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Interviews

"Ich möchte einen Bundespräsidenten, für den ich mich nicht fremdschämen muss"

Christine Nöstlinger ist das Wort Gutmensch "scheißegal", aber der Rechtsruck in Europa nicht so. Hier lest ihr exklusiv das ganze Interview.

Foto von Christoph Liebentritt

Christine Nöstlinger wohnt ganz oben im Dachgeschoß. Am Balkon stehen Blumentröge neben Topfpflanzen, Gießkannen und einem hölzernen Gartentischchen. Darunter die grauen, grünen und bronzenen Dächer von Wien-Brigittenau. Nur die zwei Flaktürme im Augarten stören die Aussicht und schauen aus wie zu groß geratene Hydranten aus Beton. Hier, rund um den Wallensteinplatz, entwickelt sich die Gegend zaghaft in Richtung Trendbezirk. Zwischen Gemeindebauten, Balkan-Grill und türkischen Handyläden, wurden alte Gründerzeit-Häuser für gut situierte Jungfamilien renoviert. Um die Ecke hat ein hippes Bio-Gasthaus eröffnet. 32 Prozent haben Van der Bellen gewählt, 29 Prozent Hofer.

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Es ist 10:00 Uhr am Dienstagmorgen. Wir haben beim Bäcker Nusskipferl, Kornspitz und eine Marillentasche gekauft und uns dabei gestritten, was Christine Nöstlinger wohl frühstückt. Die Aufregung war umsonst. "Danke, die Sackerl könnt ihr gleich wieder mitnehmen", sagt die Kinderbuchautorin, als sie uns die Türe öffnet. Direkt, aber immerhin ehrlich und mit gewissem Humor. Beim Gehen stützt sich Christine Nöstlinger auf einen Rollator. Im Oktober feiert sie ihren 80. Geburtstag.

Politische und gesellschaftskritische Aspekte zeichnen Nöstlingers Literatur bis heute aus. Sie wuchs in einer antifaschistisch geprägten Arbeiterfamilie im Wiener Bezirk Hernals auf.

In den letzten Monaten vor Kriegsschluss war Christine neun Jahre alt. Als "wildes und wütendes Kind" beschreibt sie sich selbst. Der Hang zum Wachrütteln ist bis ins hohe Alter geblieben. Vor einem Jahr sprach sie in einer berührenden Rede zum 70. Jahrestag der Befreiung des KZ Mauthausen vor dem Nationalrat über den "neuen Rassismus" unserer Zeit. Heute ist die FPÖ stärker denn je. Wir haben mit ihr über wütende Wähler, ihren Auftritt im Parlament und den Begriff Gutmensch, der ihr "scheißegal" ist, gesprochen.

VICE: Wie haben Sie den ersten Wahlabend erlebt, Frau Nöstlinger?
Christine Nöstlinger: Ich hab schon den Wahlmittag völlig verstört erlebt. Ein Freund vom ORF hat angerufen und gefragt: "Willst du dir jetzt schon den Tag versauen oder lieber warten?" Da wusste ich schon ungefähr, wie es steht. Aber dass es so schlecht steht, habe ich mir nicht erwartet. Das hat mich sehr verstört.

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Was verstört Sie genau?
Wenn ich viel jünger wäre, könnte man noch denken: Die Zeiten werden sich ändern. Aber ich werde im Oktober 80 Jahre alt. Lang lebe ich nicht mehr. Den Rechtsrutsch in ganz Europa werde ich bis zu meinem Lebensende ohne Veränderung miterleben müssen. So habe ich mir mein Leben nicht vorgestellt.

Waren sie früher zuversichtlicher, was die Politik betrifft?
In den 60er- und 70er-Jahren war ich aufrichtig davon überzeugt, dass im Jahr 2000 der wahre Sozialismus herrschen wird und alles viel besser und viel herrlicher sein würde. Das habe ich mir eh schon abgeschminkt. Man kann nicht sagen, dass die Leute in eine paar Jahren draufkommen werden, dass sie falsch gewählt haben. Da brauch ich nur nach Italien schauen, wo man vier Mal hintereinander den Berlusconi gewählt und sich nichts verändert hat.

Reden Sie mit ihrer Familie oder mit Freunden über die Wahl?
Es ist ein dauernder Gesprächsstoff. Aber man redet ja immer nur mit den Gleichgesinnten. Laut Umfragen wählt ein Drittel der Österreicher die FPÖ. Und ich kenne keinen einzigen. Vielleicht kenne ich ja doch einen aber er gibt es nicht zu?

Dem Herrn Strache etwas ins Gesicht sagen, das ihm nicht passt, gefällt mir schon.

Was würden Sie einem FPÖ-Wähler oder einer FPÖ-Wählerin sagen, wenn sie jetzt miteinander diskutieren könnten?
Gar nichts. Ich glaube, im persönlichen Gespräch kann man nichts verändern. Letztens im Merkur steht so ein Bio-Wiener vor mir, erkennt mich und sagt: "Bei der Landtagswahl am Sonntag gibt es nur einen zu wählen." Und ich sag: "Ja, den Häupl" Dann reist er den Mund auf und sagt: "Na, den Strache". Und ich sag ganz freundlich zu ihm: "Was glauben'S denn, was der besser macht?" Und er schaut grantig herüber: "Na nix! Aber den andern ghört a Watschn geben!" Was soll man da noch sagen? Ihm erklären, dass er sich damit nur selber eine Watschn gibt? Den interessiert Politik ja nicht einmal und ich will sie ihm nicht erklären müssen. Er will seine Wut haben und die Geschichte hat sich.

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Momentan scheint die Linke zu erstarren. Tage nach der Wahl war meine Facebook-Timeline voll mit Postings, wie wir uns jetzt richtig zu verhalten haben und was man jetzt gerade eben nicht sagen darf …
Was heißt hier bitte dürfen?

Ich rede von Leuten, die mit der Nazi-Keule kommen. In Ihrer Rede vor dem Nationalrat vor einem Jahr haben Sie das Thema klüger verpackt. Damals haben Sie von einem "neuen Rassismus" gewarnt. Was ist damit gemeint?
Es lassen sich nicht so einfach geschichtlichen Parallelen zwischen damals und heute ziehen. Der Antisemitismus unter Hitler ist anders gewesen als der Rassismus, den es heute gibt. Es gibt einen Unterschied zwischen dem alten, deutschnationalen Gedankengut und dem Simmeringer Arbeiter, der die FPÖ gewählt hat. Der Simmeringer Arbeiter ist ja kein Rassist! Der kommt sich wie ein Stiefkind behandelt vor und verlangt von Migranten, dass sie sich assimilieren und nicht integrieren. Wenn sie sich anpassen, hat er überhaupt nichts dagegen. Mit der Rassentheorie hat das nichts zu tun.

Wie war das damals für Sie, im Parlament vor den wichtigsten Politikern zu sprechen?
In diesem Umfeld war es mir schon recht. Dem Herrn Strache etwas ins Gesicht sagen, das ihm nicht passt, gefällt mir schon. Später haben alle applaudiert. Da war ich schon wieder auf meinem Platz und sag zum Faymann neben mir: "Jetzt ist aber schon genug. Die Leute klatschen ja so lange, wie der Herr Bundeskanzler klatscht." Doch Faymann klatscht weiter und sagt: "Passt schon. Dann muss der Strache auch weiterklatschen." Solche Sachen sind ganz lustig.

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Jetzt ist genau ein Jahr vergangen. Hat sich der neue Rassismus verstärkt?
Es hat sich sehr viel verändert. Dadurch, dass Flüchtlinge zu uns gekommen sind. Wenn an die 100.000 Menschen in ein kleines Land wie Österreich kommen, gibt es etliche darunter, die gegen unsere Gesetze verstoßen. Ebenso in Deutschland, wo eine Million Flüchtlinge gekommen sind. Das wird nicht nur von Parteien wie der FPÖ und der AfD ausgenutzt, sondern auch von den Medien.

Auf einem Wahlplakat von Van der Bellen war "Baltischer Jud" zu lesen. Was geht Ihnen da durch den Kopf?
Ich hab das Gefühl es wird nichts besser, sondern nur schlechter. Ich bin eigentlich schon ziemlich frustriert und pessimistisch.

Schätzt meine Generation unsere parlamentarische Demokratie zu wenig, einfach deswegen weil sie "immer da war"?
Die Leute haben damals auch nicht zu schätzen gewusst, was Demokratie ist. Ich war ein Kind im Krieg und kann mich nicht an alles erinnern. Ich bin in einer antifaschistischen Familie aufgewachsen. Als Kind denkt man schwarzweiß. Und als der Krieg vorüber war, dachte ich, dass man alle Nazis bestrafen würde. Im April 1945 wurde eine provisorische Regierung mit Renner eingesetzt. Die Regierungserklärung enthielt einen Appell an alle Österreicher, der da lautete: "Vertagt allen Streit der Weltanschauungen, bis das große Werk gelungen ist." Da hat es meiner Meinung nach schon falsch begonnen. Natürlich war es schwierig, ohne Nazis einen neuen Staat zu machen. Man brauchte Beamte und Lehrer und viele hatten eine NS-Vergangenheit. Die Wahrheit ist: Den Streit der Weltanschauungen, den haben wir bis heute vertagt.

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Die Wahrheit ist: Es hat 1945 schon falsch begonnen. Den Streit der Weltanschauungen, den haben wir bis heute vertagt.

Was steht bei dieser Wahl für Sie auf dem Spiel?
Für mich persönlich geht es darum, dass ich gerne einen Bundespräsidenten hätte, für den ich mich nicht fremdschämen muss. Ich habe das erste Mal in meinem Leben nicht die SPÖ gewählt. Die Wahl im April war für mich eine Persönlichkeitsentscheidung. Ich brauch ja nicht unbedingt einen Präsidenten, aber wenn, dann sollte er gescheit und gebildet, humorbegabt und gelassen sein. Für mich ist das Van der Bellen. Und bei der zweiten Wahl wähle ich ihn tatsächlich, um Hofer zu verhindern.

Was verbinden Sie mit Norbert Hofer?
Mit Hofer verbinde ich nichts, bis auf das, dass ich ihn ins rechte Eck stelle. Und diese Werte, die er vertritt, möchte ich gar nicht einzeln aufzählen, so zuwider sind sie mir. Schon allein deswegen, weil er bei einer schlagenden Burschenschaft ist. Das könnte ich ganz schwer aushalten.

Welche Werte sind Ihnen dann wichtig?
Ein Bundespräsident sollte ein Garant darin sein, unsere parlamentarische Demokratie vor Schaden zu bewahren. Das ist das Wichtigste, das ich von einem Bundespräsidenten verlange.

Hier kommen die Wähler von Norbert Hofer selbst zu Wort

Wo sehen Sie Österreich in zehn Jahren?
Ich weiß ja nicht mal, wo ich Europa in zehn Jahren sehe. Es geht ja nicht nur in Österreich alles nach rechts. In Ungarn, Polen, der Türkei und am Balkan gibt es ähnliche Tendenzen.

Glauben Sie an die EU?
Ich fühle mich zuerst einmal als Wienerin und dann als Europäerin. Mein patriotisches Österreich-Gefühl ist kaum vorhanden. An der EU passt mir auch vieles nicht. Ich hätte auch lieber, dass das Europa-Parlament mehr bestimmen kann und der Rat und die Kommission nicht so viel zu reden hätten. Es könnte schon sein, dass die Union einmal zerbricht.

Sie machen oft einen grantigen Eindruck. Würden Sie sich als Gutmensch beschreiben?
Ich kenne keinen vernünftigen Menschen, der diesen Ausdruck benutzt. Seitdem ich halbwegs erwachsen bin, bemühe ich mich, ein halbwegs guter Mensch zu sein. Ob mich jemand Gutmensch nennt oder nicht, ist mir wirklich scheißegal. Wer hat das Wort eigentlich erfunden? Ich glaube das kommt aus dem Eck der Kronen Zeitung, wo der Mörtel erfunden wurde. Oder war es der Jeannée?

Dieses Interview entstand im Rahmen der Facebook-Initiative "Wie Wählen Sie". Schaut euch hier einen Video-Ausschnitt an.

Franziska auf Twitter: @franziska_tsch