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Mode

Models verhungern für die Modeindustrie

Seit gestern laufen auf Pro7 wieder Möchtegern-Models über den Laufsteg von Heidi Klum und in New York über die Laufstege der Fashion Week. Doch das Leben einiger Models ist weit weniger glamourös. Mehrere Jahre meines Lebens war ich eine von diesen...

Die Autorin bei einer ihrer ersten Testaufnahmen. Sie war 19 und wog 52 Kilo. Foto von Michelle Ricks

Seit letzten Donnerstag laufen auf Pro7 wieder Möchtegern-Models über den Laufsteg von Heidi Klum und in New York über die Laufstege der Fashion Week. Doch das Leben einiger Models ist weit weniger glamourös, als es zunächst den Anschein erweckt. Die Tatsache, dass sie so gut wie nie schlafen oder essen, endlos herumreisen, durchgehend bewertet und und zu Objekten degradiert werden, kann ein Katalysator für psychische Störungen sein.

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Innerhalb der letzten zehn Jahre haben mindestens 20 Models Selbstmord begangen, einige von ihnen waren berühmt, andere nicht. Darüber hinaus gab es mit Sicherheit viele weitere weniger bekannte Models, deren Selbstmordversuche überhaupt nicht an die Öffentlichkeit kamen. Die nichtstaatliche Arbeitsrechtsorganisation Model Alliance, bei der ich als Grafikdesignerin arbeite, führte 2012 eine Studie durch, der zufolge 68,3 Prozent der Models angaben, unter Depressionen oder Angstzuständen zu leiden. Mehrere Jahre meines Lebens war ich eine von diesen Frauen.

Ich habe mit 19 mit dem professionellen Modeln angefangen, als ich noch aufs College ging. 2007 geriet ich an eine kleine Boutique-Agentur in San Diego, die mir einen Vertrag anbot. Ich bin in einem winzigen Vorort von San Diego aufgewachsen und hatte mich in völlig übertriebener Weise in Sendungen wie America’s Next Top Model hineingesteigert. Bei der Gelegenheit zu modeln und für umsonst herumzureisen, musste ich nicht lange nachdenken. Doch bevor ich die gestrichelte Linie unter meinem ersten Vertrag unterschreiben durfte, wickelte man mir ein Maßband um die Jeans. Models werden nicht in Kilos, sondern in Zentimetern gemessen. Ich musste 5 Zentimeter oder knapp 7 Kilo abnehmen, um den Vertrag zu bekommen.

Bei einer Größe von 1,80, einem Gewicht von 61 Kilo und Kleidergröße 36 konnte ich diese Forderung zunächst nicht nachvollziehen. Ich war groß und dünn. Warum sollte ich unbedingt einen Hüftumfang von 94 Zentimetern haben? Als mir meine Agentin eine Liste mit erlaubten und verbotenen Nahrungsmitteln reichte, sagte ich trotzdem ja. Erlaubt waren Huhn, Fisch, gedünstetes Gemüse und andere proteinhaltige Produkte wie Mandeln und Eier. Fast alle anderen Nahrungsmittel (besonders Brot) waren tabu. Als 19-Jährige, deren Ernährung bisher vom Angebot der Mensa abhing, begriff ich nicht, dass eine Ernährung mit 800 Kalorien pro Tag, die mit zwei Stunden Fitnesstraining wieder abtrainiert wurden, eine Hungerkur darstellte, die meinem Stoffwechsel langfristig schaden würde. Ich nahm innerhalb von sieben Wochen neun Kilo ab und kam von Größe 36 auf Größe 32. Meine Familie war angesichts meines drastischen Gewichtsverlust entsetzt, meine Agentin dagegen höchst zufrieden. Schwach und elend wurde ich sofort nach New York geschickt.

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In New York ließen mich weitere Aufträge und das Lob meiner Agentur glauben, dass der Hungerkampf die Sache wert sei. „Du bist so dünn“, murmelten meine Mitbewohner, während wir auf unserem billigen Herd Gemüse-„Fajitas“ (Gemüse, Wasser und Maistortillas) zubereiteten. Bei Abendessen von Werbern stopfte ich mich mit Essen voll und bestrafte mich dann damit, dass ich tagelang gar nichts aß. Ich lief stundenlang durch die Stadt, um die geschluckten Kalorien wieder zu verbrennen. Als die Semesterferien vorbei waren, nahm ich mir ein Semester frei, um für einen potenziellen Modelvertrag nach Korea fliegen zu können. Die Sache kam jedoch nicht zustande, weil ich ein paar Kilo zugenommen hatte. Meine Agentin tat, als hätte ich damit den schrecklichsten Frevel begangen. „Was ist denn mit dir passiert?“, keuchte sie, als ich mit ein paar Kilo mehr in ihr Büro trat. Im Geiste verfasste sie bereits ein Absageschreiben an die Agentur in Seoul, die Interesse an mir gezeigt hatte.

Ich habe in New York keine bemerkenswerte Arbeit geleistet. Ich hatte weder Shootings mit Nick Knight noch Auftritte in einer Modenschau von Alexander Wang. Über eine mittelgroße Werbeagentur kam ich zu Shootings für Kataloge für Abschlussbälle und Buchcover, durch die ich etwas Geld verdient habe. Doch der Traum vom glamourösen Erfolg, der sich nur für einen winzigen Bruchteil aller Mädchen jemals bewahrheitet, blieb der Anreiz, mit dem mich meine Agentin in San Diego jedes Mal wieder köderte, wenn ich den Job an den Nagel hängen wollte. Es dauerte Jahre, bis ich merkte, wie unglücklich ich eigentlich war. Als ich schließlich wieder zurück nach Hause zog, benötigte ich eine Psychotherapie, wovon meine Familie (dank der kostenlosen Behandlung an meiner Uni) bis heute nichts weiß. Meine Therapeutin half mir dabei, mich zu erholen und eine von meinem Gewicht und Aussehen unabhängige Identität zu entwickeln.

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Mir ist klar, dass alle Models ihre eigenen Erfahrungen machen. Dennoch sollte man sich von Vornherein bewusst sein, dass die Modelbranche ein Nährboden für psychische Störungen sein kann, gegen die es wenige Heilmittel gibt. Viele meiner Model-Freundinnen haben unter ähnlichen Problemen gelitten.

Laurel im Februar 2009 für Vena Cava, Herbst/Winter 2010

Anfang der Woche habe ich mit Laurel Stovall geskypt und mit ihr über diese Probleme gesprochen. Laurel ist 27, sie war ebenfalls Model und führt einen Modeblog, über den ich mich mit ihr angefreundet habe. In unserem Skype-Gespräch redeten wir zum ersten Mal offen über die Modelwelt, und mir wurde deutlich, dass uns gar nicht so viel unterscheidet.

2010, als Laurel 23 war und an einer ernsten Essstörung litt, wurde sie von einer Agentin einer Top-Modelagentur entdeckt. Schon bevor sie professionell modelte, war sie mit 52 Kilo und einer Größe von 1,80 bedrohlich dünn. Sie erzählte mir, dass sie sich an dem Tag, an dem sie von der Agentin angesprochen wurde, so krank und traurig wie nie zuvor gefühlt hatte.

„Die Agentin sah mich an und fragte: ,Bist du schon unter Vertrag?‘“, erzählte mir Laurel.

Eigentlich war sie zu diesem Zeitpunkt gerade so weit gewesen, dass sie professionelle Hilfe in Anspruch nehmen wollte, doch durch den Modelvertrag und profilierte Buchungen in New York und Mailand wurde ihre Essstörung wieder aufgewertet. Es war ein Teufelskreis aus Bestätigungen, der ihr das Gefühl gab, dass Hungern doch das Richtige sei.

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„Alle um dich herum erzählen dir, wie viel Glück du hast, jeden verdammten Tag. Und weißt du was? Manchmal bist du ja auch glücklich“, sagte sie letzte Woche zu mir. „Ich kannte nichts Besseres. Ich dachte, es wäre cool. Ich kam aus meiner Heimatstadt Reno heraus … Trotzdem habe ich mich die ganze Zeit wie Dreck gefühlt.“

Laurel unterschrieb einen Vertrag bei einer der Top-Agenturen der Stadt und wurde um Haaresbreite von Calvin Klein für eine der renommiertesten Modeschauen der Fashion Week gebucht.

„Ich sollte zweimal Exklusiv-Model sein, doch dann riefen [Koordinatoren von Calvin Klein] meine Agentur an und meinten, dass ich zu dünn sei. Meine Agentin befahl mir, nach Hause zu gehen und zwei Wochen nichts anderes als Erdnussbutter zu essen. Denkt ihr, dass ihr damit das Problem löst? Mit Erdnussbutter?“

Heute hat Laurel die New Yorker Welt der Haute Couture verlassen und nimmt kommerzielle Aufträge in Los Angeles an, wo sie auch noch mit Kleidergröße 36 Arbeit bekommt. Außerdem bewirbt sie sich für Graduiertenprogramme und plant, in die Politik zu gehen.

„Wenn ich erzähle, dass ich als Model nicht besonders glücklich war und mein Leben ändern wollte, waren die Leute schockiert“, sagte Laurel. „Ich kam mit diesem Mangel an Kontrolle nicht klar. Erst als ich gemerkt habe, dass ich Dinge beeinflussen kann, dass es mein Leben ist, habe ich mich wieder stark gefühlt.“

Laurel im Sommer 2013 in Los Angeles

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Das Fehlen von Regulierungen ist einer der Hauptgründe für Geschichten wie die von mir und Laurel. Weil Models als unabhängige Auftragnehmer gelten, unterliegen die Agenturen keinem Kontrollorgan. Nichtsdestotrotz werden sie von Agenturen für Aufträge gebucht, die für sie eine Kommission bezahlen. Du bist also eine Art Freiberufler, der sich seine Aufträge nicht selbst aussuchen kann. Models haben keine Krankenversicherungen, psychologische Hilfe wird dadurch unbezahlbar. Weil sie keine richtigen Angestellten sind, können sie ihre Auftraggeber nicht einmal für sexuelle Belästigungen verklagen. Dieses Gefühl der Unsicherheit wird von den Agenturen noch befördert, die zwar als Arbeitgeber auftreten, sich aber weigern, Verantwortung für grundlegende Arbeitnehmerrechte wie pünktliche Bezahlungen, Krankenversicherungen und Schutz vor sexuellen Belästigungen durch Kunden zu übernehmen.

„Models sind dem Druck ausgesetzt, für ihre Arbeit dünn sein zu müssen, und deshalb besonders anfällig für Essstörungen“, sagte Susie Roman, Programmleiterin bei der National Eating Disorders Association. „Sie sind nicht in der Lage, ihr gesundes Gewicht zu verteidigen, ohne ihre Aufträge zu verlieren. Deshalb ist ein Wandel in der Branche absolut erforderlich.“

Die Autorin (links außen) mit dem Team von Model Alliance

Dank der Model Alliance rückt dieser Wandel vielleicht etwas näher. Gegründet wurde die Organisation von dem Model und der Filmemacherin Sara Ziff, die 2009 mit ihrer Doku Picture Me die Zustände im Modelbusiness enthüllt hat. Ich bin seit April 2011 Teil des Teams, das bereits große Erfolge hatte, zum Beispiel die Einführung eines Gesetzes in New York, das Models unter 18 größeren Schutz bietet. Bei der diesjährigen Fashion Week wird es zum ersten Mal in Kraft treten und Designer dazu verpflichten, bei Models unter 18 schon vor dem ersten Fitting sicherzustellen, dass sie eine Arbeitserlaubnis und einen Treuhandfond haben. Außerdem sind wir mit dem „Retail Action Project“ eine Partnerschaft für Gesundheitsfürsorge eingegangen, durch die Models, die psychologische Hilfe suchen, Zugang zu bezahlbaren Behandlungen bekommen.

Dass ich in New York gehungert habe, ist nun acht Jahre her. Ich würde gern sagen können, dass Essstörungen eines Tages komplett verschwinden, dass sich der Schaden, der durch die Dinge entstand, die ich nicht essen durfte, durch Vergessen beheben ließe. Doch wer eine psychische Störung erlitten hat, weiß, dass sie von Zeit zu Zeit wiederkehren kann. Bei mir tut sie es zum Beispiel dann, wenn eine Freundin mich scherzhaft fragt, wie viel ich wiege, oder wenn mich ein Typ, mit dem ich zusammen bin, liebevoll als kurvig bezeichnet. Zum Glück bin ich mittlerweile in einer Verfassung, in der ich mit diesen Gedanken umgehen kann. Ich bin 27 und gewissermaßen dankbar für meine gescheiterte Karriere als Model, weil sie mir Einblicke gebracht hat, mit denen ich anderen Frauen helfen kann, die diese Unterstützung brauchen. Wenn es auch nur einer Handvoll Mädchen, die diese Woche auf die Laufstege stürmen, hilft, dass ich meine Geschichte erzählt habe, dann war es die Sache wert.