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Wie sich Verlieren anfühlt

Nach Brexit: Wie geht es einem Briten, dessen Heimat Europa ist?

Nigel Farage von der rechtspopulistischen Ukip-Partei | Foto: imago | i Images

Die Enttäuschung ist überwältigend. Es fühlt sich beschissen an, wenn die Menschen des Landes, in dem man geboren wurde, entscheiden, nicht mehr Teil der Gemeinschaft zu sein, in der man seit geraumer Zeit lebt. In der Ratlosigkeit sucht man nach rationalen Erklärungen, will sich schnellstmöglich mit vollendeten Tatsachen abfinden. Der erste Gedanke: Distanz. Erstmal ein bisschen emotionaler Abstand. Sich zu entziehen, ist praktisch. Selbstschutz. Sich abgrenzen von all den Leuten, die anderer Meinung sind.

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Das triumphierende Lachen der Brexit-Galionsfigur, Nigel Farage, läuft im Fernsehen und prangt auf den Startseiten fast jeder News-Website. Er ist derjenige, der nun für Großbritannien steht, zumindest heute. Das ist nicht der Typ, mit dem ich identifiziert werden will. All dieser Hass, die Dummheit, die Voreingenommenheit.

Das loszuwerden, was den Magen verdirbt, ist schmerzhaft. Aber wenn man krank ist, ist manchmal genau diese bittere Wurst notwendig, um die Kraft zu haben, die Krankheit zu überwinden. Großbritannien ist krank. Vergiftet von schlechten Regierungsentscheidungen. Von Premierminister David Cameron, der zündeln musste, weil seine Wähler sehen wollten, dass er sich mit Europa anlegt. Er setzte dabei das ganze Land in Brand. Nice one, Dave.

David Cameron atmet tief durch und tritt ab. | Foto: imago | i Images

Große Teile der britischen Gesellschaft sind ausgegrenzt. Die Politik hat sie vernachlässigt. Sie waren die Kollateralschäden der brutalen Sparmaßnahmen der vergangenen Jahrzehnte. Der verfaulte Arbeitsmarkt zerfrisst Großbritannien wie eine chronische Krankheit. Die Leute trauen der Politik nicht mehr und schon gar nicht den Politikern.

Mich betrifft das nicht. Ich lebe weit weg. Mir geht es gut. Aber genau so wie ich bei diesem Gedanken egoistisch bin, war es Cameron. Denn wenn Politiker Volksabstimmungen zulassen, dann machen sie das oft, weil es ihre letzte Chance ist, sich selbst zu retten. Ihnen ist das Vertrauen der Wähler entglitten. Dieser ganze Volksentscheid drückt die Hilflosigkeit und Feigheit von Premierminister David Cameron aus. Es war seine Exit-Strategie: Stellen wir die Leute einfach vor die Wahl. So wie wir es aus Casting-Shows kennen. Das Volk soll entscheiden! So was von barmherzig.

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Was bleibt dem Volk noch übrig? Geprägt von einer Gesellschaft, in der Versprechen schnell gemacht werden, um die eigene Haut zu retten. Jetzt haben wir Briten den vermeintlich einfachen Weg gewählt und wir werden sehen, was wir davon haben.

WATCH: @Nigel_Farage tells @susannareid100 it was a 'mistake' for Leave to claim there'd be £350M a week for NHShttps://t.co/JNkl5k8IlK
— Good Morning Britain (@GMB) 24. Juni 2016

Chef der UK Independence Party, Nigel Farage, findet es auf einmal doch schwierig, "No" zu sagen.

Ich lebe seit dem Ende meines Studentenlebens in Deutschland und seitdem habe ich mich von meinem Heimatland immer weiter entfremdet. In den vergangen zehn Jahren bin ich zu einem mehr oder weniger funktionierenden Mitglied der deutschen Gesellschaft geworden. Nationalstaaten stehe ich immer skeptischer gegenüber. Ich lebe in einem nationalitätsfreien Raum irgendwo zwischen der Dauerwelle der Queen und der Bermuda-Raute Angela Merkels—und es ist schön dort.

Aber das Gefühl der nationalen Identität macht es nicht nur bei internationalen Sportveranstaltungen einfacher. Jedes Land hat eine Liste mit vermeintlichen "Erfolgen", die man ranziehen kann, um das eigene Selbstwertgefühl zu stärken. Je mehr es an persönlichen Erfolgserlebnissen mangelt, desto mehr können die Menschen Halt suchen in diesen fremden Triumphen. Die Liste Großbritanniens ist lang: Sie reicht vom Zweiten Weltkrieg bis hin zu David Bowie. Als Brite siehst du in Modeläden auf der ganzen Welt deine eigene Nationalflagge, sie klebt auf Shirts, Kleidern, Taschen, sie soll die Sachen cool aussehen zu lassen.

Und wenn das Selbstwertgefühl durch den wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Rückgang schrumpft, dann muss man sich eben auf die glorreichen Zeiten von früher besinnen. Die Bedrohung sind die "Anderen". Man nimmt einfach Flüchtlinge, die vermeintlich Schuld daran haben, dass im eigenen Leben nichts wirklich klappen will, und schon ist man fein. Dieses Klammern an eine willkürliche und selbstverherrlichende nationale Identität ist der Treibstoff der anti-europäischen Stimmung. Menschen wie Boris Johnson oder Frauke Petry sorgen dafür, dass dieser Treibstoff schön fließt.

"Save Britain" lautete einer der Kampagnen-Slogans der EU-skeptischen UK Independence Party. Hier stellt sich mir allerdings die Frage, ob Großbritannien wirklich das ist, was man retten muss. Vielleicht sollten zuerst mal die Briten selbst gerettet werden. Die 21 Prozent der 15- bis 24-Jährigen, die derzeit arbeitslos sind. Oder die 16,2 Prozent der allgemeinen Bevölkerung, die unterhalb der Armutsgrenze leben. Ich will hier gar nicht die ganzen wirklich bewundernswerten Briten und deren Errungenschaften in Frage stellen, aber das sind Zustände, die sich die Menschen auf der Inselgruppe namens Großbritannien nicht auf die eigene Fahne schreiben sollten, um sich besser zu fühlen.

In einer vernetzen Welt, in der Informationen innerhalb von Sekundenbruchteilen von einem Ort zum anderen gelangen, mutet es einfach nur bizarr an, dass man sich irgendeinem bestimmten Teil dieses Planeten zuschreibt. Ich weiß, warum Jean-Jacques Rousseau einen inneren Frieden verspürte, als er im 17. Jahrhundert durch die Straßen des unabhängigen Genf spazierte. Das lag nicht daran, dass eine Mauer die Stadt umgab, die die bösen Menschen fernhielt. Der Grund dafür war, dass die Stadt funktionierte. Die Stadtregierung entschied, wie man Probleme anging und Dinge erledigte. Und dabei hatte sie immer die Interessen aller Bürger im Sinn—Bürger, die glücklich waren. Und da Genf damals nur 30.000 Einwohner hatte, war das auch möglich.

Natürlich klingt diese Vorstellung einer selbstregierenden Enklave wunderschön. Eintreten wird sie nie. Also verabschiedet euch davon und lasst los. Ihr werdet trotzdem weiterexistieren. Falls ihr aber dennoch irgendetwas braucht, an dem ihr euch anstelle der vergangenen Erfolgserlebnisse eurer Landsleute festklammern könnt, dann nehmt doch einfach all das Gute, was die Menschheit jemals vollbracht hat. Und wenn das nicht funktionieren sollte, dann gibt es zum Glück noch die Fußball-Europameisterschaft.