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Russland liebt Sex, aber hat keine Ahnung von Aids

Überall auf der Welt geht die Aids-Rate nach unten, nur in Russland ist der HI-Virus auf dem Vormarsch. Die Leute dort haben teilweise keine Ahnung wie der Virus übertragen werden kann und es existiert keinerlei Aufklärung über die Krankheit...

An einem untypisch sonnigen Morgen in St. Petersburg bekam der Künstler Nikolai Antonovich (nicht sein wahrer Name) von einer lokalen Klinik einen Anruf, in dem er gebeten wurde, sofort vorbeizukommen. Nachdem er mehrere Stunden im Warteraum verbrachte, rief eine Schwester seinen Namen auf, führte ihn in einen Raum und informierte ihn nüchtern darüber, dass er HIV-positiv sei. Sie las ihm dann mechanisch einen Gesetzestext vor, laut dem es nach russischem Gesetz verboten ist, mit einem anderen russischen Staatsbürger Sex zu haben, ohne ihm von der unheilbaren Krankheit zu berichten. Dann wurde er fröhlich seines Weges geschickt; ohne Medizin, ohne Beratung oder einen mitfühlenden Schulterklopfer. Der Prozess war so formal, routiniert und herzlos wie jede andere bürokratische Prozedur—als ob man ihm gerade gesagt hätte, seine Kreditkarte wäre nicht akzeptiert worden.

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Geschichten wie die von Nikolai sind erschütternd üblich. Zwischen 2001 und 2009 ist die HIV-Infektionsrate überall auf der Welt (inklusive Subsahara-Afrika, der weltweit berühmteste Hotspot für AIDS) um 25 Prozen​t zurückgegangen.

Außer in Russland, Osteuropa und Zentralasien, wo sie dramatisch gestiegen ist. Laut  UNAIDS-Merkblatt, ist die Anzahl von HIV-Erkrankten in diesen Regionen von 970.000 auf 1,4 Millionen zwischen 2001 und 2011 gestiegen. Hinzu kommen die mit AIDS in Verbindung stehenden Toten, die zwischen 2005 und 2011 ebenfalls von 76.000 auf 92.000 angestiegen sind. Als ob das nicht genug wäre, ist dank des immensen sozialen Stigmas der Krankheit nur ein Viertel aller Erkrankten in Behandlung. Dieser Region wird, laut UNAIDS, die zweifelhafte Ehre zuteil, „die einzige Region zu sein, in der das Vorkommen des HI-Virus stetig ansteigt".

Jedes Jahr verkündet die Regierung groß ihre Hingabe im Kampf gegen AIDS, ohne wirkliche Ergebnisse. Von NGOs gegründete und dem globale Fonds zur Bekämpfung von Aids finanzierte Programme wurden schon vor Jahren beendet. Hauptsächlich weil sich Russland selbst als Weltmacht sieht, welche an andere Länder spendet, und nicht selbst empfängt. Die russische Regierung möchte ihr Land als einen starken Weltanführer propagieren und ist scheinbar auch bereit, ein paar Tausend Tote dafür zu riskieren.

Dann ist da noch die generelle Abscheu des Landes vor Personen, die den Virus in sich tragen. Wie auch in den Anfangszeiten der Epidemie der 80er in den USA, werden Infizierte gemieden und wie Aussätzige behandelt. Gemeinsame Geschichten unter HIV-Positiven beinhalten verschwundene Freunde, von Partnern verlassen zu werden, plötzliche Kündigungen und Verwandte, die zu viel Angst haben, einem die Hand zu schütteln. Ein Mann mit dem ich sprach, konnte sich erinnern, dass er einmal einen Anhalter mitgenommen hatte. Nachdem er erwähnte, dass er HIV-positiv sei, sprang der Anhalter sofort aus dem fahrenden Auto.

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AIDS wird größtenteils als Krankheit von Drogennutzern gesehen; und Abhängige werden wie verachtenswerte Kriminelle behandelt—nicht wie kranke Personen, die Hilfe brauchen. „Die Meisten fühlen sich stigmatisiert und haben zu viel Angst davor, ins Krankenhaus zu gehen", sagte Anya Sarang, Präsidentin der Andrey Rylkov Stiftung für Gesundheit und soziale Gerechtigkeit der Washington Post. „Die Ärzte sagen, wenn die Personen ins medizinische System kommen, leiden sie bereits an einem fortgeschrittenen Stadium von HIV und Tuberkolose." Während einige Schmerzlinderungsprogramme in Russland „toleriert" werden, sagt sie, ist das Verwenden von Ersatzprogrammen wie der Einsatz von Methadon illegal. Die Regierung bleibt weiterhin bei der Ansicht, dass Programme für saubere Nadeln oder Substitutionsprogramme gesunde Leute nur dazu ermutigen würden, sich Heroin zu spritzen. Das passt ganz gut zur Regierungslogik der „liebevollen Strenge": Wenn du Junkies wie Scheiße behandelst, wird es die anderen davon abhalten, Drogen zu nehmen. Kein Wunder also, dass sich Menschen mit HIV in dieser Umgebung weigern, Hilfe zu suchen oder überhaupt jemandem von ihrer Krankheit zu erzählen.

Vielleicht ist das wichtigere—und noch weniger diskutierte—Problem auch, dass Russlands Schulen nicht einmal annähernd so etwas wie eine funktionierende Sexualaufklärung haben. Das war schon immer ein Problem—die Freundinnen meiner Mutter hatten in den 70er Jahren alle Abtreibungen, weil sie nicht wussten, wie Babys gemacht werden. Besonders problematisch ist es aber erst seit den späten 90ern, als die Schwangerschafts- und Geschlechtskrankheitsraten unter Teenagern in den Himmel schossen. Heutzutage steigt die Anzahl von sexuell übertragenen HIV-Ansteckungen ganz besonders rasant. (Zusätzlich ist es für Lehrer seit kurzem illegal, überhaupt über Homosexualität zu sprechen.)

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Für eine Nation, in dessen Milch-Werbung junge Mädchen oben ohne posieren, sind die Russen überraschend konservativ, wenn es darum geht, über Sex zu sprechen. Die sehr begrenzte Finanzierung der Regierung für HIV-Prävention konzentriert sich auf öffentliche Mitteilungen, die einen daran erinnern, dass man nur mit einem Partner Sex haben sollte, weil man sonst AIDS bekommt und stirbt. Niemand ist der Meinung, dass Kondome wichtig sind, besonders dann, wenn man von der Kraft der Liebe geschützt wird.

Als ich in Russland gelebt habe, war einen Typen dazu zu bringen, ein Kondom zu tragen, als ob man versucht, einem Chihuahua einen Wollpullover anzuziehen. Viele waren beleidigt, wenn ich darauf bestand, dass sie eins verwenden. „Ich bin kein Junkie oder so was",  sagten sie oft gereizt.

„HIV ist eine sexuell übertragbare Krankheit!", rief ich daraufhin und killte die Stimmung damit endgültig.

Um ehrlich zu sein, glaube ich auch nicht, dass Russen von dir abgeneigt sind—selbst wenn du AIDS hast. Eine Frau, mit der ich gesprochen habe, meinte, dass keiner ihrer Freunde ablehnte mit ihr zu schlafen nur weil sie HIV-positiv ist. Ich konnte mich nicht entscheiden, ob ich mich für sie freute oder nicht.

„Ignoranz ist das wirkliche Problem", erzählte mir Tanya. Sie entdeckte nach einer Schwangerschaftsberatung, dass sie HIV-positiv ist. Was im Übrigen ein üblicher Weg für russische Frauen ist, herauszufinden, dass sie das Virus in sich tragen. Eine Woche nach ihrem Termin bekam sie einen Anruf von einer gleichmütigen Schwester, die ihr sagte: „Sie müssen heute noch vorbeikommen. Ich kann ihnen nichts sagen, aber der Arzt wird ihnen mehr erzählen." Nachdem sie mehrere Stunden in der Schlange verbrachte, kam sie rein und fragte die Schwester  was los wäre. „Wissen Sie denn gar nichts über sich?", erwiderte diese. „Sie haben AIDS. Jetzt gehen Sie zu ihrem Arzt." Während sie zitternd und mit einer Zigarette im Mund den Flur entlangging, konnte Tanya nur daran denken, was nun mit ihrem Baby passieren würde. „In dem Moment, als ich das Arztzimmer betrat, konnte ich all die Diskriminierung, von der ich gehört hatte, nur durch seinen verurteilenden Blick spüren", erzählte sie mir. „ Er sagte mir, ich sollte eine Abtreibung durchführen. Mein Ehemann verließ mich, weil er dachte, ich sei entweder fremdgegangen oder ein Junkie." In Wirklichkeit hatte sich Tanya infiziert, als sie sich ein Tattoo in einem schäbigen Appartement stechen ließ. Sie wusste nicht einmal, dass man die Krankheit auf diesem Wege bekommen kann.

Die offensichtliche Lösung ist, die Öffentlichkeit mehr über HIV und dessen Ansteckungswege wissen zu lassen, allerdings ist dieses Konzept der russischen Regierung fremd. Als ich meine Cousine fragte, was die russische Übersetzung für „Bewusstsein fördern" ist, erzählte sie mir, dass es diese Redewendung im Russischen nicht gibt. Es gibt auch keine Pläne, ein umfassendes Programm für Sexualaufklärung aufzubauen. Die Politik der Regierung hinsichtlich Sex und Drogen scheint es zu sein, sie komplett zu ignorieren und jeden mit einem abweichenden Verhalten zu verurteilen. Das bedeutet, dass jeder mit einer HIV-Erkrankung an den Rand der Gesellschaft geschoben wird — und auch, dass es eine größere Chance für Leute gibt, sich zu gefährden ohne die Risiken zu kennen.

Das einzige was einige Russen tun können, ist, die momentane Situation müde zu belächeln. Als ich meine russischen Freunde fragte, ob sie irgendetwas über sexuell übertragbare Krankheiten in der Schule gelernt haben, sagten einige, „Nein, wir haben darüber etwas durch die bestmögliche Art und Weise gelernt: durch Erfahrung."

Diana Bruk ist freischaffende Autorin, die in St.Petersburg, Russland, geboren wurde und in New York City aufgewachsen ist. Du kannst ihr auf auf Twitter folgen: @BrukDiana