Feminismus

Wikipedia-Autorinnen erzählen, wie Männer ihre Arbeit sabotieren

"Manchmal überlege ich, ob ich mir einen neuen Benutzernamen zulegen sollte. Vielleicht Alexander von Hohenbrunn-Schönhausen."
Montage: Im Hintergrund: Der Wikipedia-Globus aus Puzzleteilen. Davor Blitze und die Gesichter von zwei Wikipedia-Autorinnen
Montage: Vice || Screenshot: Wikipedia || Blitze: publicdomainpictures.net | CC0 1.0 || Fotos der Protagonistinnen: privat

"Gegen Mitte des geilen 19. Jahrhunderts entstand in vielen Ländern Vulva-Europas die erste Welle des Busen-Feminismus." – Hä?! Dieser Satz stammt nicht etwa von einem Chatbot, den man mit Herrenwitzen gefüttert hat, sondern aus dem Wikipedia-Artikel zu Feminismus vom 5. April 2018. Den Quatsch wollte ein Nutzer als "Korrektur" in den Wikipedia-Artikel schmuggeln. Gelungen ist es ihm zwar nicht, doch der anonyme Troll, der ihn geschrieben hat, ist nicht allein.

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Immer wieder streuen Wikipedia-Nutzer respektlose Kommentare in Artikel, die von Frauen und Frauenrechten handeln, mischen sich aggressiv ein. Ihre Kommentare lassen sich genau nachverfolgen, weil die Debatten der Autorinnen und Autoren unter Wikipedia-Artikeln öffentlich sind. In der Diskussion zum Wikipedia-Artikel über Mansplaining behauptet zum Beispiel ein Nutzer, Feminismus sei eine "hochgradig faschistische Bewegung".

Wenn wir neugierig auf Wikipedia nachlesen, wofür Marie Curie nochmal genau den Nobelpreis bekommen hat oder seit wann wir in Deutschland eigentlich von Mansplaining sprechen, ahnen wir oft nichts davon, wie Autorinnen und Autoren wochenlang über diese Artikel diskutiert und gestritten haben. Wir vertrauen einfach der Website und der Schwarmintelligenz der rund 20.000 registrierten Autorinnen und Autoren, die monatlich in der deutschsprachigen Wikipedia schreiben. Dabei ist Wikipedia, das wichtigste und größte Online-Lexikon, in vielen Teilen ein Männerclub.

Von 330.000 Wikipedia-Artikeln über Personen, die innerhalb der letzten 100 Jahre geboren wurden, befassen sich nur knapp über 20 Prozent mit Frauen, wie Spiegel Online im Dezember 2018 festgestellt hat. Im gleichen Jahr veröffentlichte die Plattform Zahlen zum Gender-Gap unter den Autorinnen und Autoren: In Westeuropa machen Frauen nur neun Prozent der Community aus. Längst versucht Wikipedia aktiv, mehr Frauen in die Community zu holen, zum Beispiel mit Veranstaltungen wie dem WomenEdit, bei dem sich einmal im Monat Wikipedianerinnen treffen, um gemeinsam Artikel zu schreiben und zu verbessern.

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Wir haben mit drei Wikipedianerinnen darüber gesprochen, wie sie in der männlich geprägten Wikipedia für ihre Artikel kämpfen.

Saskia Ehlers: "Würde als Mann anders behandelt werden"

Saskia Ehlers steht in einem Wald

Saskia Ehlers | Foto: privat

Saskia Ehlers sagt, sie sei in Armut aufgewachsen. Die Wikipedia-Bewegung und Förderung habe ihr geholfen, sich weiterzubilden und Kontakte und Erfahrungen zu sammeln. Zur Zeit ist die 29-Jährige Masterandin an einer technisch-naturwissenschaftlichen Universität in Norwegen

Als ich 2013 angefangen habe, bei der Wikipedia mitzuschreiben, hatte ich nicht das Gefühl, dass es Diskriminierung gibt. Ich habe viel über Neurowissenschaft geschrieben. Mein erster Artikel handelte zum Beispiel von Misophonie, das haben Menschen, wenn sie besonders sensibel auf manche Geräusche reagieren. Meine ersten Artikel zu Wissenschaftlerinnen und Frauenrechtlerinnen habe ich 2014 geschrieben. Inzwischen sind es mehr als 25 Artikel über Frauen sowie einige über LGBT. Seitdem ich diese Artikel schreibe und einige Veranstaltungen zu feministischen Themen geleitet habe, habe ich das Gefühl angegangen zu werden.

Zum Beispiel bekomme ich inzwischen von ein paar Wikipedia-Autoren in jeden meiner Artikel Bausteine eingesetzt. Einen Baustein kann man mit einem Stempel vergleichen, der sagt: Hier stimmt etwas nicht, dieser Artikel ist Mangelware und muss nochmal genau überprüft werden. In dem Baustein steht zum Beispiel, dass der Artikel zu wenige Quellen hat oder nicht enzyklopädisch geschrieben ist. Andere Autoren überprüfen und verbessern das dann. Früher habe ich nicht so viele Bausteine eingesetzt bekommen.

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"Diese Artikel sind eine Form des Protests"

Manche Nutzer mansplainen mir auf meiner eigenen Benutzerinnenseite sogar Grundlagen von Wikipedia. Sie erklären mir, wie man zitiert. Dabei habe ich schon mehr als 60 Artikel geschrieben, die insgesamt über 500.000 mal geklickt wurden. Ich weiß, wie man zitiert. Das ist so frustrierend.

Wer hat Angst vor Vaginakunst?

Jetzt schreibe ich vermehrt Artikel zu feministischen Themen wie Vergewaltigungen in Indien oder zur japanische Künstlerin Megumi Igarashi, die Vulven für ihre künstlerischen Darstellungen benutzt und dafür unter Obszönitätengesetzen in Japan verurteilt wurde. Diese Artikel sind eine Form des Protests. Manchmal überlege ich, ob ich mir einen neuen Benutzernamen zulegen sollte. Vielleicht Alexander von Hohenbrunn-Schönhausen. Dann würden alle denken, dass ich ein Mann bin. Ich würde ganz anders behandelt werden und mir keine Gedanken machen müssen, ob mein nächster Artikel wohl zerfetzt wird und ob das passiert, weil ich eine Frau bin oder weil der Artikel wirklich nicht gut ist.

Aber ich werde nicht aufhören, auf Wikipedia zu schreiben. Ich finde es toll, wenn Leute meine Artikel lesen und ich ihnen damit Zugang zu neuen Themen gebe.

Corinna*: "Für mich ist die Zukunft nicht aufgeteilt in Männer und Frauen"

Corinna arbeitet im Verwaltungsbereich und will uns ihr Alter nicht verraten, kann sich aber noch gut an die erste Mondlandung erinnern. Im März ist sie extra von München nach Berlin gereist, um beim "Diversithon" dabei zu sein, bei dem Autor*innen über Diversität auf Wikipedia gesprochen haben.

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Einer meiner ersten Wikipedia-Artikel handelte von einem Münchner Frauenbuchladen. Ich habe geschrieben, der Buchladen sei gegründet worden, um weibliche Lebenswirklichkeit sichtbar zu machen. Auf der Diskussionsseite zum Artikel schrieb jemand, er stelle sich bei so einer Formulierung eine einsehbare Küche im Buchladen vor.

Das hat mich zutiefst verstört, also habe ich bei einem Wikipedia-Treffen gefragt, ob jemand diesen Nutzer kennt. Da antwortete mir einer: "Ja, die kenn ich. Die ist manchmal ein bisschen ruppig, aber ansonsten klasse." Der Nutzer war also eine Frau. Ich war verblüfft. Automatisch war ich davon ausgegangen, dass nur Männer so etwas sagen könnten.

"Wenn ich eine Wikipedia-Gruppe mache, dann für Frauen und für Männer gleichermaßen"

Wenn jemand zu Unrecht meine Wikipedia-Beiträge angreift, helfen mir Geduld, verlässliche Quellen und andere Wikipedia-Autorinnen und Autoren. Mit der Zeit haben sich Cluster von Leuten entwickelt, die immer wieder mal Beiträge von mir lesen. Sie beziehen auf den Diskussionsseiten Stellung und argumentieren an meiner Seite, auch wenn ich sie nicht persönlich kenne. Das Miteinander auf Wikipedia kann sehr solidarisch sein, nicht nur zwischen Frauen oder zwischen Männern.

Manchmal finde ich die Gruppenbildung aber problematisch. Nachdem ich am Mansplaining-Artikel mitgearbeitet hatte, wurde ich gefragt, ob ich eine Wikipedia-Frauengruppe in München leiten will. Ich hab ganz klar gesagt: "Nein, das kommt gar nicht in Frage!" Wenn ich eine Gruppe mache, dann für Frauen und für Männer gleichermaßen. Für mich ist die Zukunft nicht aufgeteilt in Frauen und Männer. Die Zukunft ist eine Gemeinschaft der Vernünftigen.

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Sandra Becker: "Verstehe nicht, warum Männer eine Welt bauen, in der Frauen nicht auftauchen"

Im Jahr 2006 war Sandra Becker häufiger bei Wikipedia-Veranstaltungen, hat in der von Männern geprägten Community aber keinen Anschluss gefunden. Sechs Jahre später ermutigte sie ein Mann auf einer Wikipedia-Veranstaltung, sich mit Frauen zu vernetzen und einen Account einzurichten. Seitdem ist die Dozentin, Künstlerin, Designerin und Gleichstellungsbeauftragte Anfang 50 als Autorin bei dem Lexikon aktiv.

Sandra Becker vor dem Guggenheim Museum in London

Sandra Becker | Foto: privat

Wikipedia-Artikel über Frauen werden schneller gelöscht als die über Männer. Das ist auffällig. Und nicht nur ich erlebe das, auch viele andere haben mir davon berichtet. Vor Kurzem hat es einen meiner Artikel über eine besondere Weberei getroffen. Jemand hat einen Löschantrag gestellt, weil die Weberei, die einer Frau gehört, nicht relevant genug sei – obwohl sich der Artikel bei einer Editier-Veranstaltung im Austausch mit anderen Wikipedianern entwickelt hat.

So einen Löschantrag kann jeder stellen, wenn er findet, dass ein Artikel nicht relevant oder nicht gut genug ist. Oder wenn man glaubt, dass er eine Urheberrechtsverletzung sein könne. Darüber diskutiert die Community dann gemeinsam, bevor ein Admin die Entscheidung trifft. Ich hätte also diskutieren können, damit der Artikel nicht gelöscht wird, aber ich hatte einfach keine Lust. Natürlich habe ich mich geärgert und ich habe auch was Besseres zu tun, ich habe meine Jobs.

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"Es war egal, dass ich das studiert habe, dass ich Profi bin, in der Kulturbranche arbeite. Alles egal"

Am stärksten hat mich ein Löschantrag gegen meine eigenen Bilder belastet. Die hatte ich bei Wikicommons hochgeladen, weil mich eine Autorin darum gebeten hatte, sie in den Wikipedia-Artikel über mich als Künstlerin einzufügen. Es waren Fotos aus einer Einzelausstellung von mir, das stand sogar an der Wand. Und trotzdem hat mir jemand mit einer IP-Adresse aus Russland einfach nicht zugetraut, dass das, was im Rahmen gezeigt wird, meine Bilder sind. Das ist doch krass!

Es ist schwer, sich als Frau bei sowas immer wieder zu sagen: "Nein, es liegt nicht daran, dass ich eine Frau bin."


Auch bei Vice: Die Black Women’s Defense League kämpft mit Waffen gegen Rassismus und Frauenfeindlichkeit


2016 saß ich in der Jury bei einem Wikicommons-internen Fotowettbewerb. Wir waren nur zwei Frauen und das kannte ich nicht aus meinen bisherigen Jurytätigkeiten. Die Männer fanden meine Kriterien für gute Fotos zwar ganz interessant, aber trotzdem nicht gut genug, um sie anzuwenden. Es war egal, dass ich das studiert habe, dass ich Profi bin, in der Kulturbranche arbeite. Alles egal.

Wenn Männer bestimmen, was sinnvoll ist, was Relevanz hat, dann tauchen Frauenthemen eben nicht auf. Männer sind eben anders sozialisiert und merken das gar nicht, wenn sie nur unter sich sind. Sachen, die für Frauen wichtig sind, fallen bei ihnen schnell mal unten durch. Das hat sich ja auch daran gezeigt, dass die Laserphysikerin Donna Strickland erst dann einen Artikel bekommen hat, als sie den Nobelpreis gewonnen hat. Als wäre sie vorher nicht wichtig genug gewesen. Aber ich brauchen diese Vorbilder und Rolemodels. Ich kann nicht so richtig verstehen, warum Männer eine Welt bauen, in der Frauen nicht auftauchen.

*Name von der Redaktion auf Wunschgeändert

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