So sehen Berliner um vier Uhr morgens aus

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So sehen Berliner um vier Uhr morgens aus

"Ich hab keine Ahnung wo ich bin, aber ich genieße diese Nacht." – Loa, 19

"Es wühlet mein verstörter Sinn noch zwischen Zweifeln her und hin"
Eduard Mörike, In der Frühe

Morgens um vier treffen in der U-Bahn jene aufeinander, die den Vortag noch festhalten wollen, und jene, die den neuen Tag längst begonnen haben. Wer noch wach ist, versucht, sich mit einem "Jetzt erst recht!" in den nächsten Club zu stürzen. Wer gerade aufgestanden ist, fühlt sich wie ein Eroberer: Während die Mitmenschen noch schlafen, hat er die Stunden vor Sonnenaufgang schon in Besitz genommen. In diesen Stunden lebt man in einer halbwirklichen Zwischenwelt, die entsteht, wenn man den vergangenen Tag in den Neuen zerrt. Das grelle Licht in der Bahn brennt in halbgeschlossenen Augen.

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Eines haben all diese Menschen morgens um vier gemeinsam: Sie verspüren kein Bedürfnis, sich anderen Menschen mitzuteilen. Genau deshalb sind wir durch Berlin gezogen und haben sie angesprochen, morgens zwischen kurz vor vier und sechs Uhr, in der Bahn, am Bahnhof, auf der Straße.

05:19 Uhr, Diana, 31

Diana steht mit ihrem Koffer in der S-Bahn. Sie ist selten so früh unterwegs wie heute. Normalerweise nimmt sie dieselbe Bahn. Nur ein paar Stunden später. Heute aber ist sie auf dem Weg zu einem Kongress in Hannover.

"Ich habe das Gefühl, alle sind ruhig. Jeder ist für sich."

04:15 Uhr, Detlef, 57

Detlef wartet auf die Bahn. Er hat noch zehn Minuten, also Zeit für zwei Zigaretten. Weil die Busverbindungen so schlecht sind, wird er fast zwei Stunden brauchen, bis er die Fabrik bei Velten in Brandenburg erreicht und dort Platz auf seinem Gabelstapler nimmt. Seit sieben Jahren steht er jeden Tag um zwei auf, aber umziehen möchte er nicht, denn er lebte schon immer hier an der Frankfurter Allee. Um 17 Uhr ist er wieder zu Hause. Vermisst er das Tageslicht im Winter? "Wir ham ja Oberlichter in der Halle, aber die sind nich jut, die blenden. Das ist, wie wenn du draußen bist. Wenn die Sonne scheint, siehste nüscht."

04:23 Uhr, Elena, 21

Elena und ihre Freundin haben sich im Matrix hungrig getanzt. Gut, dass sie nur die Warschauer Brücke von ihrem Zuhause trennt. Vor einem halben Jahr ist sie aus Italien nach Berlin gezogen, um Leute kennenzulernen und ihr Deutsch zu verbessern.

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"Es war schön. So viele nette Leute, obwohl Dienstag ist."

04:06 Uhr, René, verrät nur: über 50

René steht auf dem Bahnsteig und studiert den Linienplan der BVG – obwohl er eigentlich ganz genau weiß, wo er hin muss, denn er fährt die Strecke täglich. Als Maschinenschlosser hat er alle zwei Wochen eine Frühschicht, um Geräte zu prüfen und zu reparieren. Auf jede Frage findet er eine Antwort, die nicht mehr als drei Worte braucht. Ist die Stimmung in der Bahn am Morgen eine andere?

"Ja, alle müde."

04:50 Uhr, Meko, 29

Meko ist in Berlin zu Besuch, um sich für ein paar Tage treiben zu lassen. Sie will ihre Freiheit genießen und eine schwere Nachricht verdauen. Doch heute ist nicht die richtige Nacht, um darüber zu sprechen, macht sie klar.

"Wir wollen jetzt noch weiterziehen. Hier um die Warschauer Straße gibt es ja einige Optionen."

04:52 Uhr, Bahar, bleibt nach eigener Aussage immer jung

Bahar und Meko haben sich heute Nacht am Kotti kennengelernt. Auf einer Party für Queers und Transsexuelle. Bahar ist vor vier Jahren aus dem Nordiran geflüchtet und lebt nun in Friedrichshain. Jetzt sind sie zusammen auf der Suche nach einem Ort, an dem sie dem Morgen entgegentanzen können.

04:10 Uhr, Todor, 37

Todor sitzt im hinteren Teil der S-Bahn, so weit weg wie möglich von den wenigen anderen Menschen. Er ist auf dem Weg in die Gießerei, wie jeden Morgen.

"Wir machen Batterien für S-Bahn, Flugzeug, verstehst du? Mit Blei. Gift."

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05:20 Uhr, Marion, 50

Die Bahn, in der Marion sitzt, ist schon recht voll. Obwohl fast jeder Platz besetzt ist, hört man nur das Geräusch der S-Bahn. Sie ist auf dem Weg in den Biomarkt. Dort wird sie alles vorbereiten, damit der Laden um 8 geöffnet werden kann. Mittags hat sie Feierabend.

"Es sind fast immer die gleichen Leute, die hier fahren. Man grüßt sich zwar nicht, aber man kennt die alle."

05:02 Uhr, Marius, 29

Marius wartet. Er hat gerade seine Freunde auf der Warschauer Brücke verloren. Normalerweise legt er selbst auf, heute ist er einfach so unterwegs.

"Wir gehen jetzt ins Chalet, noch ein bisschen resttanzen auf den Dienstagabend."

03:53 Uhr, Marco, 45

Es ist windig, kalt und dunkel. Trotzdem lächelt Marco, während er seinen Zeitungswagen von Tür zu Tür zieht. Er ist seit zwei Stunden auf Tour. Das macht er seit 13 Jahren, sieben Tage die Woche. Um sechs Uhr werden alle Abonnenten ihre Zeitungen im Briefkasten haben. Dann geht er nach Hause, frühstückt und legt sich für ein paar Stunden hin.

"Im Sommer kann ich morgens nach der Arbeit an den Badesee gehen, der ist dann noch leer. Dann gehe ich nach Hause, wenn es voll wird und habe meine Ruhe."

04:21 Uhr, sagt, sein Namen und sein Alter seien nicht wichtig

Seit zehn Jahren nimmt er jeden Tag die gleiche S-Bahn. Unterwegs zum ersten seiner zwei Putzjobs sitzt er am Fenster und stellt fest, dass wieder dieselben Leute den Weg mit ihm teilen.

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"Ich stehe immer um 3:30 Uhr auf und fahre zur Arbeit. Um 7:30 Uhr fahre ich wieder nach Hause und schlafe ein paar Stunden. Mein zweiter Job beginnt dann um 16:00 Uhr."

04:56 Uhr, Julia, 33

Mit schnellen Schritten läuft Julia die Schönhauser Allee im Prenzlauer Berg entlang. Sie muss ihre Bahn erwischen, denn um sechs Uhr soll sie die Bewohner der Behinderten-WG wecken, in der sie arbeitet. Sie ist nicht immer so früh unterwegs, und eigentlich macht sie wesentlich lieber die Spätschicht. "Am Wochenende ist es immer ganz lustig, wenn die Druffies noch da sind. Da wünsche ich mir immer, ich wäre unter denen, anstatt zur Arbeit zu fahren."

05:18 Uhr, Loa, 19

Loa ist mit einer Freundin auf dem Weg zum Geldautomaten. Sie haben gerade herausgefunden, dass man in Berliner Clubs mit Kreditkarten nicht weit kommt. Er ist aus Schweden angereist und nur für ein paar Tage in der Stadt.

"Ich habe keine Ahnung, wo ich bin, aber ich genieße die Nacht."

06:00 Uhr, Michael, 47

Michael steht mit seinem Putzwagen vor einem Einkaufszentrum und leert die Mülleimer. Er säubert dort jeden Morgen den Außenbereich. Dort, wo der Pflasterstein in große Bodenplatten übergeht, entsteht eine Linie, die ihm zeigt, bis wohin er putzen muss. Hinter dieser Linie beginnt die Zuständigkeit der Berliner Stadtreinigung (BSR). "Die gehn doch nur spazieren, die Jungs von der BSR. Hier ist alles voll mit Glas, der Penner von der BSR läuft weiter. Ick mach dit dann weg, obwohl dit gar nich meene arbeit is, verstehste?"

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