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Erst schlagen, dann vertuschen: 1860-Fans verklagen die Bundesrepublik Deutschland

2007 schlugen bayerische Polizisten wahllos auf eine Gruppe Fußballfans ein. Die Staatsanwaltschaft wusste Bescheid, aber schützte die Beamten. Beweisvideos wurden vernichtet. Jetzt ziehen die Sechziger vor den Europäischen Gerichtshof.

Am 9. Dezember 2007 fand im Grünwalder Stadion in München das „kleine Derby" zwischen den Zweitvertretungen vom FC Bayern und 1860 München statt. Nachdem die Fans der Löwen noch eine halbe Stunde nach Abpfiff aus Sicherheitsgründen in der Westkurve verharren mussten und sich die Tore endlich öffneten, warteten einige Polizisten auf sie und schlugen wahllos auf die Fans ein. Dieser Fall erreicht jetzt den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte.

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Die Klage, die gegen die Bundesrepublik Deutschland erhoben wurde, kommt von zwei Stadionbesuchern und 1860-Fans. Beide wurden durch die Polizisten verletzt: Einem wurde Pfefferspray aus nächster Nähe in Gesicht und Augen gesprüht und mit einem Schlagstock gegen den Oberarm geschlagen. Der Zweite Kläger erlitt durch einen Schlagstock eines Polizisten eine Platzwunde am Kopf und musste ins Krankenhaus.

Der Vorfall wurde anschließend sogar von der Staatsanwaltschaft München bestätigt. So hat es laut ihr „Hinweise" darauf gegeben, dass „einzelne Beamte in unverhältnismäßiger Weise und ohne rechtfertigenden oder entschuldigenden Grund mittels Schlagstock auf unbeteiligte Besucher, zum Teil Kinder und Frauen, eingeschlagen hätten." Auch Marco Noli, Anwalt der Kläger, verurteilt im Gespräch mit dem Münchner Merkur das völlig unverständliche Verhalten der Beamten: „Es waren die harmlosesten der harmlosen Stadionbesucher."

Das Unfassbare ist jedoch nicht die polizeiliche Staatsgewalt und die nüchterne Bestätigung einer staatlichen Instanz wie der Staatsanwaltschaft, sondern die Einstellung der Ermittlungen. Das Problem: Beide Opfer konnten die Täter nicht identifizieren. „Sie gaben jeweils an, dass die Tat durch Polizeibeamte in dunklen Einsatzanzügen begangen wurde, die Helme trugen aber keinerlei Identifizierungsmerkmale wie Nummern", erklärt Anwalt Noli in einer Pressemitteilung.

Schon seit Jahren kämpfen vor allem Fußballfans für eine Kennzeichnungspflicht für Polizisten in ganz Deutschland. Diese gibt es in Bundesländern wie Bayern oder Sachsen nicht, da dort alle Mitglieder einer gewissen Untereinheit die gleiche Nummer tragen. Die in Bayern regierende CSU will dies vorerst auch nicht ändern. In Berlin, Brandenburg, Rheinland-Pfalz und Schleswig-Holstein tragen die meist hinter Helmen verborgenen Polizisten mittlerweile einen fünfstelligen und zufälligen Nummerncode auf ihrer Kluft, sodass bei möglichen Ermittlungen die Namen der Täter bekannt wären.

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Es geht den Klägern aber nicht nur um die Tat an sich. „Die durchgeführten Ermittlungen waren jedoch völlig unzureichend und führten nicht zur Ermittlung der Täter, die daher straflos blieben", erklärt Noli, der eine mögliche Befangenheit bei den Ermittlungen vermutet. „Eine Abteilung des Polizeipräsidiums München hat die Ermittlungen geführt, dasselbe Präsidium, dem auch die eingesetzten Beamten angehörten." Zudem seien die Originale der vorhandenen polizeilichen Einsatzvideos gelöscht worden, auf den Kopien fehlen die wichtigen Sequenzen. Pikant: Auch die Aufzeichnungen, wer die Videos gelöscht hat sowie sämtliche Computerdateien und Festplatten wurden ebenfalls gelöscht. „Es wurden also Beweismittel während laufender Ermittlungen vernichtet", fasst Noli zusammen.

Anscheinend möchten Bayern und die anderen Bundesländer, die sich einer individuellen Kennzeichnung von Polizeibeamten versperren, dass sich Deutschland in Fragen der Menschenrechte in diese Liste (Bulgarien, Türkei) ebenfalls einreiht. — Marco Noli

Doch diese Szenen, die eher an einen US-Thriller über korrupte Cops irgendwo weit entfernt vom beschaulichen Bayern erinnern, sind nicht die einzigen Mysterien rund um die Ermittlungen in diesem Fall. Die möglichen Täter gehören wohl zu drei möglichen Untergruppen des USK München. Doch nicht alle der etwa 30 Beamten wurden vernommen. Stattdessen kam es laut Kläger während der laufenden Ermittlungen zu einem Treffen von polizeilichen Ermittlern und den Einheitsführern, die an dem Einsatz der beteiligten Polizeibeamten teilnahmen.

Nachdem eine Beschwerde vor dem Bundesverfassungsgericht zuvor abgelehnt wurden und die Ermittler laut Anwalt Noli gegen die Mindestanforderungen einer zu gewährleistenden Ermittlung verstoßen haben, geht der Fall nun vor den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte. „Der Europäische Gerichtshof kann niemanden verpflichten, die Ermittlungen wieder aufzunehmen", erklärt der Anwalt. „Aber er kann Deutschland wegen der Nicht-Ermittlungen verurteilen, wenn er das als eine Verletzung der Menschenrechtskonvention sieht."

Nachdem die beiden Opfer acht Jahre auf eine ordentliche Aufklärung der Vorfälle während des kleinen Münchner Derbys im Jahr 2007 warten mussten, müssen sie sich nun mindestens drei weitere Jahre um eine Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs gedulden.

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