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Reisen

Atlantis existiert (und es ist grauenhaft)

Die von Bäumen gesäumte Straße, die in das südafrikanische Dörfchen Atlantis führt, heißt Malmesbury Road. 1931 wurde sie durch arme, weiße Arbeiter errichtet—ein Arbeit-gegen-Essen-Deal, um die schlimmen Auswirkungen der Großen Depression abzumildern. Im gleichen Jahr kam die Harvard Buisness School vorbei, um eine Studie über dieses innovative Konzept durchzuführen. Ihre Ergebnisse brachten sie nach Amerika und ein Jahr später hat Franklin Delano Roosvelt dann diese Studie als New Deal verpackt. Es ist also ein geschichtsträchtiges Stück Asphalt. Doch damals startete auch ein weiterer Anlauf in Sachen Sozialbau, knapp 40 Kilometer von Kapstadt entfernt, nur diesmal weitaus weniger erfolgreich. Damals 1977 sollte die Stadt Atlantis die Antwort der Apartheid auf Milton Keynes werden. Eine geplante Siedlung, exklusiv für Kap-Farbige (wie sie in Südafrika genannt werden). Vom Reißbrett aus dem Boden gestampft, wurden die Einwohner angekarrt, nachdem sie ihre Wohnungen in Kapstadt aufgrund falscher Versprechen aufgegeben hatten. Die Stadtplaner waren zuversichtlich, dass die Stadt im Jahre 2010 bereits über eine halbe Millionen Einwohner haben würde. Sie sollte ein glänzendes Zentrum der Rassentrennung, ein Beleg für die Potenz, die Leistung und die generelle Fairness der Regierung und deren Anstrengung, die Gesellschaft in nach Rassen getrennte, Wirtschaftszonen aufzuspalten sein. Es kam anders. Heute rostet Atlantis unelegant sieben Tage in der Woche vor sich hin. In den Siebzigern war das Gitternetz an Straßen noch sauber in zwei Zonen unterteilt—ein Wohnbereich und ein paar Kilometer entfernt ein Industriegebiet: breite Straßen mit Kanalisation und Stromleitungen, die nur darauf warteten, dass sich die Fabriken ansiedelten. Es wurde angedacht, die Schwerindustrie aus Kapstadt nach Atlantis zu verlagern und das dadurch die schwarze Bevölkerung den Spielplatz der Weißen verlassen würde, um „ihr eigenes Heim“ im Atlantis zu errichten und somit den Fabriken weiterhin billige Arbeitskraft zur Verfügung stehen würden.

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Um den Ort aus dem Boden zu stampfen und die Industrie anzulocken, begann die Regierung, einige Initiativen zu starten. Wie zum Beispiel Steuerkredite, doch als alles anfing, zusammenzubrechen, begannen auch die Kredite unbezahlbar zu werden. Zudem wurden neue Industriegebiete näher an Kapstadt ausgewiesen, die Benzinpreise schoßen in die Höhe und damit die Transportkosten. Das ganze Ding brach in sich zusammen.

In diesen Tagen hat sich die Bevölkerung von Atlantis auf etwas um die 100.000 Einwohner eingepegelt und die Arbeitslosigkeit bleibt konstant bei bemerkenswerten 40 Prozent. Der Prozentsatz an Alkoholikern ist ebenfalls einer der höchsten der Welt. Die Gangs dort sind so gewalttätig, dass du dir überlegen solltest, ob du dich nicht gleich selbst umbringen willst, anstatt Zeit zu verschwenden. An dem Samstag, als ich aufkreuzte, zitterte die Stadt immer noch nach den beiden Morden in der Nacht zuvor. „Das waren Gangster,“ erklärt mir Barbara Ras im Wohnzimmer ihres kleinen, grünen Hauses an der Stadtgrenze. Sie kennt sich aus, denn sie war früher selbst Mitglied in einer der Gangs. „Einer von ihnen war Mitglied der Mongrels, der andere bei den Rastas. Was sich seit meinen Tagen damals geändert hat, ist, dass es früher um Streitigkeiten um Territorium und Land zwischen den Gangs ging und heute ist es schlicht und ergreifend organisiertes Verbrechen.“

Wie bei vielen geläuterten Charakteren war auch Ras Ausweg GOTT. Ein Haufen dumpf-fröhlicher Typen klopfte eines Sonntags, als sie high war, an ihrer Tür. Sie erzählten ihr, dass Jesus sie lieben würde und so schmolz sie dahin. „Für mich fühlte es sich an, als würde mich jemand umarmen. Das war es. Das ein anderes menschliches Wesen sich für mich interessierte, war etwas, das ich nie zuvor erlebt hatte.“ Und wie viele geläuterte Menschen kann auch sie nicht aufhören, von dem Typen da oben zu plappern. Egal welche Richtung die Unterhaltung einschlägt, am Ende landet sie immer wieder bei Jesus.

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„Ich habe gekämpft. Die Mädchen in den Gangs - es waren nicht viele - die meisten von ihnen haben nicht gekämpft. Die meisten von ihnen waren da um die Waffen zu halten. Ich habe gekämpft. Ich habe mich getraut jemanden abzustechen. Und ich habe mich getraut deine Pistole festzuhalten, wenn sie noch warm war. Ich war voll dabei. Und ich habe mir so Respekt verdient."  Sie zieht ihren Ärmel hoch und zeigt ein schmales, überstochenes Tattoo. „Das war die letzte Gang zu der ich gehört habe, die 77s. Alle von denen haben jemanden umgebracht. Mein Mann war auch einer von ihnen. Ich habe mich von ihm scheiden lassen, dann habe ich ihn wieder geheiratet und ich habe mich wieder von ihm scheiden lassen weil ich ihn dabei erwischt habe, wie er mich betrogen hat.

Ras war die Tochter eines Predigers und hat sich mit den falschen Jungs rumgetrieben und ist immer weiter in die Mandrax-verkrustete dunkle Seite der Ganglands von Capetown gerutscht. „Du denkst einfach anders, wenn du in so einer Situation bist - es geht darum zu Überleben, von Tag zu Tag. Ich habe mich wohlgefühlt mit den Jungs - ich war das einzige Mädchen in der Gruppe." Sie zeigt nochmal auf das Tattoo. „Meine älteste Tochter wollte, dass ich es entfernen lasse. Die Kinder schämen sich dafür, weil die anderen Kinder es auch sehen und dann machen sie sich in der Schule darüber lustig."

Heute ist Ras im Gemeinderat und leitet ein Frauenhaus. Obwohl sie jetzt eigentlich Teil der Regierung ist, hat sie sich ein gesundes Misstrauen gegenüber der Polizei bewahrt. „Ich arbeite nicht mit denen. Und ich werde nie mit ihnen arbeiten. Sie messen mit zweierlei Maß. Sie ziehen dich runter und kämpfen gegen dich, aber sie nehmen auch dein Geld."

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Sie kümmern sich außerdem einen Scheiß um die Sicherheit vieler Leute in Atlantis. „Das Haus, in dem wir jetzt wohnen, wurde vor fünf Jahren mit einem Molotov Cocktail  beworfen. Sie haben ihn von hinten reingeworfen. Sie waren unzufrieden mit meiner Arbeit. Das Frauenhaus, das ich gegründet habe, war früher eine illegale Kneipe, voll mit Drogen." Also hat sie ihre Kumpel angerufen. Und die kamen in Massen aus ihrem ehemaligen Ganggebiet Bonteheuwel. Ziemlich bald standen 20 oder mehr Autos mit riesigen Gangstern, von außerhalb der Stadt vor ihrem Haus. Anstatt mal vorbei zu kommen und sich das mal anzuschauen, haben die Polizisten bei ihr angerufen und gefragt was abgeht. „Ich habe zu ihnen gesagt, wenn ihr mich nicht beschützen könnt, dann muss ich machen was ich kann,… Weißt du, sie haben letzte Woche meine Hunde vergiftet. Umgebracht. Zwei von ihnen."

Ihre alten Gangland Freunde können ihr nur bedingt helfen, aber sie bleibt in Kontakt. „Viele von ihnen sind tot. Der Rest ist immer noch dabei. Sie sind jetzt alt - sie wollen gerne da raus, aber was können sie schon machen."

Barbara lässt den Jungen rein, der nebenan wohnt, er sieht nicht älter aus als 15, ist aber eigentlich 20. Er hat die auffälligen Elfenohren und das schüchterne, abwesende Verhalten von Leuten mit Fetalem Alkoholsyndrom, der milden Form von Hirnschaden, den trinkende Mütter ihren Kinder hier draußen so oft mit auf den Weg geben, dass die meisten Journalisten ihre Kamera einfach wieder einpacken. „Ich habe ihn vor drei Wochen aus dem Allandale Gefängnis geholt. Er war 17. Er war in der Schule. Dann hat er mit Tik (Crytal Meth) angefangen. Und dann hatte er was mit einem Mord zu tun und ist ins Gefängnis gewandert. Er hat dabei zugesehen. Aber er hat nicht mitgemacht. Er hat niemanden verpfiffen - er konnte nicht, weil er in Lebensgefahr war… Er kann dir ein paar seiner Wunden zeigen… Zeig was sie getan haben." Unbeholfen zieht der Junge seine Hose runter und eine Menge von weißlichen Narben, die an seinem Oberschenkel entlang laufen, kommen zum Vorschein. „Sie haben ihn im Gefängnis geschlagen. Er war allein in einer Zelle und sie haben ihn erwischt," erzählt sie weiter. „Ich sage dir, was du hier siehst, ist eine gebrochene Person."

Der Jung wirkt nicht so, als ob er irgendwas von dem verstanden hätte, was gesagt wurde, er steht in einer Ecke des Zimmers und schaut unbeteiligt nach unten. „Ihm sind Sachen im Gefängnis passiert, die man sich gar nicht vorstellen kann. Aber niemand hilft ihm da durch. Alle trinken sie. Seine Mutter trinkt, seine Großmutter trinkt. Seine ganze Familie ist dem Alkohol verfallen. Es gibt niemanden der ihm sagt dass er etwas besonderes ist, weil er ein Mensch ist…" fährt sie fort, während der Mann-Junge zerknirscht in der Ecke steht. „Er ist zweimal bei mir eingebrochen. In das Haus, in dem ihm geholfen wurde! Wo er jederzeit eine Tasse Tee oder ein Stück Brot hätte haben können. Ich habe die Anzeige am Schluss zurückgezogen, unter der Bedingung, dass er mir mein Zeug wieder zurück gibt." Dann erwähnt sie ein paar merkwürdige Sachen von denen sie denkt, dass sie dem Jungen helfen könnten. „Er muss hypnotisiert werden. Damit sie rausfinden können, was bei ihm falsch gelaufen ist…"

Hypnose ist wahrscheinlich nicht genug, um rauszubekommen was mit dem Rest der Stadt falsch gelaufen ist. Nachdem die Rezession so richtig zugeschlagen hat, sind sogar einige der Fabriken, die Atlantis noch am Leben gehalten haben, zu Grunde gegangen. Jetzt überlegt die Regierung mal wieder was sie mit dem Ort anfangen soll. Im kommenden Jahr wollen sie die brachliegenden Industrieflächen an Firmen verschenken, wenn diese versprechen, dass sie neue Fabriken bauen und sollten sie dies nicht machen, verlieren sie ihr Anrecht drauf.

Natürlich muss es nicht alles mit dem langsamen Versinken der Stadt in die Barbarei enden. Es könnte auch mit einem großen Knall enden. Ein schreiend gelber Flyer, der an Ras Kühlschrank hängt, gibt Anweisungen, was im Falle von Armageddon zu tun ist. Ducken, sich hinfallen lassen, wegrollen, nach links und rechts schauen, solche Sachen halt… Die Stadt ist nämlich innerhalb des 16 km Radius der Koeberg Nuclear Power Station. Atlantis versinkt? Das geht vermutlich als Ironie durch.