Menschen

Wie ich in Russland den ganz falschen Weg einschlug

Field Notes: Anekdoten aus dem Arbeitsalltag bei VICE – Teil 5
Drei Menschen schauen aus einem Abfluss
Bildschirmfoto 2024-03-25 um 13
Dieser Artikel ist Teil von "The Final Issue", der letzten deutschen Printausgabe von VICE

Ich hätte selbst nicht gedacht, dass dieser Tag in Moskau so endet: Ich kletterte schwer atmend und mit Angstschweiß auf der Stirn eine rostige Leiter hinauf. Wir waren an einem Ort gelandet, an dem man in Russland auf gar keinen Fall erwischt werden möchte. 

Aber beginnen wir von vorne: 2013 filmte ich als Video Producer für VICE russische Grabräuber, die illegal tote Wehrmachtssoldaten ausgruben. Der Moskauer Fotograf Claudio Oliverio begleitete mich. Doch dann stießen wir auf eine andere Story. Wir lernten Alexej* kennen, damals 18 und Englischstudent. Er wolle uns eine unbekannte Seite von Moskau zeigen, sagte er. Einzig eine Angelhose sollten wir zum Treffpunkt mitbringen. In einem Park im Norden Moskaus lud er uns ein, in die Kanäle unter der Stadt zu steigen.

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Die Rote Armee habe die Pläne des verzweigten Tunnelsystems im Zweiten Weltkrieg größtenteils vernichtet, sagte Alexej. Niemand wisse genau, wie viele Tunnel sich dort befinden, Neubauten brächen manchmal darin ein. Außerdem gäbe es dort unten eine ganz annehmbare illegale Rave-Szene. Das klang nach einer spannenden Geschichte.

Während ich Kamera und Mikrofone vorbereitete, machte sich Alexej mit einer Eisenstange an einem Gullideckel zu schaffen. Dabei beäugte uns eine alte Frau mit skeptischen Blicken. Was sollte man auch von drei Typen denken, die mit Angelhosen und Stirnlampen bei strahlend blauem Himmel in einem Park stehen? Claudio und ich hatten keine Ahnung, was uns erwarten würde. Aber als Alexej den Deckel endlich aufbekam und mit einem bestimmten "Dawai!" in den Schacht hinabstieg, folgten wir ihm.

Angst bräuchten wir keine zu haben, sagte Alexej. Es sei denn, es würde regnen. Das würden wir so lange nicht mitbekommen, bis eine rauschende Flutwelle aus dem Regenwasser aller umliegenden Dächer auf uns zurast. Das sei aber kein Problem, da es alle 100 Meter einen Gullideckel zum Rausklettern gebe. Man müsse halt ein bisschen rennen. Nur wenn sich der "Notausgang" unterhalb einer vierspurigen Straße befände, sei das nicht so gut, sagte Alexej. Da habe er mal zwei Stunden mit dem Wasser bis zum Hals unterhalb eines Gullideckels verharren müssen. Dann sei das Wasser wieder gesunken.

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Mit einem mulmigen Gefühl folgten wir ihm in den leicht abschüssigen Tunnel, während ein kleiner Bach unsere Gummistiefel umfloss. Wir kamen gut voran, von Raves war allerdings nichts zu hören. Es fühlte sich wie eine entspannte Höhlenwanderung an, als Alexej unseren schweigsamen Marsch unterbrach: "Hört mal da oben, die Touristen!"

Claudio und ich guckten uns mit einem Ach-du-Scheiße-Blick an. Offenbar waren wir genau unter dem Kreml durchgegangen. Jetzt standen wir unter dem Roten Platz. Wir hatten aber wenig Lust, wegen Spionageverdachts in einem russischen Knast zu landen. Wie hätten wir auch erklären sollen, was zur Hölle deutsche Journalisten unter dem Kreml suchten? 

Alexej schien das nicht zu stören. "Hier seht ihr den Wasserauslass des Kreml-Bunkers", sagte er beiläufig. Ab diesem Moment wollten wir einfach nur noch weg. Wie bescheuert konnte man auch sein, einem 18-jährigen Pfadfinder sein Leben anzuvertrauen? Zumal in einem autoritär regierten Polizeistaat.

Der einzige Ausgang befände sich direkt hinter dem Roten Platz, sagte Alexej. Im Hof einer etwas weniger bekannten Kirche. Leider sei da manchmal jemand, aber wenn wir raus wollten, dann hier. 

Cool, 15 Meter über eine rostige Leiter mit einem Rucksack voller Kameraequipment. Leider war ich der letzte in der Reihe und hatte alle zwei Sprossen einen Teil der sich auflösenden Leiter in der Hand. Nach den gefühlt anstrengendsten zwei Minuten meines Lebens schälten wir uns völlig außer Atem aus dem Gulli. Zum Glück ließ sich niemand blicken, und wir konnten den Innenhof der Kirche unbehelligt verlassen. 

Da wir leider weder ekstatische Untergrund-Raves noch geheime Waffenlager der russischen Mafia gefunden hatten, wurde aus dem Filmmaterial keine Dokumentation. Aber die Geschichte ist heute noch ein gutes Beispiel für die haarsträubenden Situationen, in die mich dieser Job gebracht hat. 

*Name geändert.

Manuel Freundt war von 2012 bis 2024 bei VICE, zuletzt als Executive Producer