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„Martial Hauntology“ bietet einen Einblick in die Geschichte von Klang als Waffe

Eine neue Vinylbox gibt einen Überblick über ein eher unbekanntee Genres: Die vielfältigen militärischen und polizeilichen Einsätze von Schall als Waffe.
Eine LRAD-Anlage auf einem Schiff. Bild: Tucker M. Yates/ Wikimedia Commons. Lizenz: Public Domain Mark 1.0 (US Navy)#

Kurz nach dem 13. Juni 2005 mehrten sich plötzlich die Berichte von einer neuen Waffe, die auf den Straßen Israels zum Einsatz kam. Der  Scharon-Plan zum teilweisen Rückzug und zur Neuordnung von Siedlungen in der West Bank wurde gerade umgesetzt—und plötzlich trat eine ganz neue Alternative zur Kontrolle von Gebieten auf den Plan, deren Wirkung der Toronto Star eindrucksvoll beschrieb:

„Deine Knie zittern, dein Kopf schmerzt, dein Magen dreht sich um. Plötzlich will niemand mehr demonstrieren."

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Der mittlerweile acht Jahre zurückliegende Einsatz ist nur eines der jüngeren Beispiele, bei denen Sound nicht zum kulturellen Vergnügen, sondern als Waffe eingesetzt wird. Das kürzlich von dem  Forschungsprojekt AUDiNT veröffentlichte Set Martial Hauntology (bestehend aus Vinylbox und Textbuch) bietet nun einen anschaulichen Überblick eines eher unbekannten Genres—die Geschichte des Einsatzes von Schall als Waffe.

AUDiNT steht für Audio Intelligence und besteht aus Toby Heys, Doktorand an der Universität Manchester, und Steve Goodman, auch bekannt als Hyperdub-Labelchef Kode9. Die beiden arbeiten schon länger die Geschichte von Soundwaffen auf und haben ihre Ergebnisse beispielsweise vor zwei Jahren in einem Vortrag und einer Ausstellung in Berlin vorgestellt. Heys beschreibt AUDiNT als „eine Forschungszelle, die untersucht wie Ultraschall-, auditiver Schall- und Infraschallfrequenzen zur Markierung und Abgrenzung von Territorien in unserer Klangwelt dienen, und wie ihre materiellen und zivilen Einsätze psychologische, physiologische und architektonische Zustände modulieren."

Nach 24 Stunden spielen Körper und Geist verrückt. Der Wille ist gebrochen. Dann gehen wir rein und reden mit ihnen.

Die Verwendung von Sound als Kriegswaffe mag nach Sciencefiction-Militärtaktik klingen, aber die Entwicklung reicht tatsächlich bereits viele Jahre zurück. 1944, als sich die deutsche Niederlage überdeutlich abzeichnete, kamen in Nazideutschland Gerüchte auf, dass Albert Speer persönlich Forschungsprojekte zur Erprobung von tödlichen Klangwaffen in Auftrag gegeben hatte. In einer  Folge der History Channel Serie Weird Weapons wird seine Entwicklung als Akustikkannone bezeichnet. Sie sollte durch das Entzünden eine Methan-Sauerstoff-Mixtur in einer Resonanzkammer eine Reihe von über 1000 Explosionen pro Sekunde auslösen. Durch die Verstärkung von großen parabolischen Lautsprechern hätte dies einen ohrenbetäubenden und zielgerichteten Schall verursacht. Die Nazi-Forscher hatten berechnet, dass die Waffe jede Person im Umkreis von 30 Metern durch das wiederholte Komprimieren und Entpannen innerer Organe innerhalb eines Zeitraums von 30 Sekunden töten könnte. Glücklicherweise wurde die Waffe nie auf dem Schlachtfeld eingesetzt.

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Lautstärke ist nicht alles

Aber reine Lautstärke ist nicht die einzige Form mit der Klang zur Kriegswaffe werden kann. In seinem Buch  Sonic Warfare, ein zentraler Text der zeitgenössischen Klangforschung, beschreibt Steve Goodman unter anderem das „Project Jericho." Dabei geht es um eine Form angewandter psychischer Kriegsführung, eine sogenannte PSYOPS Kampagne, während des Vietnam Krieges.

Goodman beschreibt insbesondere  eine bestimmte Militäroperation, die auch als Wandering Soul bekannt ist. Dabei reproduziert der „Curdler", ein an einem Helikopter befestigter Klangapparat, die Schreie und Rufe der verstorbenen Kameraden, von den sich im Dschungel versteckenden Vietcong. Die im Tiefflug abgespielten Klänge sollten die nach einem traditionellen regionalen Glauben nicht zur Ruhe kommenden verlorenen Seelen simulieren, und somit die abergläubischen Scharfschützen verunsichern. Auch wenn ihnen klar war, dass es sich um künstliche Geräusche handelt, bekamen sie es mit der Angst zu tun, und fürchteten, dass die Geräusche einen Vorgeschmack auf ihren Tod darstellten.

Sonic Apocalypse Now

Laut Goodman waren genau diese Operationen eine direkte Inspiration der vielleicht berühmtesten Szene aus Francis Ford Coppola „Apocalypse Now", in der eine Helikopterflotte im Anflug auf ihr Ziel mit voller Lautstärke Wagners Walkürenritt aus extra angebrachten Boxen tönen lässt.

Wagner mag nicht wirklich als Körperverletzung durchgehen, aber der Einsatz populärer Musik als nicht-tödliche Waffe geht deutlich weiter als Apocalypse Now. Im Jahr 2003 berichtete die  BBC, dass US-Ermittler Songs von Metallica, der Metalband Skinny Puppy und, nun ja, Barney und seinen Freunden benutzt haben, um den Willen irakischer Kriegsgefangener zu brechen. Wie Sergeant Mark Hadsell damals gegenüber Newsweek zu Protokoll gab:

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„Diese Menschen haben noch nie Heavy Metal gehört. Sie können das nicht aushalten. Nach 24 Stunden Dauerbeschallung beginnen dein Geist und die Funktionen deines Körpers verrückt zu spielen. Deine Gedanken werden langsamer und dein Wille wird gebrochen. Dann gehen wir rein und reden mit ihnen."

Die speziellen Foltermethoden führten auch zu einem bizarren Rechtsstreit, in dem es darum ging, ob für die während der Folter abgespielte Musik Lizenzgebühren an die Künstler fällig wären. Skinny Puppy schaltete sich ein und stellten dem us-amerikanischen Verteidigungsministerium umgerechnet fast eine halbe Millionen Euro  in Rechnung.

Der eingangs beschriebene Vorfall aus dem Jahr 2005 in Israel wiederum, zeigt erstmals die aktuell wohl modernste Form von Akustikwaffe im Einsatz: LRAD (Long Range Acoustic Device). Amy Teibel beschrieb damals für  Associated Press die durchdringende Wirkung des Systems: „Ein AP-Fotograf vor Ort sagte, dass er den Sound selbst dann noch hörte, nachdem er sich die Ohren zugehalten hatte." Die speziell auf einem Fahrzeug aufgebaute Waffe, die hier zum Einsatz gekommen war, wird für gewöhnlich meist im Kampf gegen die Piraterie auf hoher See eingesetzt. Die Anlagen können Klangwellen mit bis zu 150 Dezibel und einem Alarm ähnlichen Sound gezielt auf Menschenmengen feuern.

Die Opfer auf der Straße haben einen anderen Namen für die Waffe: „The Scream."

Eine LRAD-Anlage auf einem Schiff. Bild: Tucker M. Yates/ Wikimedia Commons. Lizenz: Public Domain Mark 1.0 (US Navy)

Es gibt auch Berichte von anderen taktischen Einsätzen von Klangwaffen durch die israelische Armee, wie zum Beispiel Flugzeuge, die in geringer Höhe über Siedlungen geflogen sind und dabei sogenannte  „Sound Bomben", wie der Guardian sie genannt hat, ausgelöst haben.

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Akustikwaffen beschränken sich aber bei weitem nicht auf den Nahen oder Mittleren Osten. Im Jahr 2004 hat die American Technology Corporation einen Deal mit dem US-Militär über die Lieferung von LRADs im Wert von  über 3,5 Millionen Euro an die Truppen im Irak.

Klangliche Crowd Control

Im Jahr 2011 und 2012 erreichten LRADs schließlich auch die USA selbst. Die Regierung rüstete mehrere Polizeieinheiten mit den Systemen aus. Die öffentlich wohl am meisten beachteten Einsätze ereigneten sich während der Occupy Wall Street und G20 Proteste in Pittsburgh. Erst vor sieben Monaten schließlich schloss der US-Hersteller der LRADs ein  Geschäft über knapp 3 Millionen Euro mit einem „Land des Mittleren Osten" über seine bis dato mächtigste Entwicklung ab: Das LRAD 2000X, welches alle bisherigen Modelle locker in den Schatten stellt und Soundwellen über 3500 Meter weiter schießen kann.

Trotz  anderer inländischer Einsätze ist die Ausbreitung der Technologie in Europa ist bisher nicht klar. So hat Großbritannien beispielsweise bisher noch nie eine Akustikwaffen zur Kontrolle von Menschenmengen eingesetzt, und der als Freund des Wasserwerfers bekannte Londoner Bürgermeister Boris Johnson, kapselte die Sound-Technik gleich als „Aprilscherz" ab—gleichzeitig jedoch gab ein anderer Politiker zu Protokoll, dass die Geräte zumindest während der Londoner Sommerolympiade 2012 einsatzbereit installiert worden waren.

Tatsächlich befindet sich in London  einer der wenigen Besitzer von LRADs außerhalb von Polizei oder Militär: Die Anschutz Entertainment Group, besser bekannt als Betreiber und Besitzer der O2-World. Ein besorgter Twitter-Nutzer hat ihre LRAD 500 Anlage einmal fotografiert, während sie unbeaufsichtigt vor der Halle rumstand. (Die O2-World gibt an, dass das System nicht hätte missbräuchlich zum Einsatz kommen können.)

Can only conclude from @O2 refusing to publicly answer whether this LRAD pic.twitter.com/T4DlEjXW could have been misused that the answer is yes

— esoteric affect (@piombo) 13. November 2012

Die Verwendung von Sound als Waffe scheint heute aktueller und relevanter denn je. Der zunehmende Einsatz von Akustikwaffen durch Militär- und Polizeieinheiten überall auf der Welt weist darauf genauso hin, wie auch der steigende Wert von LRAD Firmen auf dem  Aktienmarkt. Und die Veröffentlichung Martial Hauntology bietet uns nun in Form einer schicken Vinylbox auch im Heimbedarf einen Einblick in den aktuellen Stand der globale Verstärkung sonischer Kriegsführung.