„Wenn der Pep kommt, werden wir hier schon noch mal durchwischen.“
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lilien

„Wenn der Pep kommt, werden wir hier schon noch mal durchwischen.“

Der geringste Liga-Etat, ein marodes Stadion, ein Team voller Ausgestoßener—und dennoch ist der SV Darmstadt 98 vom Fast-Abstieg in den Amateurfußball bis in die Bundesliga durchmarschiert. Wie konnte das passieren?

„Wenn der Pep kommt, werden wir hier schon noch mal durchwischen." So klingt also einer, der gerade mit seinem Klub nach über drei Dekaden Bundesliga-Abstinenz aufgestiegen ist – so klingt zumindest Rüdiger Fritsch, Präsident des SV Darmstadt 98, der im Mittelpunkt dessen steht, was die Medien hierzulande gerne quotenwirksam wahlweise als Fußballromanze, -märchen oder –wunder bezeichnen. In Darmstadt sagen sie dann solche Sätze wie eben Präsident Fritsch, weil sie genau wissen, woher sie kommen, und es wohl selbst auch noch nicht so ganz glauben können, was sie da geschafft haben: Direkter Durchmarsch von Liga 3 in die Bundesliga, mit dem kleinsten Etat aller Teams, mit Spielern, die woanders aussortiert worden waren, dank Partien, die Fußballgeschichte geschrieben haben, in einer Stadt, die etwa halb soviele Einwohner hat wie der Bezirk Berlin-Spandau, in einem Stadion, das seit 1921 unerschütterlich jeden Fan-Ansturm überstanden hat. Klingt irgendwie wirklich ganz schön märchenhaft. Jetzt also wieder Bundesliga, nach 33 Jahren Abwesenheit ließ Tobias Kempe mit seinem direkt verwandelt Freistoß in der 72. Minute gegen St.Pauli ein Stadion, eine Stadt, eine ganze Region beben. Aufstieg am letzten Spieltag, Herzschlagfinale, am Ende pure Extase.

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Und was sagt man in einem solch unfassbaren Moment? „Jetzt können sie mir erstmal alle einen ausgeben auf Malle!" Sagte zumindest Tobias Kempe. Vielleicht wäre es an genau dieser Stelle angebracht, wieder nüchtern zu werden, und das vermeintliche Fußball-Wunder mal ganz, ähem, trocken, zu analysieren. Denn es waren eben doch keine Wunder, keine Märchen, keine Romanzen, die zu diesem Darmstadt-Aufstieg führten, sondern vor allem unbedingter Wille, Teamgeist, jede Menge harte Arbeit—und am Anfang auch unverschämtes Glück.

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18.Mai 2013, Abpfiff im Darmstädter Stadion am Böllenfalltor, hängende Köpfe überall, nur 1:1 gegen die Stuttgarter Kickers, das reicht (mal wieder) nicht, um die Klasse zu halten, das bedeutet den Abstieg in die Regionalliga. Doch dann passiert das Unfassbare, den Kickers Offenbach wird die Lizenz entzogen, Darmstadt darf in der 3. Liga bleiben und sagt sinngemäß: „Wir haben verstanden." Jeder verdient eine zweite Chance, nur muss er sie dann auch nutzen—der SV Darmstadt 98 tut das auf beeindruckende Art und Weise. Spiel um Spiel wird gewonnen, bis man am Ende einer berauschenden Saison auf dem Relegationsplatz steht und gegen die Arminia Bielefeld um den Aufstieg in die zweithöchste Spielklasse kickt. Nach einer erschütternden 1:3-Heimniederlage glaubt schon keiner mehr daran, doch auf der Alm wird Bielefeld in einer jetzt schon historischen Schlacht mit einem 4:2 in der Nachspielzeit niedergerungen Der Rest ist Schweigen beziehungsweise ohrenbetäubender Jubel. Schöne Randnotiz: Die Arminia war jetzt einer der ersten Gratulanten zum SVD-Aufstieg in die Bundesliga, via Twitter bekundete man ganz modern seine Glückwünsche.

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Lieber @sv98 Darmstadt, das ist wahrlich eine unglaubliche Geschichte. Wir gratulieren auch in diesem Jahr zum Aufstieg. Grüße aus Bielefeld
— DSC ArminiaBielefeld (@arminia) May 24, 2015

Doch eins nach dem anderen: In Darmstadt reibt man sich vergangenes Jahr kurz verwundert die Augen, nur um dann nach der Sommerpause dort weiterzumachen, wo man eine Saison vorher angefangen hatte. Überleben wird zu überraschen wird zu überragen, sämtliche vermeintlich Großen besiegt das kleine Darmstadt, das mit einem Etat von 5 Millionen Euro in die Spielzeit gestartet war. Zum Vergleich: Der ehemalige Ligakonkurrent, die Brause-Kicker von RB Leipzig, haben da gerade Davie Selke von Werder Bremen für 8 Millionen verpflichtet.

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Doch nicht das Geld steigt am Ende auf, sondern eben Teamgeist, Siegeswille und Zusammenhalt, ein Team von Aussätzigen hat so den ganz großen Sprung geschafft: Michael Stegmayer beispielsweise war früher auch schon mal Deutscher Meister mit der A- und B-Jugend des FC Bayern, spielte dann in Wolfsburg, nur um am Ende scheinbar beim FC Vaduz in Liechtenstein zu verenden. Der SV Darmstadt 98 gab ihm eine Chance, und so wurde er zu einem der Motoren des Aufstiegs. Genau wie Florian Jungwirth: 2008 U-19-Europameister mit der Deutschen Auswahl, am Ende aussortiert beim VFL Bochum. Dominik Stroh-Engel und Marcel Heller, beide ausrangiert bei der Eintracht Frankfurt und scheinbar schon weit über dem Zenit ihrer Karrieren. Abwehrchef Aytac Sulu hatte es in Hoffenheim nicht geschafft und kickte vor seinem Engagement in Darmstadt in der zweiten österreichischen Liga. Und diese Liste könnte man noch länger so weiter führen.

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Sie alle hat Trainer Dirk Schuster zusammengeführt, er selbst ist ein weiterer Garant für den Darmstädter Erfolg. Er ist ein Mann der Zahlen, den Ausgang jedes Trainingsspiels notiert er, um am Ende unter den Spielern einen besonders fleißigen „Mitarbeiter des Monats" zu küren. Unter seiner Ägide sind sie hier am Böllenfalltor von einer Gemeinschaft zu einer Familie zusammengewachsen, bei der jeder anpackt, wo er nur kann: Kult-Fan Kutten-Kalli putzt für seine Dauerkarte die wenigen Sitzschalen (das Stadion hat 80% Stehplätze), seine Frau hilft den Spielern und ihren Frauen bzw. Freundinnen bei der Job- und Wohnungssuche. Auch in der Geschäftsstelle des SVD arbeiten sie ehrenamtlich, gerade mal zwölf Mitarbeiter. In Darmstadt sagen sie zu so etwas nur augenzwinkernd: „Wir haben zweimal in Folge das Saisonziel verpasst—den Klassenerhalt. Schuster raus!" Sebastian Eder, Sportjournalist und glühender Darmstadt-Fan seit Stunde eins: „Es gibt hier sehr viele gerade ältere Menschen, die seit Jahrzehnten auf jedes Spiel in jeder Liga gegangen sind und die sich wahnsinnig darauf freuen, hier mal wieder die ganzen Topteams zu sehen. Mit dem Aufstieg hat die Mannschaft schon mehr erreicht, als vor ein paar Jahren überhaupt vorstellbar war—jetzt gibt es nichts mehr zu verlieren."

Trainer Schuster selbst sagte unlängst in einem Interview mit 11Freunde: „Rein realistisch haben wir in der Bundesliga gar nichts verloren." Und tatsächlich dürfte es ein noch härterer Kampf werden als bisher für das kleine Darmstadt, diese Apotheose. Das Stadion am Böllenfalltor wurde bereits 1921 gebaut, ist vollkommen marode, muss dringend saniert werden - Kostenpunkt Stand heute 33 Millionen Euro. Eder: „Es ist überfällig, dass das Stadion modernisiert wird. Vor allem die momentane Toiletten-Situation ist eine extreme Zumutung." Es gäbe allerdings auch Sorgen seitens der Fans, dass durch einen Umbau die Seele des Stadions verloren ginge—es laufen bereits zahlreiche Unterschriftenaktionen für den Erhalt der heiß geliebten Stehplätze.

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Immerhin, Jochen Partsch, Darmstadts grüner Bürgermeister, bekräftigte noch etwas aufstiegstrunken im heute-journal, das Land Hessen werde 14 Millionen Euro zur Erneuerung des Stadions beisteuern—wofür er denn auch sogleich euphorisch mit Bier geduscht wurde. Bisher gibt es außerdem nur Platz für 16000 Fans. Es ist damit zu rechnen, dass zu Bundesliga-Partien wohl weit mehr Fans eine Karte werden haben wollen. Eder dazu: „Vor ein paar Jahren konnte man quasi fünf Minuten vor Anpfiff zum Stadion kommen, sich ein Ticket kaufen, noch eine Wurst essen und sich in Ruhe das Spiel anschauen. Das wird jetzt natürlich anders werden." Ob nun nach dem Aufstieg neue potente Sponsoren etwas zum bisherigen Etat von 5 Millionen Euro beisteuern werden, ist Stand heute noch völlig offen. Und dann sind da ja auch noch die Liga-Konkurrenten, die mittlerweile wohl mehr als nur ein begehrliches Auge auf Darmstadts Schlüsselspieler geworfen haben dürften. Zum Vergleich: Der SVD hat einen Marktwert von 12 Millionen Euro—der FC Bayern München 551 Millionen.

Aber vorerst ist das wohl allen egal, der SV Darmstadt 98 ist nach 33 Jahren wieder erstklassig, die „kleinste Wurst von allen", wie der Klub sich selbst mal bezeichnete, ist ganz oben angekommen. Und auch da geht es jetzt, genau, um die Wurst. Vielleicht ja auch bald wieder die kleinste von allen. Sebastian Eder ist sich sicher: „Der Klassenerhalt ist realistisch, vor allem weil in der Darmstädter Mannschaft alle jedes Mal kämpfen, als gäbe es nur dieses eine Spiel in ihrem Leben."