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Kampfsport

Die größten Ammenmärchen im Kampfsport

Zum Thema Kampfsport und Kampfkunst wurden schon unzählige Bücher geschrieben, einige davon mit hanebüchenen Ratschlägen. Wir haben mal ein kleines Best-of zusammengestellt.

Als jemand, der sich gern zum Thema traditionelle Kampfkünste einliest und diese auch selber praktiziert, kann ich auf alle Fälle bezeugen, dass es im traditionellen Kampfsport einen Haufen verrückter Typen gibt. Fast jeder sieht sich dabei anscheinend berufen, den anderen mitzuteilen, was sie alles falsch machen. Sei es, dass sie nicht genug ihr qi kultivieren oder eine Technik deswegen nicht effizient anwenden, weil sie nicht genug an sie glauben. Passend dazu wird überall darüber diskutiert, wer eigentlich Meister und wer nur Schüler war.

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Aus diesem Grund habe ich beschlossen, heute einfach mal ein kleines Best-of der größten Dummheiten zu präsentieren, die mir meine Zeit im Kampfsport gelehrt hat.

Die bekloppte Schlägertyp-Edelmann-Dichotomie

Beginnen wir mit dem folgenden Foto, das vor Kurzem auf Facebook die Runde gemacht hat (und mir ziemlich auf den Keks ging).

Links sehen wir einen tätowierten, muskelbepackten Schlägertypen. Er kämpft in Käfigen, wo man auch noch zuschlagen darf, wenn der Gegner schon längst am Boden liegt. Der Mann auf der rechten ist hingegen ein schmächtiger Asiat in einem Gi und mit dem schwarzen Gürtel—kurzum: ein Meister der Kampfkunst. Er muss einfach ein Mann von geistigem Tiefgang sein, der über den Sinn des Lebens und das menschliche Streben sinniert.

Natürlich weiß jeder, der sich mit Mixed Martial Arts beschäftigt, dass der angeblich hohle Brutalo-Käfigkämpfer in Wirklichkeit Jeff Monson ist. Auch er ist ein echter Meister der Kampfkunst, der schon zweimal die ADCC Submission Grappling World Championship gewinnen konnte und einmal Weltmeister im No-Gi Brazilian Jiu Jitsu wurde. Er ist belesen, wortgewandt und eine Person, der man nur allzu gerne dabei zuhört, wenn sie über Kampfsport spricht. Er hat zwar etwas spezielle politische Ansichten, aber das macht ihn noch lange nicht zu einem schlechteren Menschen.

Fehlt es Monson an Hartnäckigkeit? Wohl kaum, denn er wird bestimmt nicht eines guten Tages zu einem Grappling-Wettkampf gefahren sein und dort einfach mal so die Besten der Welt herausgefordert haben. Nein, er begann als Wrestler, als er noch auf der High School war. Eine der härtesten und gleichzeitig undankbarsten Sportarten der Welt: Man trainiert wie ein Wahnsinniger, ohne dafür Geld zu bekommen oder auch nur die Hoffnung zu haben, dass sich das in Zukunft ändern würde.

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Erst danach ging er in den Submission-Bereich, fuhr fast jedes Wochenende zu No-Name-Wettkämpfen, musste Ewigkeiten warten, bis er endlich kämpfen durfte und verlor dann manchmal auch. Ihm fehlt es an Loyalität? Nun ja, der Kerl war fast zehn Jahre lang Mitglied im American Top Team, wo er auch seinen schwarzen Gürtel in Brazilian Jiu Jitsu gewann, was viele Jahre harte Arbeit voraussetzt.

Lustigerweise gibt es eine klare Überschneidung zwischen denjenigen, die MMA für zu brutal und barbarisch halten, und denjenigen, die glauben, dass ihre Kampfkunst nicht MMA-kompatibel wäre, weil es dort verboten ist, ins Auge zu stechen, an den Haaren zu ziehen und in Richtung männliche Weichteile zu schlagen. Doch genau aus diesem Grund wurden doch auch traditionelle Kampfsportarten entwickelt, darum stand bzw. steht man auch dort seinem Gegner in leichter X-Bein-Stellung gegenüber.

In alten Trainingsanleitungen—bevor man Karate und Co. zu etwas Spirituellem verklärt hat—konnte man nachlesen, dass man zuerst nach einem schmerzempfindlichen Körperteil zu greifen hat, um dann zuzuschlagen. Dass sich heutige Schüler zum Teil darüber echauffieren ist lächerlich und zeigt, dass man anscheinend vergessen hat, dass eben Blut fließen kann, wenn zwei menschliche Körper mit Schmackes aufeinanderprallen.

Das Karate der 70er ist das beste Karate

Im Laufe der letzten Jahre bin ich auf eine Reihe von Büchern über Kampfsport gestoßen, die bald gut, bald schlecht waren. Mit Ausnahme von ein paar Schmökern, die man einfach nur als lächerlich bezeichnen kann. Fast jede Kampfsportart begann mal recht solide, Ziel war es, Kämpfe zu gewinnen oder sich und sein Eigentum zu beschützen. Doch die ursprünglichen Techniken werden von Generation zu Generation immer mehr verwässert bzw. vereinfacht. Bis man plötzlich zu Wurftechniken rät, die man im echten Kampf nie im Leben praktizieren würde.

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Ein gutes Beispiel dafür ist Gichin Funakoshi. Es gibt Fotos von ihm, die ihm beim Vorführen von Schulterrädern (Kata-guruma) zeigen, doch nachdem er eine Weile in Japan war, ging es bei ihm plötzlich nur noch um Beinwürfe und Stepping-Punches. Sobald es bei Kampfsportarten mehr um die Form als um die Funktion geht, wird es oft recht krude, weil man beginnt, die Logik hinter bestimmten Techniken neu zu interpretieren. Masatoshi Nakayama schrieb einst zusammen mit dem großen Donn Draeger eine Serie über Selbstverteidigung. Raus kam ziemlicher Müll. Diese traurige Tradition wurde von vielen weiteren Karate-Kämpfern fortgeführt, die auf die Idee kam, über Selbstverteidigung schreiben zu wollen.

Das London der 70er in einem Foto.

Als ich das Buch Karate Defence and Attack von Keinosuke Enoeda und John Chisholm aufschlug, fiel meine Aufmerksamkeit auf folgendes Bild. Das zeigt nämlich, wie man sich am besten aus dem wohl gefährlichsten aller Haltegriffe, dem Doppelnelson, befreien kann:

Schritt eins, jemand setzt den Doppelnelson bei dir an. Schritt zwei, du trittst auf seinen Fuß. Schritt drei, du greifst in seine Weichteile. Schon hast du dich aus dem Doppelnelson befreien können.

Das Problem ist jedoch folgendes. Es gibt keinen Ausweg aus dem Doppelnelson. Auf den Fuß zu stampfen, geht vielleicht noch. Doch der nächste Schritt, dem Angreifer in den Schritt zu greifen, gehört vielmehr ins Reich der Märchen. Denn dafür müsste man die Hände bis in die Leistengegend des Gegners bewegen können. Doch was den Doppelnelson gerade so wertvoll macht, ist die Tatsache, dass sogar recht untrainierte Dudes die Arme des Gegners unschädlich machen und ein Runterführen bis auf Hüfthöhe locker verhindern können.

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Oder noch eine Anekdote gefällig? Stell dir vor, in deinem Wohnzimmer steht ein Typ, der eine Schusswaffe auf dich richtet. Was macht du am besten? Na klar, du packst die Supertritttechnik aus und kickst dem Angreifer die Pistole aus der Hand!

Und weil du schon dabei bist, trittst du ihm dann auch noch ordentlich in die Fresse—ohne natürlich das Bein währenddessen absetzen zu müssen. As easy as that.

Auch diese Handgelenksbefreiung—dargestellt in Eric Dominys Veröffentlichung Karate aus dem Jahr 1974—hält nicht wirklich viel von Realismus. Der Angreifer (links) wird hier—trotz Hebels gegen das Handgelenk vom dunkelhaarigen Kämpfer—an der angreifenden Hand zur Seite und nach unten gezogen, wo er dann ungedeckt ist und einen Knietritt nicht mehr abwehren kann. Klingt machbar? Viel Spaß.

Denn als Faustregel gilt: Wenn jemand einen Haltegriff bei dir setzt, wird er in der Regel versuchen, jede Gegenbewegung zu unterbinden. Und vor allem: Wenn für deine vorgeschlagene Befreiungstechnik nötig wird, dass der Angreifer aus irgendeinem Grund nicht seinen aus der Situation entstehenden Kräftevorteil gegen dich einsetzt, kannst du sicher sein, dass die Technik ziemlicher Schwachsinn ist. Denn warum sollte er das machen?

Der Dillman darf nicht fehlen

Kein Artikel über Ammenmärchen im Kampfsport wäre jemals komplett, wenn man nicht auch ein Wort über Kyūsho Jitsu verlieren würde. Damit das nicht missverstanden wird: Ich glaube durchaus an „vitale Punkte" bzw. die Effizienz, gezielt gegen den Solar Plexus, das Sternum oder die Kieferpartie zu schlagen. Es besteht nämlich kein Zweifel, dass Schläge gegen bestimmte Körperregionen deutlich mehr Schaden anrichten können—und genau auf die zielen gute Kämpfer auch ab. Wenn man aber vorgibt, dass man nur in drei von vier Körperpunkten pieken muss, um jeden noch so großen Gegner umzuhauen, wird das Ganze sehr schnell sehr lächerlich.

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Der größte Märchenonkel ist dabei George Dillman. Ich muss zugeben, dass ich schon einiges Geld für Bücher von ihm gelassen habe, was aber vor allem daran liegt, dass ich sie so verdammt amüsant finde. Doch Dillman hat mittlerweile das Fass echt zum Überlaufen gebracht, seitdem er eine Kampfkunst namens Toate vertrittein No-touch-Knockout. Richtig; Die Kunst, deinen Gegner umzuhauen, ohne ihn dabei überhaupt berühren zu müssen. Hört sich komplett irre an? Finde ich auch. Hier gibt's ein Video zu dem Thema:

Achtung, Spoiler! Er verrät den Zuschauern am Ende, wie man sich gegen diesen Spuk verteidigen kann!

Doch eigentlich ist das ganze Kyūsho-Jitsu-Theater gar nicht mal so lustig, steht es doch für einen Punkt im Kampfsportbereich, den ich mit am meisten hasse—das Zusammenschlagen zu Demonstrationszwecken von Kämpfern, die keinerlei Widerstand zeigen. Vor allem der dahinter operierende blinde Kultstatus lässt mich mehr als skeptisch werden—nebst der Tatsache, dass deine Meridiane umso empfindlicher reagieren, je höher dein Rang ist. Im folgenden Video wird ein 6. Dan ausgeschaltet, indem ihm der Meister einmal auf den Arm schlägt:

Oder wie wäre es mit Paul Bowman, Englands Antwort auf den Zauber-Dillman?

Manch einer nennt es das Ausnutzen von chi-Meridianen und Yin und Yang, ich nenne es gezieltes Schlagen gegen die Stirn—oft ohne Vorwarnung und mitten im Satz—von leicht zu beeindruckenden Personen, die man im Anschluss oft auf harte Böden fallen lässt.

Dieser Artikel erschien ursprünglich auf FIGHTLAND.