vertrauen in die Institutionen, insbesondere in den Rechtsstaat, komplett verloren."
Zudem fordert Pro Mente Sana eine Harmonisierung der statistischen Erhebung von Zwangseinweisungen. Diese können vom Bundesamt für Statistik nur lückenhaft erfasst werden, da psychiatrische Betriebe sie nicht zwingend im Datensatz des Bundes registrieren müssen."Mit dem Ausbau einer mobilen Kriseninterventionsequipe, Hometreatment-Angeboten und Anschlusslösungen wie betreutem Wohnen könnte sicher ein Teil der FU verhindert und die Autonomie der Patienten gestärkt werden."
Schönenberger hat mit seinem Verein in den letzten Jahrzehnten rund 23.000 Dossiers betreut, wie jenes von Pascal. Er zweifelt an der Genauigkeit der OBSAN-Zahlen und rechnet mit einer sehr hohen Dunkelziffer."Obwohl ich ihn nicht bezahlen konnte, hatte Psychex für mich einen Anwalt organisiert, der beim Verwaltungsgericht meine Entlassung beantragt hatte. Der hat sogar noch eine Entschädigung für mich herausgeholt. Aber mir ging es nicht ums Geld, sondern um meine Freiheit – und die ist unbezahlbar."
"Das Problem an der OBSAN-Studie ist, dass sie den mehr oder minder sanften Zwang nicht erfasst", kritisiert Schönenberger die Methodik der Erhebung. Darunter versteht er etwa, wenn ein Psychiater dem Patienten mit dem Satz "Wenn Sie nicht freiwillig gehen, müssen wir Sie zwangseinweisen" einen Klinikaufenthalt nahelegt. Auch ursprünglich freiwillig eingetretene Patienten, die im Verlaufe ihrer Behandlung von der Klinik zurückbehalten werden, würden nicht erfasst. "Basierend auf dem Kontakt mit Klienten kann ich sagen, dass beides relativ häufig vorkommt", so der Anwalt. Doch selbst unter Verwendung der konservativ geschätzten OBSAN-Zahlen belegt die Schweiz europaweit einen Spitzenplatz: Eine Bundesstudie von 2011 hat hochgerechnet, dass in der Schweiz jährlich 176 Zwangseinweisungen pro 100.000 Einwohner durchgeführt werden, womit die Schweiz im europäischen Vergleich nach Finnland den zweiten Platz belegte.
Das Burghölzli – wie die Zürcher ihre Anstalt im Volksmund nennen – ist eine geschichtsträchtige Institution. Psychiatriegrössen wie C.G. Jung waren hier um die Jahrhundertwende tätig, als die Klinik noch eher eine Verwahrungsinstitution war, in der neben psychisch Kranken auch Menschen "versorgt" werden konnten, die schlicht nicht ins Stadtbild passten. Patienten verbrachten zum Teil Jahre, manchmal auch ihr ganzes Leben, hinter den Anstaltsmauern, die erst 1968 abgerissen wurden. Die Zustände waren aus heutiger Sicht prekär: In den Wachsälen wurden Dutzende Patienten untergebracht, die zum Teil mit Gurten an ihren Betten fixiert waren. Zwangsmassnahmen standen an der Tagesordnung. Die Psychiatrie habe sich seither stark modernisiert, versichert Dr. Jäger. In der zweiten Hälfte des letzten Jahrhunderts sei es zu einem Paradigmenwechsel gekommen, der dazu führte, dass das Wohl des Patienten und dessen soziale Integration ins Zentrum der Behandlung gestellt wurde.
- Schwächerer Zusammenhalt in Familie und Gemeinden im Vergleich zu südeuropäischen Ländern: Menschen vereinsamen schneller und fallen durch soziale Maschen.
- Tiefe gesellschaftliche Toleranz: Die Schweiz betreibt generell eine eher konservative Ordnungspolitik.
- Fürsorgerischer Aspekt: Offene und niederschwellige Hilfsangebote nach Schweizer Modell werden von Beteiligten eher in Anspruch genommen als in Ländern, wo psychische Krankheiten noch stärker tabuisiert sind.
- Stadt-Land-Gefälle: Urbane Räume bieten psychisch kranken Menschen Nischen, weswegen es viele von ihnen in die Städte zieht.
- Im Gegensatz zu Fachärzten sprechen Notfallärzte im Zweifelsfall eher eine FU aus, welche in der Klinik bereits nach wenigen Tagen wieder aufgehoben werden kann. Die Behandlung wird dann gegebenenfalls ohne FU-Bedingungen freiwillig weitergeführt.
Seit der Dichtung dieser Zeilen hat sich vieles in der Psychiatrie zum Wohle des Patienten verändert. Trotzdem bestechen sie auch heute noch durch eine erschreckende Aktualität: Die Recherchen zu diesem Text haben gezeigt, dass die Angst vor dem geistigen Versagen in einer leistungsorientierten Gesellschaft nicht nur zur Stigmatisierung psychischer Krankheiten führt, sondern diese in manchen Fällen überhaupt erst ermöglicht. Die Menschlichkeit einer Gesellschaft zeigt sich bekanntlich nicht zuletzt daran, wie sie mit ihren schwächsten Mitgliedern umgeht. Mit einem Ausbau der Versorgungsstruktur könnten unnötige Zwangseinweisungen vermieden werden. Um der Stigmatisierung von Zwangseingewiesenen entgegenzuwirken und damit die Wiedereingliederung von Patienten in die Gesellschaft nach einem Klinikaufenthalt zu vereinfachen, braucht es jedoch weitaus mehr. Nämlich die Bereitschaft der Gesellschaft, psychische Beeinträchtigungen dafür anzuerkennen, was sie sind: Krankheiten, die jeden befallen können."Natürlich habe ich mich geschämt, den Leuten von meinem unfreiwilligen Aufenthalt in der Psychiatrie zu erzählen", antwortet Pascal auf die Frage, wie sein Umfeld auf seine Zwangseinweisung reagiert hätte. "Einige mieden mich komplett, andere nahmen mich nicht mehr wirklich ernst. Was diese Leute jedoch nicht wissen, ist, dass mein Schicksal jederzeit auch ihnen widerfahren könnte."Folge VICE auf Facebook und Instagram.(…)Als Warnungszeichen irrt umher,
des Seele so belastet schwer,
und ein gerechtes Volk erkennt,
was es mit Recht sein höchstes nennt,
es weiss, dass nur des Geistes Kraft,
die Welt erhält und Leben schafft.(…)