Warum es nicht wundern sollte, dass Polens Fans friedlich bleiben
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Analyse

Warum es nicht wundern sollte, dass Polens Fans friedlich bleiben

Polnische Hooligans sind gefürchtet und sollten „Experten” zufolge auch durch Frankreich marodieren. Dabei hat man sich längst entschieden, das Kriegsbeil bei der „Reprezentacja" zu begraben.

Das Aufeinandertreffen zwischen Deutschland und Polen wurde als Risikospiel (Kategorie 3 von insgesamt 4) angekündigt. Am Ende verlief alles friedlich. Wenige Tage zuvor kam es hingegen zwischen russischen und englischen Fans zu schweren Ausschreitungen. Warum aber war zum Deutschland-Polen-Spiel nicht auch die Hölle los? Neben deutschen Hools hatten die Medien vor allem mit einer Gefährdung durch polnische Chaoten gerechnet. Die sind schließlich in der Welt der Hooligans als besonders hartgesottene Kämpfer bekannt und sorgen immer wieder mit ihren Prügelvideos im Internet für Aufsehen.

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Einer der nicht überrascht war, ist Dominik Antonowicz. Der Soziologe an der Nikolaus-Kopernikus-Universität im polnischen Toruń und Experte in Sachen polnischer Fankultur sagte im Interview mit VICE Sports: „Deutschland gegen Polen als Risikobegegnung einzustufen, grenzt für mich schon an Inkompetenz. Polen hat sich deutlich an den Westen angepasst. Und es gibt nicht mehr so viel Wut und Animositäten gegenüber unserem Nachbar im Westen. Das hat sich auch schon bei den Qualifikationsspielen gezeigt. Da waren wir in derselben Gruppe, trotzdem kam es bei keinem der beiden Spiele zu Vorfällen."

Auch Piotr von der polnischen Sportseite extremesupporters.com war nicht groß überrascht. „Die letzten schweren Ausschreitungen mit Fans der polnischen Nationalmannschaft gab es beim Auswärtsspiel 2012 in Montenegro. Bei der diesjährigen EM habe ich bisher vor allem Anhänger von GKS Katowice, Pogoń Stettin, Kotwica Kołobrzeg und Stomil Olsztyn gesehen. Die sind in kleineren Gruppen unterwegs, begleitet von ihren Frauen und Kindern, um die EM gleich mit einem Urlaub zu verbinden. Die meisten polnischen Hooligans in Frankreich sind nicht den gefürchtetsten Firms zuzurechnen." Vor allem Mitglieder der zwei großen „Triaden" in der polnischen Hooligan-Szene (Wisła Krakau/Lechia Gdańsk/Śląsk Wrocław und Lech Poen/Cracovia/Arka Gdynia) und die Teddy Boys von Legia Warschau habe man laut Piotr bisher kaum gesehen.

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Polnische Hools gegen russische Hools bei der EM 2012.

Einer von den polnischen Hardcore-Fans, die ihre Nationalmannschaft regelmäßig begleiten, ohne dabei negativ aufzufallen, ist Michał. Der Ultra von Łada Biłgoraj—einem unterklassigen Verein aus Südostpolen—hat zur Reprezentacja ein sehr enges Verhältnis: „Ich fahre oft mit meinen Freunden zu Auswärtsspielen unserer Nationalelf. Ich war beispielsweise schon in Belgrad, Kaunas und Prag. Dort haben wir auch den typischen Tourismuspart gemacht und uns Sehenswürdigkeiten angeschaut. Natürlich haben wir auch eine Menge getrunken, aber Ärger hat fast keiner gemacht. Es war ein sehr gemischtes Publikum, neben Leuten aus den Großstädten waren auch viele Fans vom Land dabei.

Doch dass es—bis auf das Spiel gegen die Ukraine—bei der EM in Frankreich bisher kaum Negativschlagzeilen gab, hat auch strukturelle Gründe.

Dominik Antonowski spricht von einer Verwestlichung der polnischen Fanszene, um der Entwicklung, die in den 90er-Jahren ihren Anfang nahm, einen Namen zu geben. Antonowski sagt, man könne die Entwicklung der Ultra- und Hooligan-Bewegung des Landes nicht losgelöst von seiner politischen betrachten. Ende der 70er bzw. Anfang der 80er entsteht eine erste Hardcore-Fanbewegung, die zu der Zeit nur wenig strukturiert auftritt. Damals sind die Stadien zusammen mit den Kirchen einer der wenigen Orte, wo man seine Opposition und Ablehnung gegenüber dem kommunistischen Regime bzw. seinen Zuspruch für die Solidarność-Bewegung ausdrücken kann. Selbst die Regierungsmilizen wagen sich in den meisten Fällen nicht, etwas gegen die kompakten und entschlossenen Menschenmengen auf den Rängen zu tun. Hooliganismus als solchen gibt es aber noch nicht, die Gewalt richtet sich nämlich in vielen Fällen vor allem gegen die verhassten Regierungsvertreter.

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Die Wende 1989 beruhigt nicht die Situation. Im Gegenteil: Die Wirtschaftskrise und die wachsende Arbeitslosigkeit lassen eine immer gewaltbereitere Fankultur entstehen. Die erste Hälfte der 90er-Jahre geht als „goldenes Hooliganismus-Zeitalter" in die polnischen Geschichtsbücher ein. Auf den verfallenen Tribünen herrscht Anarchie, die alten Holzbänke werden rausgerissen und als Waffen benutzt. Die Polizei ist überfordert und gleichgültig. Ausschreitungen nehmen drastischen zu und Spiele der polnischen Nationalmannschaft werden zu Schlachtfeldern von Hooligans aus allen Ecken des Landes. Wie beim WM-Qualifikationsspiel zwischen Polen und England 1993, bei dem es zu schweren Krawallen kommt und ein Anhänger von Pogoń Stettin von einem Cracovia-Fan erstochen wird.

Der EU-Beitrittsverhandlungen werden zu einem ersten wichtigen Wendepunkt im Kampf Polens gegen Hooligan-Gewalt. Bemüht, das Bild eines starken und verlässlichen Staates nach außen zu projizieren, erlässt Polen im Jahr 1997 ein Gesetz über „die Sicherheit bei Massenveranstaltungen". Es kommt jetzt vermehrt zu Stadionverboten und dem Ausschluss von Pyrotechnik. Der Staat, unterstützt durch die öffentliche Meinung, versucht, die Stadien wieder unter seine Kontrolle zu bringen. Die Gewalt verlagert sich nach draußen, die ersten Straßenkämpfe tauchen auf, die Hooligan-Bewegung professionalisiert sich. Paradoxerweise werden Hooligan-Zusammenstöße immer mehr zu einem mediatisierten Phänomen (siehe YouTube), obwohl die Vorfälle zahlenmäßig deutlich zurückgehen.

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Die Vergabe der EM 2012 an Polen (und die Ukraine) stellt eine zusätzliche wichtige Etappe im Kampf gegen Stadiongewalt dar. Hooligans werden mehr denn je zu einem politischen Problem, allen voran für die pro-europäische Regierung unter Ministerpräsident Donald Tusk. Er versteht, dass das Bild des Landes im Ausland unter den regelmäßigen Gewaltexzessen polnischer Auswärtsfahrer leidet. Wie hier bei Ausschreitungen von Legia-Warschau-Fans im Stadion von Vetra Vilnius.

In den Jahren 2007 und 2009 werden zwei neue und sehr repressive Gesetze auf Druck der UEFA verabschiedet: Es werden Schnellverfahren für Vorfälle im Rahmen von Sportveranstaltungen eingeführt; Stadiontickets gibt es nur noch unter Angabe personenbezogener Daten (außerdem müssen alle Zuschauer über eine „Fankarte" verfügen—auch wenn das die meisten Vereine wieder abgeschafft haben); die Vereine haben das Recht, selber Stadionverbote auszusprechen und Sportstätten als Ganzes oder einzelne Blöcke zu schließen. Aufgrund dieser massiven Einschränkungen kommt es zur Bunt Stadionów (Stadienrevolte). Diese Revolte deckt tiefe Risse in der polnischen Gesellschaft auf.

Auf der einen Seite steht die damalige liberale und pro-europäische Regierung, unterstützt von der Tageszeitung Wyborcza sowie der privaten Fernsehanstalt TVN, die gemeinsam ein modernes und zukunftsgerichtetes Polen anstreben, für das die „alte" Fankultur ein Hindernis darstellt. Auf der anderen Seite steht ein Teil der polnischen Gesellschaft, für den die Ultras eine Art Sprecherfunktion übernehmen. Und die der Regierung vorwerfen, sich von der EU und der UEFA unterjochen zu lassen und der Geschichte des Landes dem Rücken zu kehren.

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„Projekt Euro 2012: Keine Autobahnen, schlechte Flughäfen, schwache Spieler". Foto: wrw40zuta.pl

Die Stadien werden nicht nur zu einem Ort politischer Protestbewegung, sondern auch zu einem Ort, an dem Patrioten Polens Nationalhelden feiern, wie etwa die Kämpfer vom Polnisch-Sowjetischen Krieg 1920, die Aufständischen in Warschau 1944 oder die „Verstoßenen Soldaten" (polnische Widerstandskämpfer einer antikommunistischen Untergrundorganisation). Gerade Letztere werden in den Augen vieler Ultras von Polens Vorgängerregierung nicht ausreichend gewürdigt. Piotr von extremesupporters.com, behauptet, dass das mit der Geschichte des Landes und der politischen Ausrichtung der polnischen Ultras zu tun hat: „Die polnische Ultraszene ist zu 99,9 Prozent rechtsgerichtet. Aber wir stehen nicht unter dem Pantoffel der PiS (die aktuelle nationalkonservative und EU-skeptische Regierungspartei Polens, Anm. d. Red.). Wir gehören zu den ganz wenigen sozialen Gruppe im Lande, die Politiker niemals für sich und ihre Zwecke gewinnen werden können. Wir haben in den letzten Jahren einfach nur dafür gekämpft, dass Menschen wie die Verstoßenen Soldaten nicht in Vergessenheit geraten."

Für Dominik Antonowicz steht diese Form des Patriotismus in der Tradition von dem, was sich in den 80er-Jahren in polnischen Stadien abgespielt hat: „Die Fanbewegung war schon immer gegen das Establishment. In den 80ern hatte Lechia Gdańsk viele Solidarność-Kämpfer in den eigenen Reihen, heute bewundern sie die Verstoßenen Soldaten, weil sie hart und bedingungslos gekämpft und sich für ihr Land geopfert haben."

Choreo von Legia-Warschau-Fans. Foto: legionisci.pl

An der jetzigen Situation wird sich laut Antonowicz auch so schnell nichts ändern: „Die Ultras sind zu einer wichtigen sozialen Strömung geworden. Gleichzeitig hat sich die Hooligan-Szene professionalisiert und zeigt sich fast nur noch außerhalb der Stadien. Denn die sind zu modernen Elite-Sportstätten geworden. Überall gibt es Videoüberwachung. Doch auch ohne Hooligans sieht das Publikum noch nicht so aus, wie sich das der polnische Verband wünschen würde: Dafür ist das Spektakel auf dem Platz einfach zu schwach."

Mehr Spektakel bietet die Reprezentacja. Dafür ist es auf der Tribüne deutlich ruhiger geworden. Das liegt auch am 2004 geschlossenen Pakt von Posen, bei dem unterschiedliche Fangruppen des Landes eingewilligt haben, während Spielen ihrer Nationalmannschaft das Kriegsbeil zu begraben. Weitere Faktoren, die ein anderes—sprich friedlicheres (manch einer würde vielleicht auch sagen: langweiligeres)—Publikum begünstigt haben, sind neue Regeln beim Ticketverkauf von Heimspielen (höhere Preise; keine Möglichkeit, große Ticketkontingente auf einmal zu kaufen; die Auflage, seine Sozialversicherungsnummer anzugeben). Diese Veränderungen bewirken, dass viele Ultras den Heimspielen der polnischen Nationalmannschaft fernbleiben. Und dann wäre da noch der Bau des Nationalstadions, Stadion Narodowy, das eine echte Massenattraktion geworden ist und ein neues Publikum anlockt. Dominik Antonowicz: „Das Nationalstadion hat eine neue Kultur ins Leben gerufen. Jetzt sitzt man, kommt mit der Familie, das Ambiente ist schmuck und hat fast schon was von einem Picknickausflug. Dazu kommt noch die Tatsache, dass die Mannschaft guten Fußball spielt und echte Stars wie Lewandowski oder Milik hat. Das Publikum ist anders und will ein Spektakel auf dem Platz sehen. Die Fans der polnischen Vereine wollen das aber nicht gutheißen."