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Darmstadts Gelb-Sucht ist keine Wettbewerbsverzerrung, es ist legitimer Abstiegskampf

Fünf Darmstädter Stammspieler holten sich gegen Leverkusen die fünfte gelbe Karte ab und fehlen absichtlich gegen die Bayern, um gegen Werder wieder auflaufen zu können. Wir sagen: Don't hate the player, hate the game.
Foto: Imago

Über das Ergebnis von Samstag spricht heute keiner mehr, dafür aber über fünf „fünfte" gelbe Karten. Nachdem sich Darmstadt 98 in der 77. Minute das 1:2 gegen Bayer Leverkusen fing, holten sich innerhalb von nur sechs Minuten vier Lilien-Kicker ihre fünfte Gelbe ab—zuvor hatte schon Jerome Gondorf den fünften Karton kassiert. Sie alle fehlen damit im Spiel beim FC Bayern und es steht eine große Frage im Raum: War das Absicht?

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Die Stammkräfte Gondorf, Sulu, Heller, Niemeyer und Rausch können gegen das wohl am schwierigsten zu besiegende Team der ganzen Liga verschnaufen und müssen keine Gelbsperre mehr riskieren. Eine Woche später spielen die Lilien gegen den direkten Abstiegskonkurrenten Werder Bremen in einem 6-Punkte-Spiel. Zwar bestätigte kein Darmstädter die Vorwürfe der Absicht, aber auch niemand von ihnen widersprach der These. Der Abstiegskampf wird eben mit allen Mitteln und ziemlich dreckig geführt—vor allem von Darmstadt 98.

Ihr Aufstieg wurde als Wunder, ihre Zweitliga-Rückkehr als todsicherer Tipp eingeordnet. Sie wehren sich seitdem mit allen erdenklichen Möglichkeiten gegen die Gesetze des Profifußballs und den prognostizierten Abstieg. Ihr Fußball ist dabei genauso hässlich wie konsequent. Nach der Hinrunde stand Darmstadt unter allen 98 Teams (!) aus Europas fünf Top-Ligen in zwei Kategorien mit Abstand auf dem letzten Platz: Die Lilien hatten nur 37,1 Prozent Ballbesitz und eine Passgenauigkeit von 56,2 Prozent. Diese zwei Statistikwerte geben viel Aufschluss über die Lilien-Spielweise—immer nach dem Motto „Hoch und weit bringt Sicherheit". Dieser Anti-Fußball geht auf: Darmstadt ist 13. und hat vier Punkte Vorsprung auf den Relegationsplatz—und sogar neun auf die direkten Abstiegsränge.

Die Lilien-Gegner müssen meist mit Bedauern feststellen, dass sich ihr Gegner Mitteln bedient, die in der Bundesliga nur noch selten zu sehen sind. „Wir wussten genau, dass sie viel über Standards kommen und viele Fouls begehen werden", klagte Chicharito ratlos nach der Hinspiel-Niederlage der Leverkusener. S04-Keeper Fährmann war nach dem 1:1 gegen die Lilien noch direkter: „Das ist Darmstadt, wir wussten, dass sie so spielen. Sie haben sich den einen Punkt erkämpft. Ob das auf diese Weise in Ordnung war, muss jeder von denen mit sich selbst ausmachen." Rudi Völler soll in der Halbzeit gar einen Spion beim Lauschen vor der Kabinentür erwischt haben. Schalke-Manager Horst Heldt fasste zusammen: „Sie haben das gemacht, was sie tun können." Aber sind fünf absichtliche gelbe Karten noch dreckig geführter Abstiegskampf oder schon Wettbewerbsverzerrung?

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Wagner trifft gegen Leverkusen zum zwischenzeitlichen 1:0 auf dem Darmstädter Acker (Foto: Imago)

Eigentlich ist es beides, doch es gibt keine Regel, die eine solche Absprache von Trainer und Spielern untersagt—auch wenn das Schonen von Spielern gegen Bayern ungern gesehen wird. Einen ähnlichen viel diskutierten Fall gab es nämlich schon mal ein paar Kilometer weiter in Frankfurt: Vor zwei Jahren schonte Eintracht-Trainer Armin Veh zwei Stammkräfte gegen die „unbesiegbaren" Bayern. Es hagelte daraufhin Kritik von vielen Fans und Experten, die SZ titelte gar: „Neue Dimension der Unterwerfung". Es ärgert also andere Mannschaften, doch im Abstiegskampf ist man sich selbst am Nächsten und das ist legitim.

In diesem Jahr sollte Bayern-Jäger Borussia Dortmund, der gegen Darmstadt nur Unentschieden spielte, das Vorgehen der Lilien-Kicker wenig gefallen. Der BVB schielt insgeheim noch auf die Meisterschale und hofft auf Ausrutscher des von Verletzungen geplagten Tabellenführers. Dafür braucht es motivierte und vor allem bestbesetzte Gegner. Das Prinzip des Schonens sowohl im Spiel gegen den abgeschlagenen Letzten als auch gegen den davongeeilten Ersten ist nicht neu, aber lässt sich auch nur mit einer ausgeglichenen Liga bekämpfen. Nun stellt auch Darmstadt den eigenen Ligaverbleib vor das sportliche Prinzip des Gewinnens. Die Kritik hält sich diesmal in Grenzen, weil man die Darmstädter verstehen kann.

Bei den Lilien wird dieses egoistische „Mittel" im Abstiegskampf anders als bei der Eintracht größtenteils vergeben. Die Eintracht wirkt wie ein Großer, Darmstadt wie der kleine Bruder von David im Kampf gegen viele Goliats. Sie beweisen schließlich Woche für Woche, dass sie diese kleinen Mittel auch für einen Ligaverbleib brauchen. Der nach Fußballromantik lechzende Fan drückt bei den Underdog-Lilien im millionenschweren Fußballbusiness ein Auge zu. Es sind scheinbar der wohlbekannte Fußballacker, die gescheiterten Talente im Lilien-Kader bei ihrem Zweitversuch Bundesliga und das marode Stadion am Böllenfalltor, die den meisten Fans näher sind als die reichen Superstars und Multifunktionsarenen mit importiertem Rollrasen.

Während die Millionentruppen von den Monopolymännchen Kind und Hopp unten im Keller rumgurken, heimst Darmstadt im Abstiegskampf die Sympathien ein. Eine ähnliche Gelb-Sucht von Hoffenheim wäre natürlich auch legitim—für die Fans aber wohl weniger romantisch… Wenn die Meisterschaft wieder spannungslos nach München geht, geben die Darmstädter den meisten Fans wenigstens das Gefühl zurück, dass im Sport irgendwie alles möglich ist, wenn man es mit allen nötigen Mitteln nur versucht. Vielleicht dann auch im nächsten Jahr wieder gegen die Bayern—und in Bestbesetzung.

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