FYI.

This story is over 5 years old.

Sex

Im „Slut Club“ ist die Freiheit zu Hause

„Wer das Bedürfnis hat, an der Bar Natursekt aus dem Hahn in den Mund laufen zu lassen, wird sicherlich auch jemanden finden, der aufleckt, was daneben geht"

Thomas Pfizenmaier passt in keine Schublade: Er war Musikmanager, Party-Veranstalter, politischer Aktivist und Pornodarsteller. Seit rund 20 Jahren betreibt er den „Slut Club" in Hamburg. Leder ist das Symbol seiner sexuellen Befreiung und der Club ein hart erkämpfter Freiraum.

An diesem Donnerstagabend ist Nacktparty im Slut Club in St. Georg. Nur Schuhe sind erlaubt, selbst Eau de Toilette ist unerwünscht. Ein Gast hat keine Zigaretten mehr: Er eilt—nur in seinen Schuhen—hinaus aus dem Club, entert eine Bar in der Langen Reihe, wo er sich eine Packung aus dem Automaten zieht. Als er zurückkommt, wird er von den anderen Nackedeis am Tresen gefeiert wie ein Held. Das ist selbst für Thomas Pfizenmaier kein ganz gewöhnlicher Tag. Seit 18 Jahren organisiert der ehemalige Musikmanager schwule Fetischpartys und betreibt zwei Clubs in Hamburg und Berlin. Dafür hatte er einst seinen Job bei Universal Music an den Nagel gehängt und sein Bürooutfit gegen eine Ledermontur getauscht. Thomas sieht sich als Machertyp, Pragmatiker und Aktivist. Schwul zu sein, war für den gebürtigen Schwaben schon immer auch ein politischer Akt. Statt sich wie viele andere Gleichgesinnte zu verkriechen oder über fehlende Angebote zu jammern, beschloss er, sich mit ihnen zu vernetzen. Aus dem Umfeld des ehemaligen Front Clubs rekrutierte er in den 90er Jahren DJs wie Boris Dlugosch und organisierte unter dem Namen „HIP-To_NICE" Hamburgs erste Tea-Dance-Party im Kontor. Damals waren gerade mal 200 Leute in der Szene aktiv. Es war die Zeit, als Micha das Ostgut in Berlin betrieb, Thomas Hermanns die 7. Avantgarde in München organisierte und im „Anderen Ufer" in Berlin Steine in die Fensterscheiben flogen. Schon 1987 hatte Pfizenmaier mit dem Grünen-Politiker Volker Beck die erste schwule Plakatkampagne gegen die Volkszählung angeleiert oder Demos gegen den damaligen Leiter des Münchner Kreisverwaltungsreferats, Peter Gauweiler, mobilisiert. Wie man Menschen zusammenbringt, hatte er dabei gelernt. „Damals gab es nur zwei Möglichkeiten, das verbohrte Bürgertum zu bekämpfen: entweder der RAF beitreten oder die schwule Revolution einleiten", sagt Thomas. Die Freizügigkeit, mit der heute an vier Wochentagen im Slut Club getrunken, geflirtet und schwuler Sex gelebt wird, hätten sie sich hart erkämpfen müssen.

Anzeige

Pöbeleien und Spuckereien waren damals an der Tagesordnung; so wie eingeworfene Fensterscheiben und gewaltsame Übergriffe „besorgter" Bürger. Spätestens seit sich jedoch Politiker und Profifußballer im Fernsehen outen, Regenbogenfähnchen in Schaufenstern biederer Einkaufsstraßen hängen und das gehobene Bürgertum die schwule Konditorei „Gnosa" in Hamburg für ihr formidables Frühstück und die legendäre „Birnen-Tarte" schätzt, ist das Schwulsein zumindest in manchen Bereichen der Gesellschaft einfacher geworden. Die fast biedermeierliche Ruhe und Gemütlichkeit schmerzt den Aktivisten Pfizemaier: „Mich stört das fehlende Bewusstsein der Nachfolgegeneration. Läden wie mein Slut Club oder das Berliner Berghain sind nicht vom Himmel gefallen. Wir mussten uns jeden Freiraum erobern. Heute setzen sich alle in das gemachte Nest und vergessen dabei die Demut vor unserer Emanzipation!"

Die heteronormative Lebensweise hat längst schwule Lebensgemeinschaften erreicht. Das erfolgreiche, hippe schwule Paar mit Französischem Bullterrier an der Leine und teuren Markenklamotten passt wunderbar in das liberale Selbstverständnis moderner Großstädte. Der Lederdaddy in der Motorradkombi, auf dessen Unterarm die tätowierten Ringe mit den Namen seiner Fisting-Partner bis zum Ellenbogen reichen, hat's da schon etwas schwerer. „Natürlich kommen auch die prüden Tanzmäuse, die gerne behaupten, mit Fetisch nichts am Hut zu haben, in meinen Laden. Die lassen sich gerne treiben, aber privat thematisieren sie gewisse Freizügigkeiten und Praktiken nicht so gerne", sagt Thomas und lacht. Heute zieht es viele zu Online-Portalen wie Grindr oder Gay Romeo, wo Nicknames und Chats ein privates Umfeld vorgaukeln. „Natürlich ist es einfacher, über ein Profil zu schreiben, dass man jemandem den Arsch rimmen oder die Stiefel lecken will. Doch nur ein Club kann ein gesichertes Umfeld bieten, einen aktiven Ort der Kommunikation und des gegenseitigen Bewusstseins", erklärt Thomas und beklagt, dass gerade bei privaten Sex-Treffen und unter Einfluss von Drogen vieles schiefgehen kann.

Anzeige

Sein Fetisch-Club lebt von hohen Schwellen, denn Dresscodes und der freizügige Umgang der Gäste kosten Neulinge häufig Überwindung. Doch nur so ist garantiert, dass sich ein familiäres Verhältnis etabliert. Doch wer im Slut Club seine eigene Sexualität erforschen und ausleben will, muss mehr Hürden nehmen als die inneren. Eine Langlitz-Lederausrüstung kann bis zu 9.000 Euro kosten, und darin sind Handschuhe, Gürtel und Kappe nicht mal mit eingerechnet. Folglich ist gerade die Hamburger Klientel gesetzter. Häufig stammen die Gäste aus akademischen Berufen, sonst könnte sie sich diesen finanziellen Aufwand gar nicht leisten. In Berlin, wo Thomas das New Action betreibt, sei das ein wenig anders. Hier gäbe es mehr „Fulltime-Schwuchteln", die Sex wie Sport betreiben und keiner geregelten Arbeit nachgingen. „In manchen Wohnungen hängen Monatspläne mit ,2 for 1'-Angeboten. Das Leben dieser Leute spielt sich von einem Fick zum nächsten ab", sagt er. Die teilweise dramatischen Auswirkungen dieses Lifestyles kennt Thomas bereits seit den frühen 80ern, auch im persönlichen Umfeld: „Kurz nach dem Aufkommen des HI-Virus starben die Ersten aus der Szene, andere mussten in Frührente gehen oder sie landeten in der Arbeitsunfähigkeit." Laut Schätzungen der Organisation UNAIDS sind weltweit rund 32 Millionen Menschen an dem Virus erkrankt. Alleine in Deutschland sollen zurzeit etwa 83.400 Infizierte leben, die dank neuer Medikamente fast symptomfrei altern können. Heilbar ist die Krankheit bislang jedoch nicht und deshalb birgt ein laxer Umgang bei der Prävention auch heute noch enorme Risiken. Seit dem Jahr 2000 ist glücklicherweise ein Rückgang um 35 Prozent bei Neuinfektionen zu verzeichnen, doch ausgestorben ist HIV damit noch lange nicht. In Thomas' Clubs liegen überall Kondome aus, ob die Gäste sie benutzen, ist jedem Einzelnen überlassen.

Anzeige

Die radikale Freiheit ist für ihn der wichtigste Wert der Lederszene. „Ich habe bei der Einrichtung des Ladens auf definierte Spielangebote verzichtet. Alles soll überall möglich sein. Wer das Bedürfnis hat, an der Bar Natursekt aus dem Hahn in den Mund laufen zu lassen, wird sicherlich auch jemanden finden, der aufleckt, was daneben geht", sagt Thomas.

Doch gerade die härtesten Sex-Praktiken erfordern nicht nur Erfahrung, sondern auch Feingefühl und Respekt vor dem Gegenüber. Die Akteure müssen sich ihrer selbst bewusst sein und sich vertrauensvoll in die Hände eines anderen be- und übergeben können. Sich einem anderen Menschen voll und ganz hinzugeben, begreift Thomas als die höchste Stufe der Sexualität. Die Einseitigkeit eines Abhängigkeitsverhältnisses existiert dann nicht, denn auch der dominante Part kann ja immer nur soweit gehen, wie der Unterwürfige es zulässt. An Nachwuchs mangelt es der Szene nicht. „Bei vielen Jungen sehe ich das Funkeln in den Augen, wenn sie zum ersten Mal meine Clubs betreten. Ich weiß von vornerein, wen ich durchschnittlich sechs Monate später mit einem Prinz-Albert- oder Tittenpiercing wiedersehe", erzählt er und betont extra, dass Fetisch vor allem als Prozess der sexuellen Selbstfindung zu verstehen ist.

Dem Außenstehenden verschließen sich die Codes dieser Szene. Früher markierte man seine sexuellen Vorlieben mit sogenannten Hankycodes; farbigen Stofftüchern, die man an der Hose befestigte. Heute sind die Zeichen andere. Wer eine Lederpeitsche an der rechten Seite im Karabiner trägt, möchte den Arsch versohlt bekommen und wer sie links trägt, will sie selbst benutzen. „Da kommst du langsam rein in diese ganzen Codes. Niemand fängt mit Leder an. Das passiert meistens erst, wenn dir Kuscheln zu langweilig wird", sagt Thomas und fügt hinzu, dass ein Fetisch Club natürlich auch dem Austausch von Erfahrungswerten dienen würde. „Wenn man zu bestimmten Pornos wichst, orientiert man sich ganz automatisch auch an bestimmten Personen im Laden."

Anzeige

Die bekannteste Partyreihe im Slut Club heißt „Fickstutenmarkt". Die sogenannten Stuten lassen sich mit einem Sack über dem Kopf anbinden und anschließend von den „Hengsten" durchnehmen. Das ist selbst Thomas eine Spur zu deftig, denn dabei spielen ein gepflegter Umgangston und soziale Formen keinerlei Rolle. Ihm liegt ein klassisches Männerbild am Herzen, das dank entsprechender Requisiten und Accessoires, zumindest als optische Darstellungsform existiert. Wie viel Substanz hinter der Inszenierung dieses männlichen Ideals steckt, bleibt dabei offen. Insbesondere, weil der Club die Möglichkeit bietet, eine Seite auszuleben, die sich deutlich vom Büroalltag unterscheidet. Davon lebt die Faszination für Fetisch-Partys: vom Gegensatz zwischen dem Alltag und den nächtlichen Eskapaden in den Räumen des Clubs. „Das Schöne an der Lederszene ist ja auch, dass die eigenen Defizite akzeptiert werden. Nicht jeder hat Zeigequalität, aber darum geht es bei uns nicht. Bei uns greift der Freiheitsgedanke auch die optischen Normen an", erklärt Thomas.

In den rund 20 Jahren seines Schaffens hat Thomas eine ganze Menge Schweinkram von seinem Stammplatz hinter dem Tresen gesehen. „Früher war es noch wilder", sagt er. Den Namen „Slut" hatte er sich im London der 80er Jahre verdient, als einer der ersten Pornostars von CAZZO Film machte er sich in der deutschen Szene einen Namen. Doch langsam spürt er eine aufsteigende Müdigkeit. Die euphorische Selbstverherrlichung mancher Gäste erträgt er mittlerweile genauso wenig wie ihr Gejammer über geplatzte Liebesträume. Deshalb will er eines Tages aussteigen, auf eine Alm ziehen und Käse machen oder Makramee-Blumenampeln basteln.

Anzeige