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Tennis

Wie Goran Ivanisevic zum Kult geworden ist

Ivanisevic war lange ewiger Verlierer, weil er viel mehr Persönlichkeit hatte als die weichgewaschenen Pete Sampras und Co. Er war ein Typ, der Nerven zeigte, aber Schiedsrichtern auch mal Kroatisch-Nachhilfe gab.
Illustration by Dan Evans

Kult-Level: Wildcard

Kannst du zehn Tennisspieler aufzählen, die Persönlichkeit hatten? Nein? Nicht schlimm. Es gibt auch kaum welche. Wenn mich jemand einen langen Nachmittag mit Björn Borg, Pete Sampras und Andy Murray (die zusammen auf 27 Grand-Slam-Titel kommen) einschließen würde, fiele mir wohl schneller die Decke auf den Kopf als am Freitagnachmittag im Büro. Und der Typ, der in Wimbledon die Schläger bespannt, meinte mal über Roger Federer: „Setzt sich gerne mit dir an einen Tisch und trinkt Kaffee, um dich dann eine halbe Stunde lang anzuschweigen." Und holte dann zum Rundumschlag aus: „Die Spieler sind wirklich nicht besonders spannend. Sie leben in ihrer eigenen Welt.". Nun muss man zu Feds Verteidigung sagen, dass er vielleicht einfach nur seine Ruhe haben wollte—fair enough. Trotzdem kann wohl keiner folgende Aussage bestreiten: Wenn es einen Sport gibt, bei dem es nützlich ist, dass dir möglichst wenig durch den Kopf geht, was dich ablenken könnte, dann ist es wohl Tennis. Und wo das Spiel immer schneller wird, ist es umso hilfreicher, wenn auch die Spieler immer langweiliger werden.

Es gibt aber auch Ausnahmen. Schwierige Charaktere—mit reichlich Ecken und Kanten, mit flattrigen Nerven, mit kurzer Zündschnur—denen das Schicksal reichlich Tennistalent in die Wiege gelegt hat. Nur dass ihnen am Ende häufig genau dieser Charakter im Weg gestanden hat, um die ganz großen Titel zu holen. Die ewigen Viertel- und Halbfinalisten, denen das letzte Fünkchen Talent, Nervenstärke oder Willen gefehlt hat, um auch mal einen wichtigen Pokal in die Höhe zu stemmen. Einer von ihnen ist Goran Ivanisevic—und zur gleichen Zeit auch nicht.

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Pleiten, Pech und Pannen

Als es drauf ankam, war Aufschlagmonster Ivanisevic ein Verlierer. Das klingt jetzt ziemlich hart, aber die Statistik spricht eine eindeutige Sprache: Drei Viertelfinalpleiten bei den Australian Open, drei bei den French Open, ein Halbfinalaus bei den US Open. Das war das Höchste der Gefühle. Und vor allem: Vor dem Jahr 2001 dreimal im Wimbledon-Finale gestanden und dreimal verloren. Autsch.

Was die obige Statistik noch nicht ausreichend ausdrückt, ist die Tatsache, was für ein Nervenbündel Ivanisevic in den falschen Momenten sein konnte. Da wäre zum Beispiel sein erstes Wimbledon-Finale 1992 gegen Andre Agassi, wo er im fünften Satz beim Stand von 4:5 sein Aufschlagspiel mit zwei Doppelfehlern begann.

Auch in seinem zweiten Championships-Endspiel 1994 gegen Pete Sampras ließ er erneut den launischen Ivanisevic raushängen. Nicht so in den ersten beiden Sätzen, die er hauchdünn und jeweils im Tiebreak verlor. Doch dass er dann im dritten Satz gedanklich nicht mehr auf dem Platz stand, konnte jeder Siebenjährige im Stadion sehen. Folglich setzte es die Höchststrafe: 0:6.

Und hat man erst in entscheidenen Momenten schon mehrfach versagt, setzt sich so ein Verhaltensmuster gerne mal fort. Wie auch in seinem dritten Wimbledon-Finale 1998, wo sein Gegner erneut Pistol Pete hieß. Dabei sah alles mal wieder recht vielversprechend aus. Ivanisevic hatte durch ein überzeugendes 6:3 im vierten Satz einen entscheidenden fünften erzwungen. Doch es kam, was kommen musste. Poor Goran hatte seine Nerven mal wieder nicht im Griff, der erste Aufschlag landete regelmäßig im Netz. Und der Entscheidungssatz ging mit 6:2 an den US-Amerikaner.

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Ivanisevic bei den Eurocard Open 1996 in Stuttgart; Foto: Imago

Die dritte Pleite im dritten Finale des wohl wichtigsten Tennisturniers der Welt. An dieser Stelle könntet ihr uns fragen, was Ivanisevic in unserer Kult-Kolumne zu suchen hat. Nun ja, erstens hat Kult nicht zwangsläufig etwas mit großen Titeln zu tun. Und zweitens kam Goran ja noch zu seinem großen Titel. Und das an dem Ort, wo er seine schmerzhaftesten Niederlagen einstecken musste. Wir schreiben das Jahr 2001 und Ivanisevic, mittlerweile auch schon 29 Jahre alt, ist nicht mal mehr gesetzt. Heißt: Nur über eine Wildcard darf er im All England Club antreten.

Der Moment: Wimbledon 2001

Im Halbfinale gegen Tim Henman schien es, als würde am tragischen Drehbuch weitergeschrieben werden. Goran gewann den ersten Satz mit 7:5, verlor den zweiten im Tiebreak und verlor danach komplett die Kontrolle über sein Nervenkostüm. Den dritten Satz gab er in nur 15 Minuten ab, 0:6. Es glich einem Wunder, dass er sich im vierten wieder zusammenriss und eine 3:2-Führung rausspielen konnte. Dann kam der große Regen und das Spiel musste vertagt werden.

Wir wissen nicht, was Ivanisevic über Nacht getan hat. Auf jeden Fall schaffte er es, den Lokalmatador in die Knie zu zwingen. Sinnbildlich für seinen Triumph war eine Szene, indem er schon wieder (buchstäblich) auf dem Boden lag: Auf dem Weg zum Ball rutschte Goran aus, schaffte es aber rechtzeitig auf die Beine und holte sich den Punkt. Dieses Mal war er aufgestanden.

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Im Finale traf er dann auf den Australier Pat Rafter. Das Spiel sollte in den Entscheidungssatz gehen. Was ihr bisher mitbekommen haben solltet, ist die Erkenntnis, dass sich fünfte Sätze und Goran auf Tinder niemals matchen würden. So zeigte er erwartungsgemäß echtes Zittertennis. Mal nahm er einen Ball volley, der eindeutig ins Aus gegangen wäre, dann leistete er sich zwei Doppelfehler und versemmelte reihenweise seinen ersten Aufschlag. Aber dieses Mal blieb er im Spiel. Und er schaffte das schier Unmögliche: In einem episch langen fünften Satz holte er sich das Break zum 8:7 und schaffte es, sein Aufschlagspiel durchzubringen. Aber natürlich erst, nachdem er einen Matchball liegen gelassen hatte.

Der ewige Verlierer hatte sich im Herbst seiner Karriere, als keiner mehr einen Pfifferling auf ihn gab, zum großen Sieger gekrönt. Eine immense Willensleistung. Und Kult. Bis heute ist er der einzige Wildcard-Spieler, der jemals ein Grand-Slam-Turnier gewinnen konnte.

Schlusswort

„Wrong, wrong, wrong – Ivanišević!" –– Dieser Moment, wenn Goran dem Schiedsrichter einen kleinen Kroatischkurs gibt. Kult.