Im Gespräch mit dem Regisseur des ersten interaktiven Kinofilms der Welt

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Im Gespräch mit dem Regisseur des ersten interaktiven Kinofilms der Welt

Wegrennen oder stehen bleiben? In 'Late Shift' kannst du 180 Entscheidungen für den Protagonisten treffen.

Alle Stills bereitgestellt von Late Shift "Tu es nicht!", denke ich mir jedes Mal, wenn die Protagonistin in meinem Lieblingsfilm ihr Geheimnis einem schamlosen Verräter anvertraut. Filme lebten bisher von der Spannung, die entsteht, wenn sich Charaktere im Film anders verhalten, als es der Zuschauer wünscht. Eine Schweizer Erfindung hat jedoch mit der Ohnmacht des Zuschauers gebrochen. CtrlMovie ist eine Software, die es Regisseuren erlaubt, multioptionale Geschichten zu erzählen und Zuschauer dazu ermächtigt, mit Buttons wie "bleib stehen" oder "renn weg" auf das Geschehen im Film Einfluss zu nehmen. Die dazugehörige App erlaubt es zudem einem ganzen Kinopublikum, den Verlauf einer Geschichte mit Mehrheitsentscheidungen zu beeinflussen – ganz ohne Unterbruch und Verzögerung.

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Tobias Weber hat die Software mitentwickelt und beim ersten grossen Kinofilm, der auf dieser Technologie basiert, Regie geführt. Das Drehbuch zu 'Late Shift'  wiegt mehrere Kilo und besteht aus flussdiagrammartigen Erzählsträngen, die in sieben unterschiedlichen Enden münden. In der schweizerisch-englischen Koproduktion kann an 180 Stellen im Film auf die Entscheidungen des Protagonisten Einfluss genommen werden. Du kannst den Film also mehrmals schauen, jedes Mal mit einer unterschiedlichen Handlung. So besteht 'Late Shift' insgesamt aus über vier Stunden Filmmaterial. Wir haben mit Weber nach einem Screening des Films im Zürcher Restaurant Razzia über die Innovationskraft der Technologie sowie die Veränderungen gesprochen, die damit für Storytelling, Filmvermarktung und Anforderungen an die Schauspieler einhergehen:

VICE: Wie bist du beim Schreiben von 'Late Shift' vorgegangen. Hast du sieben unabhängige Stories miteinander verwoben, oder bist du von einem Haupterzählstrang ausgegangen, den du dann alterniert hast?
Tobias Weber: Als Autor musst du dich nicht nur fragen, für welche Option sich deine Protagonisten entscheiden, sondern immer auch, für welche Alternativen sie sich nicht entscheiden. Und wieso. Beim multioptionalen Schreiben machst du genau dasselbe, nur verfolgst du dann nicht bloss den einen Erzählstrang, sondern mehrere parallel. Ob die dann komplett auseinanderlaufen und zu unterschiedlichen Enden kommen, oder ob die Erzählstränge später wieder zusammenfinden, ist dem Autor selbst überlassen.

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Wie wird diese Technologie das klassische Storytelling beeinflussen? Gehen Geschichten weg von einer spezifischen Storyline, die eine klare Botschaft und eine unmissverständliche Moral enthält, hin zu einer Vielzahl an Botschaften, die von den Entscheidungen des Zuschauers abhängen?
Genau, die Botschaft steckt dann in den Entscheidungen, die du triffst, respektive in den Konsequenzen, die du als Zuschauer erlebst. Das ist eigentlich auch die Message von 'Late Shift'. Du kannst den Protagonisten machen lassen, was du willst, musst aber mit den Konsequenzen leben. Das alleine ist ja schon eine Message.

Das sind ja im Grunde tief christliche Werte, die ihr da propagiert? Also die Vorstellung einer Entscheidungsfreiheit, die eine persönliche Schuld an den Konsequenzen mit sich bringt.
Kann man so sagen, ja (lacht).

"Die Technologie eröffnet eine Vielzahl an gleichzeitig nebeneinander existierenden Wahrheiten": Tobias Weber im Razzia-Damenklo in Zürich | Foto: Philippe Stalder

Ich habe mich lange mit der Frage beschäftigt, ob das Leben deterministisch ist, oder ob ich einen freien Willen besitze, mit dem ich den Lauf meines Lebens aktiv beeinflussen kann. Wie stehst du dazu?
'Late Shift' geht sehr stark von einem freien Willen aus. Je nachdem, welche Entscheidungen du triffst, kommt der Film zu einem Happy End, oder zu einem tragischen Ende. Ob das jetzt christliche Werte sind, oder Gesetzmässigkeiten des Karmas, sei einmal dahingestellt. Du strahlst im Leben einen Vibe oder eine Energie aus, die dann wieder auf dich zurückfällt. Mit derselben Technologie könnte man aber auch genau die gegenteilige Anschauung umsetzen. Es könnte ja auch jemand einen Film machen, in dem, egal welche Entscheidung du triffst, immer dasselbe Ende herauskommt.

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Viele Wege führen nach Rom…
Genau, aber man kann damit auch spielen. Das ist ja genau das Spannende an dieser Technologie. Sie eröffnet eine Vielzahl an gleichzeitig nebeneinander existierenden Wahrheiten.

Ich habe versucht auszurechnen, wie viele Variationen ein Film bietet, der 180 Entscheidungspunkte mit je zwei Optionen hat. Aber ich bin dabei ans Ende meiner mathematischen Fähigkeiten gelangt.
Du müsstest eigentlich 2 hoch 180 rechnen, aber da gewisse Handlungsstränge ja auch wieder zusammenlaufen, gibt es schon nicht ganz so viele Variationen. Wir hatten aber einmal einen Algorithmus geschrieben, der genau das für unseren Film ausrechnen sollte. Er ist aber bereits nach der ersten Episode abgestürzt. Alleine im ersten Kapitel gibt es rund 65'000 Variationen.

Wie kannst du bei einer so hohen Anzahl an unterschiedlichen Geschichten sicherstellen, dass jede einzelne Version in sich stimmig ist und dramaturgisch Sinn macht?
Du kannst natürlich nicht alle Versionen einzeln durchgehen. Es ist also gar nicht möglich, den totalen Überblick zu erhalten. Deswegen musst du einen Schritt zurückgehen und das Drehbuch aus der Distanz anschauen. Wenn zwei divergierende Stränge an einem Punkt zusammenkommen und sich später wieder verzweigen, dann musst du schauen, dass das Verhalten eines Charakters mit der vorhergehenden Entscheidung übereinstimmt. Du musst rational und logisch an die Sache herangehen, alleine mit ausprobieren kommst du nicht sehr weit.

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War es schwierig, Leute von deiner Idee zu überzeugen und Geldgeber zu finden?
Am Anfang schon, wobei das Pilotprojekt enorm geholfen hat. Dadurch konnten die Leute zum ersten Mal erleben, wie es sich anfühlt, auf die Handlung eines Films Einfluss zu nehmen. Danach wollten sie mehr sehen. Ohne das Pilotprojekt, das der ersten Szene von 'Late Shift' in der Garage entspricht, wäre es nicht gegangen. Lokale Geldgeber, wie das Bundesamt für Kultur oder die Zürcher Filmstiftung, hatten das Projekt jedoch beide abgelehnt. Die sagten: Ach was, das ist doch viel mehr ein Game und gar kein Film. Hau doch ab. Das Schweizer Fernsehen teilte jedoch unsere Vision und hatte ihren Transmedia-Fonds ausgeraubt, um uns zu unterstützen.

Es ist ja für viele Filmemacher schon schwierig genug, für einen regulären Film ein Budget zusammenzubekommen. Interaktive Filme sind in der Produktion noch um einiges aufwändiger. Wie gehst du mit diesem Problem um?
Es ist verhältnismässig schon sehr teuer, einen interaktiven Film zu produzieren. Dieses Format bietet aber auch viel mehr Möglichkeiten, um die Kosten des Films zu amortisieren. Einerseits kann man sich denselben Film mehrmals im Kino anschauen, da jedes Mal eine andere Version herauskommen wird.
Andererseits werten wir die Daten der Entscheidungen des Publikums aus, wodurch wir viel über die Haltungen der Zuschauer erfahren. So kann die Werbung im Film viel gezielter geschaltet und somit teurer verkauft werden. Allenfalls kannst könntest du auch für Product Placements mehr Geld verlangen, weil du dem Kunden mehr Exposure bieten kannst und der Zuschauer mit dem Produkt theoretisch auch interagieren kann. Den zusätzlichen Kosten stehen also ungleich mehr Möglichkeiten gegenüber, die Ausgaben wieder reinzuholen.

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Wie lange dauerte es von der ursprünglichen Idee bis hin zur Fertigstellung des Films?
Die ursprüngliche Idee ist wirklich uralt. Das war noch vor dem ersten iPhone. Wie sich die Technologie weiter entwickelt hatte, wurde die Chance zur Umsetzung immer realer. Als dann das iPad herauskam, machten wir die ersten Tests, die mehr oder weniger funktionierten.

In welcher Wechselwirkung stehen Technologie und Filmproduktion?
Die gehen Hand in Hand. Die Vision, wie die Technologie funktionieren soll, stand zwar eher im Vordergrund, aber sie wurde auch dadurch beeinflusst, welche Stories wir erzählen wollten. Dann haben wir die ersten Szenen des Pilotprojekts gedreht und auf dem Betriebssystem iOS umgesetzt. Das Feedback war sehr positiv, und so waren wir ermutigt, etwas Umfangreicheres in Angriff zu nehmen. Viele Aspekte, die die Technologie jetzt bietet, sind ursprünglich durch Ansprüche an die Story entstanden.

Wie verändert sich der Anspruch eines interaktiven Formats an die Schauspieler? Je nachdem bereiten sich Schauspieler ja bis zu einem Jahr auf eine Rolle vor. Jetzt müssen sie sich aber eine schizophrene Rollenidentifikation aneignen.
Das stimmt, die Schauspieler müssen flexibler werden, was sicher eine Herausforderung ist. Die wurden aber bei 'Late Shift' von allen Beteiligten auch sehr gerne angenommen, weil es spannend ist, mehrere Wahrheiten einer Person in einer Rolle zu vereinen.

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Der Film ist eine schweizerisch-englische Koproduktion. Wie ist diese Zusammenarbeit zustande gekommen?
Ich hatte in England Film studiert und habe dort viele Freunde aus der Filmbranche. Mir war von Anfang an klar, dass wir den Film auf Englisch machen müssen, um ein möglichst grosses Publikum zu erreichen. Ein neues Format hätte auf Schweizerdeutsch nie sein Potential entfalten können. Kein Schwein hätte den Film gesehen.

'Late Shift' feierte vor einem Jahr Premiere. Wie haben sich die Reaktionen in der Zwischenzeit verändert? Konnte sich das Format etablieren?
Ich denke schon. Der erste Test hier in Zürich im Houdini lief schon sehr, danach gingen wir nach Cannes und ans South by Southwest Festival, wo der Film einschlug wie eine Bombe. Von dort aus wurden wir weltweit von etlichen Filmfestivals eingeladen. Das gab uns enorm viel Rückenwind und die Gewissheit, dass hier wirklich ein neuer Markt entstehen kann.

Gibt es viele Produktionsfirmen, die mittlerweile auf interaktive Formate setzen?
Ja, wir haben viele Anfragen von Produzenten, die unsere Technologie für eigene Projekte verwenden wollen. Und auch wir werden bald ein neues Projekt in Angriff nehmen.
Dann gibt es noch einige Konkurrenten, unter anderem Hello Eko. Die machen etwas Ähnliches, aber vor allem für Kurzformate und Musikvideos, die drängen jetzt aber auch ins Erzählerische. Daher wird sich dieser Bereich in Zukunft entwickeln.

Was hast du während der Arbeit am Film über deine eigenen Entscheidungen gelernt, die du bisher in deinem Leben getroffen hast?
Auf dem Set haben wir viel über Entscheidungen und ihre Konsequenzen philosophiert. Ich glaube, dass Entscheidungen etwas extrem Starkes sind, was die Leute auch beschäftigt. Wir leben in einer sehr dualen Welt, alles ist schwarz oder weiss, nach vorne oder zurück, gut oder schlecht. Wir müssen konstant Entscheidungen treffen. Deswegen berührt diese Thematik die Leute. Du glaubst also nicht an das Schicksal?
Jein, ich glaube an den Determinismus des Guten. Das Gute wird sich durchsetzen. Aber bis dahin wird noch recht viel Scheisse aus unseren Entscheidungen resultieren.