FC Millwall: Zwischen Hooligan-Vergangenheit und Gentrifizierungsängsten
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FC Millwall: Zwischen Hooligan-Vergangenheit und Gentrifizierungsängsten

Der FC Millwall hat viele Gegner: Eine klamme Kasse, Stereotypen als britischer Nazi-Verein und die Konkurrenz der superreichen Londoner Vereine. Jetzt kommen auch noch Hipster dazu.

Wenn du Lions-Fans erzählst, dass du ein Journalist bist und etwas über ihren FC Millwall schreiben willst, wirst du mit ziemlich großer Sicherheit darum gebeten werden, nicht schon wieder die üblichen negativen Stereotypen aufzuwärmen. Denn wenn Lions-Fans eine Sache nicht mehr lesen können, dann sind es Artikel, die sich oberflächlich mit der Vergangenheit des Klubs auseinandersetzen, ohne sich die Mühe zu machen, die Gegenwart oder Zukunft in ihre Betrachtungen miteinzubeziehen.

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Ein typischer Artikel über Millwall lässt sich genüsslich über die Krawalle an der Kenilworth Road, politisierten Rassismus oder die berüchtigte Panorama-Reportage aus dem Jahr 1977 aus. Allesamt haben dazu beigetragen, den Verein aus Südostlondon in eine äußerst dunkle Hooligan-Ecke zu drängen. Was im Gegensatz dazu bestimmt zu kurz kommen wird, ist ein Hinweis auf Millwalls hervorragende Gemeindearbeit. Das soll nicht heißen, dass der Hooligan-Aspekt vom FC Millwall totgeschwiegen werden soll, doch mich—und bestimmt auch viele andere Leser—interessieren auch noch andere Themen über die Lions, die mindestens genauso spannend sind.

Was nämlich auch sehr interessant ist im Hinblick auf den Verein, ist die Situation, in der er sich aktuell befindet. Auch wenn diese in gewisser Hinsicht einmalig ist, ist es auch eine, die für andere Fußballfans in der englischen Hauptstadt von Interesse sein sollte. Denn die Zukunft des FC Millwall ist etwas, das jedes Vorstandsmitglied, jeder Investor und jeder Besitzer eines Londoner Vereins aufmerksam verfolgen sollte.

The Den, Spielstätte vom FC Millwall, samt angrenzendem Gebiet.

Millwall hat etwas von einer Insel. Ein Fan, der schon seit Kindheitstagen zu Millwall-Spielen geht, hat das bestätigt und von einer gewissen „Inselmentalität" unter den Fans gesprochen. Gegründet wurde der Verein auf der Isle of Dogs, einer Halbinsel im Londoner East End, weswegen die Inselmetapher durchaus angebracht erscheint. Auch das Stadion, The Den, liegt isoliert im abgelegenen Bezirk New Cross. Umringt von Schienen, Zäunen, Brücken und Industriegelände erinnert es an ein riesiges Raumschiff in einem ansonsten vernachlässigten Stadtviertel.

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The Den noch einmal von außen.

Das Gefühl von Isolation wird auch durch die vielen Vorurteile, mit denen Millwall-Fans zu kämpfen haben, weiter verstärkt. In einer Tour sehen sie sich gezwungen, die Identität und den Ruf ihres Vereins zu verteidigen, was zwar nach innen zusammenschweißt, nach außen aber auch Barrieren aufbaut. Wenn die Fans No one likes us, we don't care von den Tribünen brüllen, kann man das auch als Botschaft in Richtung der Medien ansehen. Dabei sind Millwall-Fans nach meinen Erfahrungen äußerst freundlich gegenüber Neuankömmlingen. Doch der alte Ruf der Lions hat auch eine andere Fan-Entwicklung zur Folge: Es gibt faktisch keine Neuankömmlinge.

Ich habe mich zu diesem Thema mit dem Millwall-Fanbeauftragten Pete Garston unterhalten. Er sprach mit mir über die moderne Lions-Identität, über den Rückgang von Stadionverboten und die intensive Freiwilligenarbeit vieler Fans. Er ließ durchblicken, dass es natürlich noch immer problematische Fans in der eigenen Anhängerschaft gibt—die wohl keiner so gut kennt wie er—, doch er kam auch auf den Widerspruch zu sprechen, dass Millwall für sein antirassistisches Engagement ausgezeichnet wurde, aber gleichzeitig immer noch kaum Fans ethnischer Minderheiten ins Stadion locken kann. „Aufgrund der allgemeinen Außendarstellung wissen viele nichts von den positiven Entwicklungen in unserem Verein. Doch wer schon mal bei uns im Stadion war, sagt fast immer, dass er sich sehr wohlgefühlt hat."

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Pete Garston (sitzend) bei einem Millwall-Spiel.

Das Schicksal des FC Millwall entspricht dem vieler weiterer Vereine aus der Football League im Großraum London, die ebenso ein recht isoliertes (Fan-)Dasein fristen. Gemeinsam stehen sie vor folgender Herausforderung: Wie schafft es ein kleiner Verein im heutigen London, seine Isolation zu durchbrechen und neue Fans zu gewinnen?

Denn nur durch neue Fans ist es möglich, seine Umsatzentwicklung stabil zu halten. Eintrittsgelder, Fanartikel, Sponsoren und Werbeeinnahmen hängen allesamt mit einer gesunden und wachsenden Fanbase zusammen. Gleichzeitig muss man den Verein so führen, dass alteingesessene Anhänger nicht vergrault werden. Vor allem in London haben die Vereine der Football League einen (über)großen Konkurrenten: die Premier League. Mit superreichen und erfolgreichen Vereinen wie Chelsea, Arsenal und Tottenham gleich vor der Haustür—ganz abgesehen von Vereinen wie Manchester United und Liverpool, die sich auch in der Hauptstadt einer großen Anhängerschaft erfreuen—werden die meisten potentiellen Fans von Millwall und Co. schon frühzeitig von EPL-Vereinen „aufgeschnappt". Wenn man dann noch ein Imageproblem hat wie die Lions, werden die großen Schwierigkeiten sofort deutlich. Doch selbst Klubs wie Fulham und Queens Park Rangers haben mit ähnlichen Problemen zu kämpfen. Von regelmäßig ausverkauften Heimspielen können auch sie nämlich nur träumen.

Der Millwall-Slogan „Fear no foe" (fürchte keinen Feind).

Der FC Millwall ist ein typisches Beispiel für einen unterklassigen Verein, der versucht, der großen Konkurrenz aus der Premier League irgendwie zu trotzen. Er dient aber gleichzeitig auch als spannende Einzelfallstudie zu der Frage, was passiert, wenn sich die Umgebung eines Stadions radikal zu verändern droht.

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Denn New Cross ist zwar noch ein vernachlässigter Teil Londons, doch das könnte sich schon bald ändern. Wie jede Ecke in der englischen Hauptstadt, die nicht weit entfernt vom Zentrum liegt, ist auch New Cross ein typisches Ziel für jeden Stadtentwickler. Einige der möglichen Maßnahmen könnten sich positiv auf den Bezirk auswirken. Doch dass die meisten zu erwartenden Neubauten vor allem auf junge, gut verdienende Mieter von außerhalb abzielen werden, kann man als gegeben ansehen.

Ein Graffiti außerhalb vom The Den, das Neil Harris—den Millwall-Rekordtorschützen und aktuellen Trainer der Lions—darstellen soll.

Millwall wird vieles der geplanten Stadtentwicklung am eigenen Leibe zu spüren bekommen. Schon jetzt wird sich um das Gebiet um das Stadion herum gestritten. Gleichzeitig ist auch die Rede von einer besseren Verkehrsanbindung und sogar U-Bahnstationen. Das klingt zwar auf den ersten Blick nach einer positiven Entwicklung, doch man muss kein Hellseher sein, um zu verstehen, dass das Zuziehen von neuen Bürgern auch große Risiken für den Verein birgt. Denn die werden keinerlei Verbindung zu Millwall oder der Nachbarschaft haben. Zudem kann man davon ausgehen, dass die Grundstücks- und Mietpreise ansteigen werden. Wer weiß also, ob sich die heutigen Fans von Millwall in zehn Jahren überhaupt noch leisten können, in Stadionnähe zu wohnen?

Um mehr zu dem Thema der Stadtentwicklung/Gentrifizierung und den Folgen für Millwall zu erfahren, habe ich mich mit dem Lions-Fan und Herausgeber des unabhängigen Cold Blow Lane-Magazins getroffen. Nick erzählte mir, dass New Cross historisch gesehen „ein vergessener Stadtteil Londons" ist, dass sich dies aber schon bald ändern werde.

Nick Hart vor dem Millwall Cafe.

„Sobald das erste Geld reinfließt und eine U-Bahn-Verbindung zum Zentrum da ist, werden hier neue Wohnungen und Bürogebäude mit Blick aufs Stadion entstehen." Nick kann sich nicht vorstellen, dass die Neuankömmlinge erfreut sein werden, wenn Auswärtsfans von Leeds United oder West Ham durch die Nachbarschaft ziehen.

„Wir sind hier eine kleine Insel von fußballliebenden Arbeitern, obwohl ich nicht weiß, wie lange das noch Bestand haben wird."

Es sieht also ganz danach aus, als ob Millwall an einem existenziellen Scheideweg steht: Wird der Verein auch in einem aufpolierten London der Zukunft bestehen können, oder wird die mögliche Gentrifizierung sogar zwischen Stamm-Anhängerschaft und Verein einen Keil treiben? Auch wenn der Einzelfall Millwall auch dadurch erschwert wird, dass man mit einem so schlechten Ruf zu kämpfen hat, sei gesagt, dass diese Frage eigentlich jeden Verein der Football League in London beschäftigen sollte, schließlich ist der Londoner Immobilienmarkt nicht nur auf New Cross begrenzt.