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Reisen

Kalkuttas Brücke

Wer Kalkutta auf Schienen erreicht, der hat meistens schon einiges hinter sich. Eine 31-stündige Zugfahrt, bei der einen die indische Polizei beim Kiffen mit zwei Dänen in einer ranzigen Toilette erwischt und dann minutenlang auf Hindi beschimpft, während man sich schon ziemlich sicher ist, nun wegen Drogenhandels mehrere Jahre hinter Gittern zu landen, zum Beispiel. So war es jedenfalls bei mir, als ich nach anderthalb Monaten Südindien in der Mutter des Chaos ankam.

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Für umgerechnet fünfzehn Euro hatte ich weit mehr als einen gesamten Tag in der mehr als intimen Enge der „Sleeper Class“ verbracht, vielen ungläubigen Indern erklärt, dass in deutschen Zügen auch die zweite Klasse über Waggons mit Fenstern und geschlossenen Türen verfügt und ich in meinen juvenilen Zwanzigern allen Ernstes noch nicht verheiratet worden bin. 1.500 Kilometer Richtung Norden waren es von Chennai aus gewesen - quasi in einem gemächlich ruckelnden Live-Kino von Indian Railways gesponsort, in dem man eingepfercht in einer niemals endenden Dauer-Dokumentation von bettelnden Kindern über  kotzende Babys und penetranten Götterstatue-Dealern bis hin zu gänzlich zerbröselnden Fußnägeln (an lebenden Menschen!) alles zu Gesicht bekommt – ob man will oder nicht.

Nach dem lange ersehnten Ausstieg im 23-gleisigen Ungetüm „Howrah Station“, einem der vier großen Bahnhöfe Kalkuttas, schabte ich mir bei 43 Grad im Schatten erstmal diese  schwer definierbare Masse aus Dreck und Schweiß von der Haut, die sich auf unerklärliche Art und Weise an faltenlastigen Stellen wie den Armbeugen oder Kniekehlen angesammelt hatte und gönnte mir anschließend die sieben Euro teure Taxi-Fahrt ins eigentliche Zentrum der Stadt. Ein echtes Taxi, ein Auto mit Gummireifen und Motor und so! Noch mehr klopfte ich mir auf die Schulter, als es später plötzlich Niagara-Fall-artig anfing zu schütten und ich hinter geschlossenen Scheiben beobachten konnte, wie Kleinvieh die Straßen hinab gespült wurde.

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Der Weg in die Stadt führt einen unweigerlich über die Howrah Bridge, die den Mega-Bahnhof, überregionaler Hauptumschlagplatz für Waren und vor allem Menschen, auf der einen Seite mit dem Zentrum Kalkuttas auf der anderen Seite verbindet. Und das ist im Grunde genommen auch schon der Grund dafür, dass gerade diese Brücke es wert ist, über sie zu schreiben: Sie ist die einzige mautfreie und damit kostenlose Verbindung zwischen Howrah und Kalkutta. Eine 65 Jahre alte Kanüle, über die der erschreckend arme, aber äußerst faszinierende und irgendwie auch ziemlich charmante Moloch an der Grenze zu Bangladesch mit allem versorgt wird, was er benötigt, um so unglaublich laut, schmutzig, durcheinander und unverständlich zu bleiben, wie er es Tag für Tag ist. Kalkutta ist eine Stadt, wie es sie mit diesem Grad an Chaos wohl nur in Indien geben kann - einst für eine Millionen Menschen geplant, heute über ihre Grenzen hinausgewuchert und mit fünfzehn Millionen vollgestopft, von denen nicht weniger als vierzig Prozent in slumartigen Behausungen leben, die sich überall dort breit machen, wo Platz ist: Zwischen und neben Bahngleisen, an Straßenrändern, in ausgetrockneten Abwasserkanälen und sogar auf den Abfallbergen von Müllhalden. Weil es so unfassbar viele sind, haben selbst die Bewohner von Gehwegen in Kalkutta ihren eigenen, offiziellen Namen: pavement dwellers. Auf, unter, vor und neben der Howrah Bridge lässt sich die Essenz eben jener einzigartigen Metropole erleben. Eau de Calcutta sozusagen.

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Während wir vor der Brücke in einem hoffnungslos ineinander verkeilten Meer aus dauerhupenden, gelben Ambassadors mit schicken Retro-Kurbelfenstern, darauf warteten, endlich „an der Reihe zu sein“, wurde ich meinen gesamten Kleingeld-Vorrat von dreißg Rupien, eine halbe Schachtel Zigaretten und mehrere Tonnen Kekse an ein Dutzend Straßenkinder los, die danach erstmal eine Raucherpause einlegen konnten. Als es dann endlich losging und wir das graue Ungetüm überqueren durften, streckte ich mich entgegen jeder westlichen Sicherheitsbestimmung aus dem Fenster, ließ die Haare im Fahrtwind wehen und bestaunte nicht abreißen wollende Karawanen von hunderten Lastenträgern zu beiden Seiten der Fahrbahn, die auf ihren Köpfen von randvollen Tonkrügen über meterlange Bambusstämme bis hin zu Körben mit zappelnden Hühnern alles, aber auch wirklich alles, transportierten. Handgezogene, motorisierte oder Pedal-betriebene Rikschas düsten vorbei und Ochsen-Karren versperrten den Weg, was dem sowieso schon allgegenwärtigen Hupkonzert noch ein paar Stimmen mehr verpasste. Beim Blick nach oben fragte ich mich zwar, wozu dieser monströse Haufen aus Stahlträgern wohl gut sei und ob die Brücke nicht vielleicht auch halten würde, wenn man sich die Hälfte des Metalls gespart hätte, aber gut, das mit dem Fragen trug in Indien ohnehin recht selten Früchte.

Die kommenden Tage verbrachte ich in der auf den ersten Blick vielleicht glanzlosen Gegend um die Howrah Bridge, die eben mehr ist, als bloß eine Verkehrsverbindung über den Fluss Hooghly und fröhnte meinem Hobby, dem Menschen-Gucken. Auf dem wuseligen Blumenmarkt unter der Fahrbahn, der ein umfangreicheres Farbspektrum bot als die Photoshop-Farbsonne, wurden diese lange Ketten aus weißen Jasminblüten  geknüpft, mit denen indische Frauen ihr meterlanges Haar schmücken. Unter anderem der Grund dafür, dass man den ganzen Urin-und-Kot-Cocktail, der allmorgendlich durch die Zugabteile wabert, nicht allzu sehr wahrnimmt.

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An den Ufern des elend dreckigen Hooghly wurde ich von ein paar plantschenden Typen herzlichst dazu aufgefordert, doch mal mitzuplantschen. Leider musste ich ablehnen, da ich angesichts eines flächendeckenden Ölfilms und vorbeiziehender Klumpen, die aussahen wie Reste von Tierkadavern, Angst um meine Gesundheit hatte. Dachte, ich hole mir die Pest schon allein von den Wassertropfen, die sie einladend auf mich spritzten.

Da der Himalaya auf mich wartete und ich noch rechtzeitig vor den ersten Monsunüberschwemmungen Delhi erreichen musste, kehrte ich dem schwarzen Loch Kalkutta schon nach zwei Tagen wieder den Rücken, ehe es mich mit seinem gänzlich fremden, aber maximal faszinierenden 24-Stunden-Live-Entertainment vollends schlucken konnte. Zurück in die andauernde Massenveranstaltung des gigantischen Bahnhofs - einem der verkehrsreichsten weltweit - ging es selbstverständlich über die täglich von allein über einer Million Fußgängern genutzte Howrah Bridge.

Mehr schmutzige Impressionen aus Kalkutta findet ihr auf unserem Fotoblog.