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Die Gropiusstadt und Christiane F. sind 50

Herzlichen Glückwunsch! Christiane F. sah überall nur Kacke und Pisse, doch was sagen die heutigen Bewohner über ihre Heimat?

„Überall nur Pisse und Kacke.“ Das ist vermutlich nicht unbedingt das, was Architekt Walter Gropius gehofft hatte zu hören, als er vor 50 Jahren den Grundstein für die Gropiusstadt legte. Aber es sind genau diese Worte von Christiane F., mit denen Wir Kinder vom Bahnhof Zoo beginnt, und die als Epitaph für das damals noch junge Wohnbauprojekt fungierten.

Christiane pendelte in ihrem von Heroin und 100-Mark-Handjobs genährten jugendlichen Leichtsinn zwischen Gropiusstadt und Zoo hin und her. Sex und Drogen—klassische Publikumsmagneten—schockten damals die gesamte Nation. Die trostlosen Bilder brannten sich im kollektiven Gedächtnis der 80er ein. Zum ersten Mal 1978 veröffentlicht, folgte dem Bestseller ein Film mit David Bowie. Film und Buch ließen die Gropiusstadt und ihre berüchtigten Bewohner in einem ziemlichen düsteren Licht dastehen.

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Dank einer Laune des Schicksals sind Christiane F. und Gropiusstadt ziemlich genau gleich alt. Beide erblickten im Jahre 1962 das Licht der Welt und beide durchlebten eine ziemlich harte Pubertät, obgleich manche Jugendjahre mehr von Angst beherrscht waren als andere. Während die Neuköllner Wohnsiedlung an das U-Bahn-Netz angeschlossen wurde, gleichzeitig auf weitere Annehmlichkeiten wartete, begann Christiane in einem evangelischen Jugendtreff (wo auch sonst?), mit Tabletten und Haschisch zu experimentieren.

Aber nun, da sie beide 50 werden, ist klar, dass sich ihre Wege schon vor langer Zeit getrennt haben. Christiane wurde vor ein paar Jahren in der Junkieszene vom Kottbusser Tor gesehen und soll angeblich Zeit ihres Lebens mit Suchtproblemen zu kämpfen gehabt haben. Gropiusstadt hingegen ist in aller Stille gealtert.

Fast ein Drittel der Bewohner ist über 65. Wer also wäre besser geeignet, die Geschichte der Gropiusstadt zu erzählen, als die ansässigen Rentner, die Menschen, die die Wohnsiedlung seit Jahrzehnten kennen.

Die Haaks waren von Anfang an dabei und leben nach wie vor in derselben Wohnung. Herr Haak sagt: „Die Gropiusstadt war eine Siedlung, die ist ja erst danach richtig ausgebaut worden … Es hat sich viel verändert, zum Guten. Es gibt ein Schwimmbad, Ärztezentren, das große Einkaufszentrum und alles andere. Das war damals nicht der Fall und das ist schon sehr gut.”

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Es ist wichtig, sich daran zu erinnern, dass die Mauer direkt vor der Schwelle von Gropiusstadt verlief. Die Bauhaus-Architekten hatten eigentlich nicht vorgehabt, auch nur ein einziges Gebäude höher als fünf Stockwerke zu bauen, um eine persönliche, dorfartige Atmosphäre zu kreieren. Aber aufgrund der plötzlichen Platzprobleme konnte man nur noch gen Himmel bauen, daher die Betontürme, die das trostlose, schattige Bild von Christiane Fs Welt bestimmten. Viele Langzeitbewohner sahen die Sache allerdings anders. Herr Geue zum Beispiel, der zusammen mit seiner Frau seit über 40 Jahren in Gropiusstadt lebt, sagt: „Die ganze Sache mit der Kriminalität ist übertrieben. Das hört man immer wieder, muss ich ehrlich sagen. Wir sind zwei Personen, die auch nachts rausgehen und wir sind noch nirgendwo in eine Situation gekommen, dass wir Angst haben mussten.”

Herr Moethke zog 1969 nach Gropiusstadt und auch er gibt Wir Kinder vom Bahnhof Zoo die Schuld am schlechten Image der Siedlung. Als der Film rauskam, war sein Kind im gleichen Alter wie Christiane: „Da war meine Tochter 11, wir sind hier in der Gropiusstadt unterwegs gewesen und es war wirklich nicht so.” Er sagte außerdem, dass die inzwischen ausgewachsenen Bäume einen großen Unterschied machen würden und, dass seit dem Fall der Mauer „die Möglichkeit, nach 400 Metern in Brandenburg zu sein und dann durch Felder laufen zu können“, großartig sei.

Gropiusstadt ist ein typisches Beispiel dafür, wie schnell man sich ein schlechtes Image einfängt, und wie schwer es wiederum ist, dieses wieder loszuwerden. Die Bewohner werden nicht müde, ihren PR-Krieg zu führen und nach und nach beginnen die Leute zuzuhören.

Heutzutage gibt es relativ wenig freie Wohnungen und während die Mauer und  die Geschichte von Christianes langsam in der Erinnerung verblassen, sieht die Gropiusstadt der Zukunft entgegen und hofft, dass sie anders wahrgenommen wird. Wer weiß, vielleicht schafft sie es eines Tages, zu der traumhaften Trabantenstadt zu werden, die Walter Gropius sich vor einem halben Jahrhundert erträumt hat. Oder wenigstens zu einem Ort, der nicht nach Pisse und Kacke stinkt.