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Ein Fußballfan in Wimbledon

Unser Autor hat keine Ahnung von Tennis. Dafür erlebte er in Wimbledon die Harald Juhnke-Definition von Glück: Keine Termine und leicht einen sitzen.
Image via Wikimedia Commons user Gallowglass

Ich lebe mittlerweile seit über zehn Jahren in London und unterstütze einen der dort ansässigen Vereine (welchen verrate ich an dieser Stelle aber nicht). Ich habe schon jedes Premier-League-Stadion von innen gesehen und war außerdem auch schon in ein paar weniger erstklassigen Spielstätten.

Doch bis letzte Woche war ich noch nie in Wimbledon. Zumindest nicht zum Tennis. Vor ein paar Jahren war ich mal beim AFC Wimbledon im Stadion und habe miterlebt, wie sie vor heimischer Kulisse von Rochdale mit 0:3 abgewatscht wurden. Aber das Stadion liegt ja eigentlich eh nicht in Wimbledon.

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Also war es höchste Eisenbahn, meine Tennisjungfräulichkeit endlich abzulegen. Als dann noch der nette Wetterfrosch hochsommerliche Temperaturen versprach, habe ich mich Richtung Tennismekka aufgemacht.

DIE ANREISE

Als echter Fußballfan habe ich schon unzählige Zugfahrten hinter mir, meist eingeengt und ohne Sitzplatz. Auch wenn mich die peinlichen End-30er-Fans—die sich wie Kinder benehmen müssen und scheinbar eine Wette am Laufen haben, wer am respektlosesten über Frauen sprechen kann—ziemlich ankotzen, gehören Auswärtsfahrten einfach dazu und sind—unabhängig vom Ergebnis—eine geile Erfahrung.

Meine Anreise nach Wimbledon sah da schon etwas anders aus, obwohl auch sie in der Bahn begann, und zwar in der U-Bahn. Doch dieses Mal war der Zug leer und ich war nicht von singenden und biertrinkenden Fußballfans, sondern von einer amerikanischen Familie in Einheitskleidung umgeben. Die Kinder schauten gelangweilt in meine Richtung und die Eltern betrachteten das U-Bahn-Netz an der Wand, als seien es ägyptische Hieroglyphen, die es zu entziffern galt. Eine kreischende Stimme, die zu einer kreischigen Dame (auch aus Amerika) gehörte, wollte von ihrem Jimmy wissen, warum denn Wimbledon eigentlich nicht in Wimbledon läge, der vielsagend mit „Ist doch alles Scheiße" antwortete. Mal schauen, ob er Recht haben würde.

DIE SCHLANGE

Die Schlange in Wimbledon ist eine Sache für sich. Ich wette, es gibt sogar ein paar Leute, die nur ihretwegen kommen. Als die Amerikaner ausgestiegen sind, haben sie mindestens genauso verdutzt ausgesehen wie ich. Man stand nämlich schon kurze Zeit später inmitten eines riesigen Feldes, das nur hier und da in Form von Foodtrucks an Zivilisation erinnerte.

Besagte Schlange in all ihrer Schönheit. Foto: Autor

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Die Schlange ist in Wimbledon eine so große Sache, dass sie sogar in einer Broschüre—die man den Wartenden in die Hände drückte—als „die Schlange" Erwähnung findet, fast so als spräche man von einem Lebewesen. Ich war echt erschrocken, wie gesittet und geregelt hier alles vonstatten ging. Man setzte sich und unterhielt sich dann höflich. Dabei erfuhr ich, dass die Dame vor mir aus Japan kam und schon zum siebten Mal in Wimbledon dabei sein würde. Die Security-Schlägertypen waren in diesem Fall Damen zwischen 50 und 60, die mehr was von Landfrauen e.V. als Sicherheitspersonal hatten.

Also nichts mit Schubsen, Beschimpfen und der guten, alten omnipräsenten Schweiß- und Alkoholfahne, wie ich sie vom Fußball kannte. Auch wenn ich schon sagen muss, dass mir echte Emotionen und Kameradschaft schon ziemlich fehlten.

GETRÄNKE

Hier geht Wimbledon ganz klar als Sieger vom Platz. Spiel, Satz und Sieg. Ein klares Ass. So, mehr blöde Tennismetaphern fallen mir grad nicht ein.

Bei Fußballspielen wird mit mitgebrachtem Alkohol fast so umgegangen, als würde man mit einer undichten Tüte Milzbranderregern unterwegs sein. Kein Wunder also, dass sich so viele in Pubs rund um das Stadion volllaufen lassen.

In Wimbledon geht man mit dem Thema Alkohol deutlich offener um. Ja, du liest richtig: Hier darf man ohne Probleme trinken. Also hatten um mich herum auf der Wartewiese etliche Personen ein Bier oder Weinglas in der Hand. Sieh mal einer an: Wenn man Leute wie Erwachsene behandelt, verhalten sie sich auch als solche. Beim Fußball werden Fans meist wie Tiere behandelt, darum darf sich auch keiner beschweren, wenn sich dann mal einige genau wie solche aufführen, oder?

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Aber jetzt kommt das wirklich Verrückte: In Wimbledon darf man auch Alkohol (wenn auch nicht literweise) mit in die Stadien nehmen! Nein, das soll kein Scherz sein. In meinem Fall waren es zwei 0,5l-Büchsen Bier in der Kühltasche. So stieg meine Lust auf Tennis schlück-lich.

DIE BALLJUNGEN UND -MÄDCHEN

Jetzt wollen wir uns mal ein bisschen dem Tennis zuwenden, oder? Als ich so in der Sonne saß und mein kaltes Bier genoss, wollten die Spieler dann mal anfangen. Von mir aus.

Das erste, was mir auffiel, waren die Ballmädchen und -jungen. Ich kannte die kleinen Racker bisher nur aus dem Fernsehen, mit ihrem niedlichen Outfit und einem Antritt, von dem Usain Bolt nur träumen kann. Doch was mir bisher noch nicht aufgefallen war, ist die Tatsache, wie verdammt mechanisch die in „live" sind. Neben diesen Kids sieht sogar Djokovic wie das blühende Leben aus.

Hier sind drei Vertreter der kleinen Robotercrew. Foto: PA Images

Balljungen beim Fußball können richtige Kotzbrocken sein, die den Spielern der Auswärtsmannschaft nur zu gerne den Ball nicht geben. Manchmal kriegen sie dafür aber auch die Rechnung. Erinnert ihr euch noch daran, als Eden Hazard einem Balljungen von Swansea getreten hat, weil der den Ball nicht rausrücken wollte? Ein bisschen konnt' ichs ja nachvollziehen..

Ein solch schlechtes Verhalten wäre in Wimbledon undenkbar, zumindest vonseiten der Balljungen und -mädchen.

Djokovic entschuldigt sich nach seinem Ausraster bei einem Ballmädchen

Denn die wirken wie ferngesteuerte Roboter, die so gewissenhaft und ausdruckslos ihrer Arbeit nachgehen, dass man es mit der Angst zu tun bekommt. Bei mir was das auf jeden Fall so.

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DAS SPIEL

In Wimbledon gibt es unter den Zuschauern die—wie ich finde—kranke Tendenz, dem Favoriten, und eben nicht dem Underdog, die Daumen zu drücken. So auch bei meinem Spiel—der Zweitrundenpartie zwischen der Amerikanerin Bethanie Mattek-Sands, Nummer 158 der Welt, und Ana Ivanovic, Nummer 6 der Welt. Wollte man das Kräfteverhältnis beider Spielerinnen mithilfe von Fußballterminologie ausdrücken, würde ich sagen: Viertligist trifft auf Europa-League-Anwärter.

Mattek-Sands war von Anfang an die bessere Spielerin. Schnell sorgte sie für ein Break und spielte mutig nach vorne. Ivanovic dagegen wirkte irgendwie abwesend. Vielleicht lag es daran, dass ihr Lovebird, Bastian Schweinsteiger, im Publikum saß?

Mattek-Sands hat sogar ein schönes Blumen-Tattoo auf dem Unterarm, das einem VICE-Reporter natürlich gefallen muss, oder? Foto: PA Images

Obwohl die Serbin weiterhin uninspiriert spielte, galt ihr das Gros der Anfeuerungen im Stadion. Komisch, schließlich stand sie schon zweimal im Halbfinale von Wimbledon und konnte sogar schon mal die French Open für sich entscheiden, während Mattek-Sands bei einem Grand-Slam-Turnier noch nie über die vierte Runde hinauskam. Wie konnte man da nicht für den Underdog sein?

Als letzte Saison Chelsea vom englischen Drittligisten Bradford aus dem FA Cup gekegelt wurde, war wohl jeder in England (bis auf die Chelsea-Fans, versteht sich) für den Underdog. Was das betrifft, kann sich der Tenniszirkus noch einiges vom Fußball abschauen.

MEIN FAZIT

Wer hätte es gedacht: Tennis und Fußball unterscheiden sich grundlegend voneinander, was aber nicht bedeutet, dass man nicht voneinander was lernen könnte.

Ich fordere nicht, dass man in Fußballstadien wieder seine eigenen alkoholischen Getränke konsumieren darf (obwohl…). Was ich fordere, ist einzig und allein, dass man Fans wieder ein bisschen mehr Würde entgegenbringt, so wie ich es in Wimbledon erleben durfte.

Wimbledon-Fans hingegen sollten sich angewöhnen, nicht denen die Daumen zu drücken, die eh schon viel Erfolg (und Preisgeldeinnahmen) haben. Im Sport geht es um spannende Geschichten. Und Spannung kommt nicht auf, wenn Goliath immer David verdrischt. Außerdem wäre es schön, beim Tennis auch mal eine andere Hautfarbe als immer nur weiß zu sehen.

Wimbledon wird mich aber wiedersehen. Es hatte nämlich etwas unfassbar Entspanntes, umgeben von zahlreichen fast genauso leidenschaftslosen Zuschauern—und mit einem kühlen (und günstig im Supermarkt erstandenen) Bier in der Hand—in der prallen Sonne sitzend anderen Leuten beim Um-den-Ball-Rennen zuzuschauen.

Ganz nach der Juhnke-Definition von Glück: Keine Termine und leicht einen sitzen.