Wie ein Postboten-Start-up die größte Favela Brasiliens kartografierte
Rocinha. Bild: Matias Maxx

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Wie ein Postboten-Start-up die größte Favela Brasiliens kartografierte

Wie stellt man die Post in einem Slum zu? Ein brasilianischer Kleinunternehmer hat mit Hilfe von Algorithmen und viel Fleißarbeit eine Karte von Rocinha erstellt.

Carlos Pedro und ich stehen auf einem Feldweg an der Gavea Road in der Siedlung Vila Verde mitten in Rocinha, der größten Favela Brasiliens. Neben uns verläuft ein schmutziger Abwasserstrom über dem ein kleines, auf Betonstelzen gebautes Ziegelhaus ruht. „Das bricht nicht zusammen", beruhigt mich Pedro: „Rocinha wurde vorwiegend von Bauarbeitern aus dem Nordosten gegründet", erzählt Pedro. „Jede Favela hat andere Vorzüge und die Besonderheit von Rocinha ist die hochwertige und sichere Gebäudequalität. Andere Informationen sind viel ungewisser: Wo sind wir hier eigentlich? Wie heißt diese Straße? Ist das überhaupt eine Straße? Für diese Fragen gibt es unsere Karte."

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Pedro ist in Rocinha geboren und aufgewachsen und feierte seine ersten beruflichen Erfolge als Bodysurf-Champion. Im Jahr 2000 fand er schließlich Arbeit im örtlichen Zensusbüro, wo er mit seinen Freunden Eliane Ramos und Silas Viera die Einwohnerzahlen erfassen sollte. Eine Aufgabe, die sich als einigermaßen frustrierend heraus stellte, da die über 60 000 in der Siedlung lebenden Menschen ihren Wohnort nicht klar benennen konnten. Mit anderen Worten, niemand hatte eine Adresse.

Auch Google wollte schon ein Foto meiner Karte machen. Aber die sollen lieber ihre eigene machen.

Fehlende Zuordnungsdaten sind ein typisches Problem in brasilianischen Slums. Die Regierung ist nicht gesetzlich dazu verpflichtet, Straßen für Gebäude mit ungeklärten Eigentumsverhältnissen zu bauen und die Post stellt Briefe nur den Personen zu, von denen eine gültige Adresse bekannt ist.

Ohne eine Adresse ist es nahezu unmöglich, vom Postboten aufgespürt zu werden—und das führt zu einer ganzen Reihe von Problemen. Die Idee, die Post in Gemeinschaftszentren aufzubewahren oder an Eckläden abzugeben klingt erst einmal vernünftig, ist in der Umsetzung jedoch nicht wirklich praktikabel. Es passiert schließlich schnell, dass wichtige Post, wie etwa Wahlunterlagen oder ein Zulassungsschreiben für die Schule, ohne vorhergehende Benachrichtigung zu spät abgeholt werden und die Frist somit abgelaufen ist. Auch bei einer Bestellung aus dem Internet oder der neuen EC-Karte hat der Empfänger gerne die Gewissheit, die Zustellung direkt zu empfangen und möchte sich darauf verlassen, dass sie nicht auf einem bunten Haufen im Eckladen landet.

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Carlos Pedro, der Mann hinter Friendly Mailman. Bild: Matias Maxx

Pedro, Ramos und Viera beschlossen, die Sache selbst in die Hand zu nehmen. So entstand für sie auch ein kleiner Nebenverdienst, dem sie natürlich auch nicht abgeneigt waren. Im ersten Schritt erstellten sie eine Karte der Siedlung mit virtuellen Adressen. Nachdem die drei dann auch noch eine eigene Briefzustellungsfirma ins Leben gerufen hatten, konnten sie sich an ihrer Stadtplanversion orientieren.

Die Aufgabe war jedoch viel komplexer als die Nachwuchskartographen angenommen hatten. Denn noch vor ein paar Monaten spuckte Google Maps bei der Eingabe „Rocinha" lediglich Gavea Road aus, obwohl sich in Wirklichkeit hunderte von Straßen, Gassen, Treppen und Schleichwegen durch die Siedlung ziehen.

Ein weiteres Problem neben der nicht vorhandenen Voraufzeichnungen des Gebietes war, dass auf den Satellitenaufnahmen viele Gassen und Treppen von darüber liegenden Gebäuden verdeckt waren. Auch die Nutzung der Dachbetonplatten von Gebäude als Straße machte die Arbeit nicht unbedingt einfacher.

Die drei verabschiedeten sich also von der Ausarbeitung einer visuellen Karte und setzten statt dessen auf Logik und Algorithmen:

Der täglich aktualisierte Datensatz ist die Grundlage für die Karte. Bild: Matias Maxx

Pedro und seine Partner entwickelten einen Code, eine informelle Sprache bestehend aus Kategorien, die alle festen Strukturen in der riesigen Rocinha-Siedlung erklären sollte—egal ob natürlich oder von Menschenhand gebaut, ob auf der Straße oder in einer winzigen Gasse. Ein „Condominium" definiert beispielsweise eine Sackgasse mit weniger als zwölf Häusern.

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Da es keine offiziellen Namen für die meisten Straßen in Rocinha gibt, denken sich die Bewohner normalerweise eigene aus. So kommt es, dass eine einzige Straße mindestens zwei bis drei Namen besitzt und in ihrem Verlauf die Bezeichnung ändert. Das alles folgt keinem erkennbaren Schema und ist zusätzlich von der Person abhängig, mit der du dich gerade unterhältst. Pedro und seine Freunde mussten sich also virtuelle Start- und Endpunkte für jede Straße ausdenken.

Eine typische Sequenz geht so: Mauer, Stein, Hühnerstall, Laden, Haus, Gebäude.

Das Endergebnis besteht aus einem Algorithmus für jede Straße, Treppe und Gasse. Hunderte handgeschriebene Seiten verwandelten sich in eine einzige, riesige Karte, randvoll mit Strichen und Codes, die für jeden unmöglich zu entziffern sind, der die Logik dahinter nicht kennt.

Eine typische Sequenz geht so: „Mauer, Stein, Hühnerstall, Laden, Haus, Gebäude, Condominium", erklärt Pedro. Jedes dieser Mini-Konzepte für Slumareale hat eine spezifische Bedeutung, mit der das Kartografieren erleichtert werden soll. „Rocinha ist eine ständige Baustelle", fügt er hinzu. „Es kann gut sein, dass nächsten Monat der Hühnerstall verschwunden ist und dafür ein neues Haus an dessen Stelle steht. Deshalb müssen wir alles registrieren, dann ist es einfacher, nötige Änderungen vorzunehmen."

Nachdem sie ihre Karte stolz vollendet hatten, ließen die Freunde ihr Werk patentieren. Dann richteten sie einen Service mit dem aufmunternden Namen Friendly Mailman ein, mit dem sie Briefe nun direkt zustellten. Wenig überraschend wurde das Unternehmen ein riesiger Erfolg. Die Postbeauftragten hatten nicht nur tausende Einwohner mit ihrem Lieferservice glücklich gemacht, sie hatten gleichzeitig das wohl erste brasilianische Franchise aus einem Slum heraus gegründet. Mittlerweile gibt es Friendly Mailman in acht Slums in Rio.

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Jeder Einwohner, der den Service nutzen will, zahlt eine monatliche Gebühr von momentan 16 Real, das entspricht vier Euro. Die Häuser erhalten daraufhin eine Adresse und werden wie bei einem Bestellservice durchnummeriert. Täglich hält nun das „normale" Postauto am Büro von Friendly Mailman an, übergibt den Mitarbeitern alle Sendungen für die Siedlung. Die freundlichen Post-Angestellten sortieren die Briefe und Pakete für ihre tausenden Kunden aus. Später sammelt das Postauto den Rest wieder ein und parkt für eine Weile auf dem benachbarten Hügel, damit die Bewohner die Kisten nach möglicher Post durchsuchen können.

Die geheime visuelle Karte der Postboten. Bild: Matias Maxx

Zurück in der Siedlung Vila Verde schlängle ich mit Pedro durch ein Loch zwischen zwei Gebäuden und klettern eine steile Treppe hoch.

„Was haben wir denn hier?", fragt Pedro enthusiastisch. „Ist das eine Straße? Und wenn ja, wo fängt sie an?" Er zeigt auf die Seite der Karte, die sich auf dieses Teilstück der Treppe bezieht. „Schau mal hier. Ist das ein Gebäude oder ein Haus? Und das da, ist das eine Straße oder ein Condominium? All das kannst du auf der Karte genau sehen."

Pedro zeigt auf die Türen der Häuser. „Das hier ist ein Kunde von Friendly Mailman", sagt er und deutet auf den Aufkleber mit dem Friendly Mailman-Logo und der Nummer 1166.

„Die Nummern sind nicht in der richtigen Reihenfolge", erzählt er weiter. „Dieses Haus zum Beispiel trägt die 8044. Das kommt, weil wir die Zahlen je nach Registrierungsdatum zuweisen. Niemand kann die Häuser ohne unsere Karte auffinden. Und niemand kann unsere Karte verstehen, ohne dass wir erklären, wie man sie benutzt."

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Bild: Matias Maxx

Manche Details der Karte sind Geschäftsgeheimnis oder ändern sich jeden Tag.

„Immer, wenn unsere Briefträger zur Schicht gehen, machen sie ein Update", erklärt er. „Wir haben unsere Karte digitalisiert und wollen jetzt eine App bauen, damit die Austräger die Karte per Smartphone aktualisieren können."

Niemand kann die Karte benutzen, ohne dass wir sie erklären.

„Gibt es Probleme mit dem Drogenhandel?", fragte ich.

„Absolut keine", so Pedros Antwort. „Meinst du, die Drogenbosse kriegen nicht gerne ihre Post? Meinst du, die kaufen sich nicht gerne Schuhe im Internet? Das gefällt jedem. Nach der Gründung von Friendly Mailman sind die Verkaufszahlen in der Siedlung explodiert. Und wie du sehen kannst, ist hier eine Menge Geld im Viertel, hier gibt es viel Handel, die meisten Menschen kommen aus der Mittelschicht. So ist Rocinha.

Wenn du aber beispielsweise auf den Juramento-Hügel gehst, siehst du kaum Geschäfte. Das sind ärmere Leute, und deswegen berechnen wir dort auch weniger. Auf der ganzen Welt gibt es Slums, und sie alle brauchen Postdienste. Wir verdienen mit Friendly Mailman Geld. Aber wir stellen auch einen Service zur Verbesserung des öffentlichen Alltagslebens zur Verfügung."

Zum Kaffee fahren wir zurück ins Friendly Mailman-Büro. An der Wand hängt eine große, klassische Karte, die alle Gassen der Siedlung auflistet. „Schau mal hier", sagt Pedro. „Die haben wir auf Basis unserer Slum-Karte erstellt. Letzten Monat kam Google hier vorbei. Sie haben gefragt, ob sie ein Foto der Karte schießen könnten. Ich hab gesagt: 'Auf keinen Fall!' Sollen sie doch ihre eigene machen."