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Ich habe die 110 neuen Tracks von Aphex Twin in einem Stück angehört

Lies hier, was neun Stunden Experimentalmusik einem Menschen antun können.

Wie der gesamte Rest der Welt habe ich in der letzten Woche gesehen, dass auf dem Aphex Twin-Account mit dem blauen Haken ein Soundcloud-Profil verlinkt wurde, das offensichtlich Abladeplatz für 110 unveröffentlichte Stücke ist, die den Untiefen von Richard D James' Hirnwindungen entsprungen sind. In diesem Moment war es zu spät, ich konnte es nicht mehr ignorieren. Im Namen des Qualitätsjournalismus war ich jetzt dazu verdammt, mir alle 110 Tracks in einer einzigen Sitzung anzuhören.

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Ich war bereit für einen neunstündigen Höllenritt, und ich war vorbereitet: mit einem Energydrink und einem Eiweißriegel.

21 Uhr: Es geht los. Ich bin aufgeregt. Ich kann das schaffen. 110 Songs sind nichts. Ich scrolle bis zum Ende runter, damit ich später nicht nachladen muss. Die Session beginnt sanft mit „8 utopia"—schön flächig, es knistert ein ein bisschen, ab und zu ein Synthie und undefinierbares Geklimpere. Es würde sich gut machen zu einer Dokumentation über Mikroben. Ich gehe davon aus, dass Twin selbst auch daran gedacht hat.

21:21 Uhr: Ich höre „22 Pearls"—klingt ein bisschen wie ein 90er-Jahre-Ambienttrack. Zu diesem Zeitpunkt glaube ich noch, dass ich diese neun Stunden relativ entspannt durchhalten werde.

21:50 Uhr: Höre den Lieferando-Jazz von „20 Pink Floyd", erste Anzeichen von Reue machen sich breit.

22:28 Uhr: Ich mag Musik sehr. Musik ist wirklich eine tolle Sache. Symbonsad ist ein ziemlich guter Song. Aber warum habe ich nur einen einzigen Eiweißriegel gekauft?

23 Uhr: Zwei Stunden sind rum. Es läuft gerade etwas, das „Afx origTheme" heißt. Ich hätte einen ganzen Film in diesen zwei Stunden anschauen können.

23.43: Kein Sound, der jemals das Trommelfell eines Menschen erreicht hat, ist so uneingeschränkt perfekt wie der Ton, der sich in einem mittelgroßen Raum ausbreitet, wenn du eine Energydrink-Dose öffnest. dazu läuft „Renalgade Sonar", noch so ein 90er-Jahre-Shareware-Soundtrack, und ich überlege, wie ich meinen Drink am besten rationiere, um die 75 mg Koffein ideal über die nächsten sechs Stunden verteilen zu können.

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00.01: Erinnerst du dich an deine Kinderzeit, als „Mitternacht" noch eine Zeit fernab jeder Realität war. Nun, ich bin jetzt fast 25, weshalb diese Uhrzeit kein Mysterium mehr ist, sondern nur noch Ursache für Unruhe und schlechtes Gewissen. Den Soundtrack für diese unangenehme Wendung liefert der Track „Martins Car LPF". Der Track klingt wie einer dieser schlechten Didgeridoo-Technosongs, die du nach einer beschissenen Clubnacht im Taxi nachhause hörst; oder ungefähr wie das Gefühl, eine Konverstion mit dem Taxifahrer führen zu wollen, während du gleichzeitig vermeiden musst, ihm in den Wagen zu kotzen. Stimmung: eklig

00:26 Uhr: Jetzt läuft „moow (Dixons Theft mix)". Ich verliere mein Erinnerungsvermögen.

1:12 Uhr: Zum ersten Mal denke ich ernsthaft daran, aufzugeben.

01:31 Uhr:17 Alis Trak[brainfloss mix]" motiviert mich nicht zum Weitermachen. Jetzt bekomme ich Flashbacks. Ich sehe Laserspiel-Partys aus meiner Kindheit. Diese schweren Plastikgeschütze, die schwere Plastikmunition, der Gestank von Trockeneis, die trockenen Chips jedesmal wenn ich mich auf die Bank setzen und warten musste, weil mich jemand erwischt hatte.

01:36 Uhr: Gerade erinnere ich mich an meinen besten Freund in der Grundschule, der mir erzählt hat, dass er sich bei der Heimfahrt im Auto von der Lasertag-Party zu seinem 10. Geburtstag die ganze Zeit einen runtergeholt hat.

01:59 Uhr: Der Energydrink ist leer.

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02:17 Uhr: Aphex Twin ist so einer, sage ich mir, Aphex Twin ist einer der Leute von denen wir mehr brauchen, er ist gewitzt, ein Clown irgendwie. Aphex Twin stellt sich hin und veröffentlicht Tracks eines alten Demos, dessen Namen meine Tastatur nicht schreiben kann, damit armselige Leute wie ich sie viertel nach zwei anhören. Aber lass mich dir sagen, irgendwann klingen seine Synths, als erzählten sie dir eine Geschichte, Aphex Twin ist ein bisschen wie wie Mozart. Meine Gedanken sind nicht mehr besonders klar.

02:30 Uhr: „3 gerald remix" klingt wie Drexciya.

03:05 Uhr: Alter, gib uns eine Melodie. Bitte.

03:07 Uhr: Scheiße, ich muss morgen arbeiten. Stimmung: verdammt.

3:23 Uhr: Energy-Dose zerstört. „11 Early Morning Clissold": bester Track bis jetzt. Ekstatischer Ambient. Ich verlasse meinen Körper.

3:44 Uhr: Mochte Aphex Twin Donkey Kong? Wahrscheinlich könnte ich das googlen. „1 P-String" ist ein enttäuschender Endboss-Kampf, transformiert in einen schnaubenden Technotrack

03:45 Uhr: Mein Bruder sei für immer verdammt dafür, dass er damals die Sicherheitskopien von Super Mario World und Donkey Kong Country gelöscht hat.

04:09 Uhr: Zeit … ist das nicht ein verrücktes Konstrukt, ist sie überhaupt konstruiert? Denk mal nur kurz über die Zeit nach. Ich erinnere mich an ein paar Sinnsprüche über die Zeit und nicke in Gedanken—und müde; „1 70's Tune" liefert mir den Takt und die Geschwindigkeit dazu. Der Track hört sich an, als sei eine Disco-Aufnahme mit Geschirrspülmittel abgeschrubbt worden, oder so.

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04:21 Uhr: Morgen kannst du früh ins Bett, Josh, das wird schön.

04:37 Uhr:Dance and Play"—is das sicher kein Legowelt-Track?

05:00 Uhr: Der Glockenschlag trifft mich wie ein Geschoss. Ich erkenne den Mann im Spiegel nicht mehr. Aphex Twin macht wirklich viel Musik.

05:05 Uhr: Macht er eigentlich nichts anderes? Sitzt er nicht manchmal auf seiner Couch und durchsucht mit einem Fake-Twitter-Account die Posts von Leuten, die ihn geblockt haben?

5:29 Uhr: Alles tut weh.

5:40 Uhr: Ich bitte dich … „3 hollow alias ab6" ist kein ordentlicher Titel für einen Track.

5:50 Uhr: NOCH ZEHN MINUTEN

5:59 Uhr: Als das fraglos wunderschöne „luke vivert spiral staircase [future music competition]" erklingt, trete ich in eine Zone der kompletten Ruhe ein. Ich bin eins mit dem Universum. Ich bin ein Mann, der gerade 9 geschlagene Stunden Musik von Aphex Twin angehört hat, die zuvor unveröffentlicht war. Das hat mich geprägt. Stimmung: UNWIDERRUFLICH VERÄNDERT.

Was habe ich aus dieser Erfahrung gelernt? Neun Stunden sind eine verdammt lange Zeit, wenn du sie mit Musikhören verbringst. Außerdem, noch wichtiger, lässt es uns abwägen, wie man das Gesamtwerk eines Experimantal-Künstlers am besten anhören sollte. Dieser Weg ist wahrscheinlich nicht der Beste. Vielleicht lag es auch an mir, vielleicht bin ich, der schlafdefizitäre Musikjournalist, einfach nicht der richtige Typ dafür. Wenn du es bist, gib mir Bescheid.

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