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The Fashion Issue 2012

Musikreviews

Hier sind unsere Reviews zu den wichtigen und beschissenen Neuerscheinungen des Monats

AGENT SIDE GRINDER

VCMG

CEREMONY

KRAZY BALDHEAD

Die Aufmerksamkeitsspanne des durchschnittlichen Fans von Die Antwoord reicht heute ja kaum noch aus, um sich ein YouTube-Video bis zum Ende anzuschauen. Wie soll man da ein weiteres ganzes Album kognitiv verarbeiten? Wenn man berücksichtigt, dass es wohl von Anfang an der teuflische Plan dieser Combo war, auch noch die letzten 20 Prozent der Teenager mit ADHS zu infizieren, dann muss man jetzt konstatieren: Die Hirnzersetzungs-Revolution frisst ihre Kinder. Schade, denn wer seinen hyperempfindlichen Trendsensor für einen Moment auf Standby schaltet, wird an dieser perversen Mischung aus Brostep-Rave-Rap, politischer Unkorrektheit und ultrahektischen Mortal-Kombat-Sounds nach wie vor gefallen finden können. Zumindest bis … huch! Eine neue WhatsApp-Nachricht! Gleich mal nachsehen … So, worum ging es doch gleich?

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ON THE RUN

Die Presseinfo schreibt diesem Album unter anderem auch Home-listening-Qualitäten zu. Diese werden aber wohl nur in den Haushalten eingelöst, in denen Musik vornehmlich als Zerstreuungsrauschen eingesetzt wird, während man dem Bonsai-Bäumchen beim Wachsen zusieht. Für den Clubeinsatz kann man diesem Werk die sich einer Minimal-Renaissance verdächtig machende Subtilität zusprechen, die auch schon aus den vorangegangenen Signaturen dieses Techhouse-Pin-ups herauszulesen war. Es ist der Sound der Nächte, deren Ablauf und Gestaltung man sich im Nachhinein als kultiviert und progressiv einredet, obwohl einem als Erinnerungshilfen nur ein bisschen saurer Mundgeruch und kalter MDMA-Schweiß bleiben.

LENNY SIMONE

GRIMES

Visions

Arbutus Records

Neulich hab’ ich geträumt, ich wäre in einem Raum eingesperrt, in dem pausenlos Musik von Bat For Lashes und Fever Ray gleichzeitig lief. Grimes stand am DJ-Pult und redete die ganze Zeit davon, dass sie Enya und Aphex Twin mixen würde, aber vermutlich waren nur ihre CD-Rohlinge falsch beschriftet und der Mixer kaputt. An die Wände waren umgedrehte Kreuze mit sehr bunten Wachsmalstiften gekrakelt und Kinderreime geschrieben, die statt i-Punkten kleine Pentagramme hatten. Als ich wach wurde, war ich so verstört, dass ich Sargeist-Platten in mehrstündiger Dosis brauchte, um wieder klarzukommen.

POST INTERNET

AGENT SIDE GRINDER

Hardware

Klangarkivet

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VCMG

Ssss

Mute

Martin L. Gore eines Tages zu Vince Clarke vermutlich so im Studio: „Fertig.“—„Das nennst du fertig? Das klingt nach einer Preset-Demo für eine Musikmesse.“—„Ey, ich hab’ mir voll Mühe gegeben.“—„Na ja, für eine dieser ostdeutschen Depeche-Mode-Partys in einer Mehrzweckhalle wird’s vielleicht reichen.“—„Du bist aber auch anstrengend. Hast du dir denn inzwischen wenigstens einen guten Namen überlegt?“—„Ich dachte, wir nehmen einfach unsere Initialen …“—„MLG & VC?“—„Na ja, du müsstest dein L weglassen …“—„Mein Markenzeichen weglassen? Bist du verrückt?“—„Eigentlich sollte ich deinen ganzen Nachnamen streichen, so wie das Machwerk hier klingt.“—„Schon gut. Steck’ dir mein L sonstwohin, aber lass’ uns endlich diese dämliche Platte rausbringen, ich muss meine Miete zahlen.“

FROHGE MUTE

KRAZY BALDHEAD

The Noise in the Sky

Ed Banger

Die Promo-Maschinerie von Ed Banger betont bei jeder Gelegenheit, dass ihr bisher eher mäßig erfolgreicher Schützling Krazy Baldhead zehn Jahre am Konservatorium Musik studiert hat. Der Überraschungseffekt, auf den man mit dieser Nachricht setzt, ist offenbar der, dass es auch im Hauptquartier des Pariser Maximalrave jemand geben soll, der etwas von Musik versteht. Das kann natürlich auch nach hinten losgehen. Denn, wenn man zehn verdammte Jahre studiert hat, nur damit am Ende ein gerade eben so halbgutes Kraftwerk-haben-einen-Gastauftritt-in-der-Sesamstraße-Geplänkel herauskommt, dann kann man ja nicht einfach sagen: Gut, werde ich halt doch Buchhalter. Vielmehr gerät man zwangsläufig in eine existenzielle Sinnkrise, muss sich in eine Blockhütte im Wald zurückziehen und dort an der Erfindung einer Zeitmaschine arbeiten, um dieses Album nachträglich zehn Jahre früher zu veröffentlichen.

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MARTY MCFLY

Wie du sicher weißt, folgen wir einer technischen Entwicklung, die dazu führt, dass immer größere Datenmengen in immer kleiner werdenden Geräten verwaltet werden können. Richte dich darauf ein, dass du die Digitalisierung der gesamten Menschheitsgeschichte in circa zwei Jahren in einem Tic Tac geliefert bekommst. Als Begleiterscheinung dieser Entwicklung ist es üblich geworden, dass Musiker im elektronischen Bereich optische Langeweile verbreitend auf irgendwelchen Bühnen stehen, ohne dass du auch nur einen blassen Schimmer hast, was sie da eigentlich machen. ASG dagegen fahren bei ihren Shows einen riesigen Technikpark von Vintage Synths und Loopmaschinen auf, der Kraftwerk aussehen lässt wie Minderbemittelte. Sie outen sich mit dieser Herangehensweise als überzeugte Anachronisten und zugegebenermaßen auch ein bisschen als arme Irre und sie legen hiermit ein neues Album vor, das krautiger und psychedelischer als ihre letzten Releases ausgefallen ist und zum absolut Besten gehört, was diese Typen bislang veröffentlicht haben.

ADAM RIESLING

MOTORPSYCHO & STALE STORLOKKEN

The Death Defying Unicorn

Stickman Records

In der langen Geschichte der populären Musik gibt es wohl kaum ein schlimmeres Reizwort als „Rockoper“. Hier treffen Hochadel und Gegenkultur aufeinander, um sich mit ihren Champagnergläsern zuzuprosten und die Differenzen der Vergangenheit unter einem einheitlichen Dresscode zu begraben. Motorpsycho, seit jeher für einen gewissen Hang zum ausufernden Epos bekannt, haben nun also eine solche Rockoper aufgenommen. Und gerade als man denkt, sie seien jetzt endgültig zu selbstverliebten, Anzug tragenden Arschlöchern geworden, da bemerkt man, wie die ersten Aristokraten unter den Einwirkungen der heimlich in den Veuve Clicquot gekippten K.o.-Tropfen zusammenbrechen. Und bevor man sich versieht, steht das ganze verdammte Opernhaus in Flammen, ein seltsamer Medizinmann tanzt auf dem Dach, hat sich ein Gitarrenkabel in den Arsch gesteckt und furzt die Marseillaise durch einen 4x12er-Marshall-Amp. Triumph auf ganzer Linie.

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DON JOHANNI

CHRIST OF KATHER/MARKUS MARIA HOFF

Das Oldschoolformat der Zukunft

Unundeux/Cargo

Aus der Asche der schon jetzt Legenden umrankten Japanische Kampfhörspiele erhebt sich hier deren Skelett, um weiter giftspritzend und säbelrasselnd durch das System zu spuken. Skelett darfst du lesen als: aufs Wesentliche reduzierte, auf den Punkt geprügelte Ausführung der JaKa. Nicht als: abgemagert. Das von Midtempo bis Hochgeschwindigkeit jede Genre-Nuance beherrschende Duo führt einen Sound weiter, der durchweg fett zu nennen ist. Die Themen bleiben brennend: der kapitalistische Marktterror, die Perversion des westlichen Wertesystems, die neue Heavy-Metal-Bürgerlichkeit. Vorgetragen in einem beißenden und manchmal auch nur lustigen Zynismus, der Hoffnung und Liebe als Reaktion auf die Dinge schweren Herzens als gescheitert betrachtet und der in seiner Durchschlagskraft dafür umso leidenschaftlicher ist.

MICHEL FOUCAULTHILA

CEREMONY

Zoo

Matador

Die eine Fraktion von Kriegern der Realness wird dumm aus dem gestärkten Wifebeater glotzen, weil sich auf diesem Album mal so gar keine klar definierten Mosh-Frontlinien abzeichnen wollen. Die restlichen Szene-Skeptiker werden dieses Ceremony-Album, wie auch die meisten davor, wie auch die Tatsache, dass die Band nicht mal ein Facebook-Profil betreibt, wie auch jede andere ihrer Haltungen für eine Pose halten. Schon absurd, dass die wenigen wesentlichen HardcorePunk-Alben dieser Tage eher außerhalb von HardcorePunk funktionieren. Und ein Glück, dass es eine neue Generation von wild pubertierenden, einen Scheiß auf das szenige Altherrengenörgel gebenden Draufgängern gibt, die dieses Album so feiern werden, wie es sich gehört.

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DEREK ZOOLANDER

THE CANCER BATS

Dead Set On Living

Hassle Records

Irgendwo im Internet erschien kürzlich ein Interview, in dem Cancer-Bats-Shouter Liam Cormier sich der Reihe nach zu den einzelnen Tracks des neuen Albums äußerte. Die Erläuterungen waren sehr aufschlussreich: „Also, in diesem Track geht es darum, wie beschissen die Welt ist. Und dann dieser Track, der ist ein dickes ‚Fuck you!‘ an die Welt. Und dieser Track, der geht raus an alle die unsere Musik nicht mögen: Fuck you! etc. etc.“ Jetzt ist das Album da und es hält von vorne bis hinten, was diese eloquenten Ausführungen versprachen. Das ist nicht ironisch gemeint, so ein wohl artikuliertes, treffendes „Fuck you!“ an die Welt, das muss man erstmal hinkriegen. Wenn ich mich etwas mehr mit der Welt identifizieren würde, dann wäre ich jetzt mächtig angepisst und würde die Cancer Bats zu einer Prügelei herausfordern (und mir umgehend eine feige Ausrede überlegen, um mir nicht den Arsch versohlen zu lassen).

WE ARE THE CHILDREN

MY BEST FIEND

In Ghostlike Fading

Warp

Es gibt etliche Bands, die ihre Walls of Sound so hoch aufschichten wie es diese Typen aus Brooklyn hin und wieder tun. Nur muss man jene bezichtigen, profanen PostRock zu praktizieren. My Best Fiend dagegen gehen eher mit der befreienden Genialität eines Michelangelo vor, sind also vielmehr dem RenaissanceRock zuzurechnen. Wenn ihnen demnächst diese bescheuerte Genrezuschreibung nachhängt, dann erinnere dich, wo du sie zum ersten Mal gelesen hast. Solltest du stichhaltigere Indizien brauchen, um MBF als eine der besten neuen Bands dieses Jahres zu akzeptieren, dann schau dir an, wo diese Platte erscheint. In einer Zeit, in denen du Reverb-Pedale wahrscheinlich schon bei Aldi kaufen kannst, wird Warp garantiert kein Flaming Lips und The Jesus And Mary Chain weiterdenkendes Album veröffentlichen, es sei denn, es gibt dafür triftige Gründe.

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PHIL SPECKGÜRTEL

FRANKIE ROSE

Interstellar

Memphis Industries

Nachdem wir die Presseinfo gelesen hatten (eine schlechte Angewohnheit, schon klar, aber bei einem Autounfall kannst du doch auch nicht wegschauen), gingen wir beim Einlegen der CD vorsichtshalber in Deckung. Wir vermuteten, dass eine unerträglich leicht bekleidete Madonna mitsamt einer Gefolgschaft aus eingeölten Lustsklaven aus dem Gerät herausspringt, sobald man auf Play drückt. Im Text ist die Rede von Glitzer, Glam und 80ies Pop. In Wahrheit macht Frankie Rose noch immer vieles von dem richtig, was auch schon auf ihrem Debüt ganz gut funktioniert hat (singen, bescheiden schöne Songideen entwickeln, Charme ausstrahlen), nur hat sie im Studio diesmal auch noch den letzten Rest Lo-fi-Patina entfernen lassen.

STEVE ALBINCHEN

SCHOOL OF SEVEN BELLS

Ghostory

Full Time Hobby

Hier ist einmal mehr zu hören, dass School of Seven Bells den gleichen Zuckerwatte-Dealer beschäftigen wie Röyksopp oder Goldfrapp. Ihr verhallt-pompöser Sound ist aber mittlerweile zu aufgeblasen, um ihm noch irgendwelche wirklich fesselnden Geheimnisse entlocken zu können. Andererseits ist er damit endlich durchgekaut genug, um von Madonna gecopypasted zu werden, die damit wiederum die geschätzt seit ihrer ersten öffentlichen Wichseinlage in Gaultier-Tittenkegeln unverändert nichtsahnende Berichterstattung legitimiert, sie würde „sich immer wieder neu erfinden“ und „exakt den Zeitgeist treffen“. Plattitüden, die bei dir, geschätzter Leser, natürlich längst sämtliche Warnblinkanlagen anwerfen.

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YELLO PRESSWURST

CURSIVE

I Am Gemin

i

Saddle Creek

Selbst wenn ich Cursive für die größte Band unter der Sonne und diese Platte für ihre beste überhaupt halten würde (beides nicht wirklich der Fall), so müsste ich an dieser Stelle doch zuallererst feststellen: Ein Konzeptalbum über zwei Zwillingsbrüder, von denen einer gut und einer böse ist, das ist eine so unfassbar dämliche Idee, dass man beim Hören ständig Angst haben muss, jeden Moment in ein Schwarzes Loch der totalen Einfallslosigkeit gezogen zu werden, wo man dann mit den restlichen Bandmitgliedern bis in alle Ewigkeit vor sich hin komprimiert, oder was auch immer sonst in Schwarzen Löchern Schreckliches passiert. Wer hätte gedacht, dass Langeweile so nervenaufreibend sein kann.

TONY HAWKINGS

SPIRITUALIZED

Sweet Heart Sweet Light

Double Six/Spaceman Recordings

ALEXANDER TUCKER

Third Mouth

Thrill Jockey

Musik für Mittelaltermarktplunzen mit Mut zum ganz großen Experiment (man kann ja zur Not Subway-to-Sally-Texte mitsummen). Musik auch für alle Befindlichkeitspuristen, denen die Tränenfeuchte aus dem Schnuffeltuch verdunstet, seit Bon Iver im Mainstream angekommen ist. Musik schließlich für Leute, die auch auf Hütchenspieler hereinfallen. Denn denen kann man es sicher als Avantgarde verkaufen, wenn zwischen den flehenden Falsettgesängen auch mal ein Analogsynthesizer leiert. Wir hoffen für dich, dass du zu keiner der Kernzielgruppen gehörst.

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GIB DEM AFFEN TUCKER

THE SHINS

Port of Morrow

Aural Apothecary/Columbia

Ich habe tatsächlich ein paar Freunde, die aus irgendeinem Grund immer noch Indierock hören. Halt, ich sollte es anders formulieren: Einige der Leute, die Indierock hören, sind aus irgendeinem Grund immer noch meine Freunde. Na ja, die erzählen mir auf jeden Fall, dass The Shins immer noch eine der besseren oder sogar besten Bands sind, die dieses Genre zu bieten hat, dass man bei ihren Songs total gute Laune bekommt und dass sie trotz interner Umbesetzungen und dem Wechsel zum Majorlabel jetzt wieder eine gute Platte gemacht haben. Ich kann dazu nichts sagen, da ich Indierock gegenüber völlig indifferent bin. Also gute Laune habe ich nicht bekommen, aber ich musste jetzt auch nicht kotzen oder so. Sieben Punkte, weil einige der Leute, die The Shins mögen, nach wie vor meine Freunde sind. Warum auch immer.

MARK ZUCKERBERG

RUE ROYALE

Guide To An Escape

Sinnbus/Rough Trade/Good To Go

Angesichts der Tatsache, dass es sich bei Rue Royale wie so oft in letzter Zeit—oder war das schon immer so und man hat es nur nie so richtig mitbekommen?—um ein musizierendes Ehepaar handelt, das gar zauberhaften Chamberpop mit einer stellenweise etwas zu großzügig ausgefallenen Portion Verspieltheit macht, stellt sich irgendwann unweigerlich die Frage, wie ihre Musik wohl klingen würde, wenn sie sich trennen. Denn was an sich natürlich eine zwischenmenschliche Katastrophe wäre, könnte in Anbetracht der aktuell vorliegenden Weich- und Geradlinigkeit ihres ersten Sinnbus-Releases durchaus interessant sein. Im derzeitigen Zustand ist

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Guide To An Escape

nämlich nur ein Lächelsoundtrack für glückliche Menschen, und das kann ja keiner ernsthaft wollen.

ANGELA SATAN

DAMIEN JURADO

Maraqopa

Secretly Canadian

Man sollte nie der dreisten Ansicht erliegen, schon alles von Damien Jurado gehört zu haben. Sein Gesamtwerk ist mittlerweile umfangreich genug, um damit deinen Plattenhändler k. o. zu schlagen und trotzdem sind auf diesem Album überraschende Töne zu finden, die sich wie eine milde Würze in seinen gewohnt knie- und herzweich machenden Songschmelz mischen. Beispielsweise, wenn er den Wüstenwind durch seine feurig angeschlagenen Akkorde wehen lässt, wenn er hin und wieder feingewebte Synth-Vorleger ausrollt, er plötzlich mit einem Bossa-Rhythmus um die Ecke tänzelt oder irgendeinen anderen Kniff findet, um Weltmusik nicht beschissen klingen zu lassen. Am Ende dann aber doch kaum überraschend:

Maraqopa

bleibt wie die meisten vorangegangenen Arbeiten Jurados schönstes Album, bis kurz darauf das nächste erscheint.

DSCHINN TONIC

Es soll ja Menschen geben, die DrugRock „SpaceRock“ nennen. Meinetwegen. Klingen tut’s trotzdem, immer noch und weiterhin wie die Beach Boys bei Nacht und nach dem vierten Longdrink. Der vorab schon veröffentlichte Track „Hey Jane“ jedenfalls ruckelt fast neun Minuten lang quer durch die Synapsen, und auch in den restlichen 50 Minuten vergeistigt sich neben den Lyrics so einiges. Das tollste daran: Nach spätestens einer halben Stunde ist einem fast alles in der Welt plötzlich völlig egal. Und das nicht auf der latent aggressiven „Leckt mich doch alle“-Ebene, sondern auf einer totalen „Ihr habt recht und ich meine Ruhe“-Entspanntheit. Hammond-Orgeln, große Gesten, Schlaghosen, Sixties, Zügellosigkeit. Und ganz nebenbei versteht man auf einmal dann auch all seine „White Hills“-Platten. Wie bei jedem guten Trip muss man natürlich auch hier auf die Katerkeule nicht verzichten und möchte sich irgendwann nach dem Runterkommen für seine gerade abklingenden Hippiefantasien am liebsten selber gegen das Schienbein treten.

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VINCENT GALLO

XIU XIU

Always

Bella Union

Wo Kaputtheit nicht nur ein aufgedrehter Verzerrer ist, wo Intensität nicht nur durch Brüllen erreicht wird, wo Provokation nicht nur Schock ist, sondern Inspiration sein will: Xiu Xius Zehnte. Verstörend as—Achtung—always, persönlich noch viel mehr, kryptisch as fuck, und diesmal trotzdem auf eine ganz unerwartete Weise zugänglicher. Zumindest für Jamie-Stewart-Verhältnisse. Thematisch also noch immer so, als bekäme man Dinge wie Inzest, Sexualität, Krieg, Mord, Abtreibung und mehr Trash-TV-kompatibles im Minutentakt per Faust in den Gehörgang geprügelt, aber diesmal sind die Fäuste wenigstens einmal vorher in Gleitmittel gewendet worden. Unklassifizierbar und eigenartig, klar.

KACKO FONI

EARTH

Angels of Darkness, Demons of Light 2

Southern Lord

SOAP & SKIN

To Forget

Solfo/PIAS

Deutlicher noch als alle vorangegangenen Releases des selbstvergessenen It-Girls aus der Steiermark gehört

Narrow

zu den wenigen Veröffentlichungen, deren Geltung sowohl Zillo-Abonnenten als auch Feuilletonschreiber mit dem eigenen Blut unterzeichnen würden. Soll heißen, dass Anja Plaschgs Score beides ist: formalästhetisch angstfrei den Genre-Klischees begegnend und in seiner Leidenstiefe nur sich selbst gehorchend. Er lässt sich damit sowohl beim Bügeln des schwarzen Rüschenmieders einsetzen als auch beim Knüpfen eines belastbaren Strickes. Und ob du es glaubst oder nicht: Selbst wir, Rohlinge, an denen alles ins prätentiös-pathetische ästelnde Liedgut abperlt wie Patchouli-Öl an einer Teflonpfanne, können bei dieser Katharsismesse zwischen Klavierseufzen und Industrialtektonik nicht durchgehend ungerührt bleiben.

MARLES CHANSON

Die Älteren unter uns werden sich noch an Earth als eine Band erinnern, deren Drone-Riffs einem pausenlos in die Eingeweide traten. Dass sie sich nun schon seit einiger Zeit in einem Sublimierungsprozess befinden, ist kein Geheimnis. Dieses „Angels/Demons“-Sequel aber schwebt so ätherisch im Raum, dass nicht mehr viel fehlt, bis es sich komplett in Luft auflöst. Aus dem Earth-Backkatalog ist das hier das Album, das am schlüssigsten und versöhnlichsten daran erinnert, dass die Zeit einfach irgendwann vorbei ist, in der man sich mit kindlichem Eifer im Dreck wälzt. Es ist das Album, das sich nach Jahren der Selbstfindung und des Reisens zu einem Besuch im Elternhaus einfindet und als Erstes diesen Sorgensermon von „Menschenskind, wie siehst du denn aus? Iss doch mal was, du brauchst was auf den Rippen!“ über sich ergehen lassen muss. Und auch wenn wir die Wirkung dieser nahkosmischen Blues-Mantras keinesfalls in Abrede stellen wollen, müssen doch auch wir uns der immerwährenden Gültigkeit folgenden Gesetzes unterwerfen: Mutter hat immer Recht.

SUGAR DADDY