Kopf endlich gefunden: Forscher lösen das Rätsel des Hallucigenia-Wurms
Rekonstruktion des Hallucigenia sparsa. Bild: Danielle Dufault

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Kopf endlich gefunden: Forscher lösen das Rätsel des Hallucigenia-Wurms

Was hat Stacheln in der Kehle, zwei Münder und Tentakel am Hals?

Vor 500 Millionen Jahren herrschte auf der Erde das Zeitalter des Kambrium. Während dieser Zeit entstanden fast alle heutigen Tierstämme. Ebenso entsprangen dieser erdgeschichtlichen Episode auch die seltsamsten Fossilienfunde. Die Kreatur mit dem treffenden Namen Hallucinogenia übertrumpft in ihrer Merkwürdigkeit allerdings noch einmal alle anderen exzentrischen Wesen.

Dieses wurmartige Tier maß zwischen 10 und 50 Millimetern Länge, hatte jede Menge imposanter Stacheln auf dem Rücken, Tentakel am Hals und elastische, klauenaertige Beine. Der prähistorische Wolpertinger vereinte so viele unterschiedliche, animalische Zutaten, dass Paläontologen sich in den wildesten Rekonstruktionen ausließen—ohne jedoch zu wissen, an welcher Seite überhaupt der Kopf gewesen sein könnte und ob das charakteristische Rückgrad oben oder unten war.

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Doch es gibt erfreuliche Neuigkeiten für alle Hallucigenia-Freunde. Neue Forschungen scheinen der beeindruckenden Silhouette und evolutionären Lebensgeschichte des Stachelwurms um einiges näher zu kommen.

In der gestern bei Nature veröffentlichten Studie identifizieren der Evolutionsbiologe Martin Smith und der Paläontologe Jean-Bernard Caron zum ersten Mal die Position des Kopfes und entdeckten einige eigentümliche Zahnreihen.

„Wir konnten zwei Arten von Mundbestandteilen erkennen", erklärte mir Smith, der Hauptautor der Studie, am Telefon. „Zum einen gibt es Zähne, die um den Mund herum angeordnet sind und dann gibt es zusätzlich noch diese nadelspitzen Zähne, die sich durch die Kehle schlängeln."

Martin Smith fasst die Ergebnisse der Studie in diesem Video zusammen. Quelle: YouTube/nature video

„Ich nehme an, dass die Zähne um den Mund herum wie eine Art Ventil arbeiten und eine Saugfunktion erfüllen", erzählte er. „Jedes Mal, wenn der Mund sich ein- und ausstülpt, nimmt er einen Schluck Wasser und was sich sonst noch darin befindet in seine Kehle auf." Die Zähne in der Kehle hindern das Futter daran, jedes Mal wenn der Mund sich wieder umschlägt, herauszuschlüpfen. Auf diese Weise kann der Wurm die Sachen in seinen Darm befördern."

Doch selbst, wenn nun etwas Licht in die Geheimnisse der Fresstechnik des Hallucigenias kommt, gibt es noch jede Menge Spekulationen darüber, wovon sich das Tierchen denn nun eigentlich ernährt hat. „Oft heißt es, dass er sich zur Nahrungsaufnahme an Schwämme geklammert hat", sagte Smith. „Er hat extrem lange, hauchdünne Beine, die zum Laufen einfach zu fragil wirken. Es ist allerdings deutlich naheliegender, dass sich der Wurm mit seinen Klauen an einem Schwamm festklammert und Stückchen davon abbeißt und verdaut. Das klingt zumindest nach einer logischen Rekonstruktion."

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„Wir entdeckten auch noch drei kleine Tentakel, die aus dem Hals heraus wachsen", so der Wissenschaftler. „Es ist schwer zu sagen, wozu die gut sind. Möglicherweise gehörten sie auch zur Nahrungsverarbeitung und brachten essbare Teile zum Mund oder sie nahmen Futter vom Boden auf."

Auch bei der Frage, warum das Würmchen so viele Stacheln hat, landet man recht schnell wieder bei spekulativen Antworten: „Ich glaube, sie dienten zur Verteidigung", meint Smith. „Hallucigenia hat diese Stacheln am gesamten Körper und im Kambrium gab es eine Menge Raubtiere für so einen kleinen Wurm."

Obwohl Hallucigenia zwar direkt einer Gruselgeschichte von H.P. Lovecraft entsprungen sein könnte, ist er ein früher Stammvater der Häutungstiere (Ecdysozoa). Zu diesen Tieren gehören die Bärtierchen, Stummelfüßler, Schalentiere, Insekten, Spinnentiere, Fadenwürmer und eine Vielzahl anderer sich häutender Lebewesen. Doch trotz der einflussreichen Rolle, die den Ecdysozoa auf unserer Erde bestimmt ist, ist bisher erst sehr wenig über ihre Evolutionsgeschichte bekannt. Hallucigenia könnten einen Schlüssel zur Erforschung der geheimnisvollen Wurzeln dieser Wesen liefern.

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„Diesen Zahnring um den Mund und die Zähne in der Kehle findet man auch in einer Gruppe der Häutungstiere", so Smith. „Unserer Entdeckung eines vergleichbaren Mundteils im Hallucigenia führt uns zu der Annahme, dass diese Morphologie allen Urformen der Ecdysozoa eigen war, die damals wie heute den Großteil der im Ozean vorherrschenden Lebensformen ausmacht."

Langsam scheint es, als würden Wissenschaftler wie Smith und Caron den verbleibenden Rätseln solch exzentrischer Ahnentiere auf den Grund kommen. Hallucigenia erlangte seinen Namen übrigens dadurch, dass Menschen beim Betrachten dieses Wurms ihren eigenen Augen nicht trauen wollten. Doch diese neue Studie beweist, dass die versteinerten Freaks aus dem Kambrium nicht nur ziemlich lebendig und echt waren, sondern unser Planet auch heutzutage noch von ihren Verwandten bevölkert ist.