Wien—Istanbul: #OccupyStadtpark

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Occupy Turkey

Wien—Istanbul: #OccupyStadtpark

Wegen den eskalierten Protesten in Istanbul gab es am Wochenende auch in Wien eine Solidaritätsdemo.

Stellt euch vor, Bundeskanzler Faymann würde von einem Tag auf den anderen verkünden, dass der Stadtpark in Wien plattgemacht und an seiner Stelle ein Einkaufszentrum im Stil habsburgischer Kriegsbarracken errichtet wird. Das wäre einerseits ziemlich absurd—aber andererseits ist auch schon Absurderes bei uns passiert. Vermutlich wäre es im Vergleich zu den wirklich schlimmen Vorkommnissen auf dieser Welt sogar so harmlos, dass die Menschen es mit einem Schulterzucken abtun und stattdessen einfach einen Leserbrief an die Krone (oder ein Troll-Posting ins Standard-Forum) schreiben würden.

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In der Türkei reagierten die Menschen Ende letzter Woche ein wenig anders. Allerdings sind die Demonstranten in Istanbul nicht verrückter als wir in Österreich. Stattdessen gibt es gute Gründe, warum die Bevölkerung auf das Vorhaben von Premierminister Erdogan mit etwas mehr als Leserbriefschreiber-Wut reagiert. Der Plan seiner Regierung, den Gezi-Park am Taksim-Platz niederzuwalzen und stattdessen eine Shopping-Mall im Stil ottomanischer Barracken hochzuziehen, steht für viel mehr als nur den Abriss einiger Bäume.

Zum einen ist der Taksim-Platz eine der letzten großen Grünflächen Istanbuls—und zum anderen sind die recht radikalen Vorstöße der Stadtplanung unter Erdogan nur eins von vielen Anzeichen für die durchgehend ziemlich antidemokratische Hardliner-Politik, mit der die türkische Bevölkerung Tag für Tag klarkommen muss.

Die Proteste von #occupygezi richteten sich daher nicht nur gegen ein Amt oder einen Beschluss. Sie waren auch nicht bloß Ausdruck eines baumumarmenden Aufbäumens von fanatischen Hippies. Sie waren Anzeichen des Widerstands gegen die Polizei, die Regierung, die Autokratie, den türkischen Staat und damit Grund genug für eben jenen, um den Demonstranten mit Tränengas versetztem Wasser den krieg zu erklären.

Am Wochenende gab es deshalb auch eine Solidaritätsdemo türkischstämmiger "Aktivisten" in eben jenem wohlbehüteten Wiener Gegenstück zum Gezi-Park, dem fröhlich vor sich hin grünenden Wiener Stadtpark. Wir haben uns mit den drei Organisatorinnen über ihre Beweggründe und Einstellungen unterhalten. Aber zuerst noch mal kurz jene Erklärung, die im Stadtpark anlässlich der Veranstaltung am Samstag vorgelesen wurde:

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„Eine friedliche Demonstration in Istanbul Gezi Park hat einen Stein in der Türkei zum Rollen gebracht, und das ist auch der Grund, weshalb wir uns hier versammelt haben.
Mitten in der Perle der Türkei liegt Taksim Square, und nahegelegen dazu einer der letzten Grünflächen Istanbuls: TAKSIM GEZI PARKI. Dies ist nicht nur ein wichtiger Verkehrsknoten, sondern auch ein internationaler Schmelztiegel aller Kulturen.
Zu den zahlreichen Einkaufszentren der Stadt (93 !!) soll noch eines dazu gebaut werden, genau in den Park. Ohne Kundgebung, ohne Volksbefragung, ohne jede Art von Informationsfluss. Die eigentlichen Betroffenen werden einfach ausgeschlossen.
Am Anfang war es nur eine friedliche Demo, um den Park zu schützen, um als Volk in das Vorhaben zu involvieren. Doch mittlerweile hat die Tatsache eine neue Wende eingenommen.

Um diesen Punkt genauer zu erläutern: Zwei Tage hintereinander wurde ohne Vorwarnung im Morgengrauen eine Razzia gegen friedliche Demonstranten im Park veranstaltet. Man hat ihre Zelte in Brand gesetzt und nachdem man sorgfältig alle Ausgänge versperrt hat, ist man aus jeder Himmelsrichtung mit Tränengas auf sie losgegangen. Nationale Medien mögen immer noch schweigen, doch durch die Bemühungen der Aktivisten über soziale Netzwerke fand ihr Hilferuf inzwischen weltweit Gehör. Durch Online-Streamings, Fotos, Videos wurden wir überall auf dem Laufenden gehalten.

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Am 31. 05. ging die Polizei eindeutig zu weit. Babys, Kinder, Senioren, Künstler, Arbeiter, Abgeordnete, Menschen aller Art waren in diesem Park, insgesamt mehr als 3000 Leute. Gegen 05:00 Uhr ging die türkische Polizei wie Maschinen und ohne jede Vorwarnung auf diese wehrlosen Personen los.

Damit nicht genug, wurden diese Menschen auch kilometerlang mit Tränengas verfolgt. Wände und Treppen sind eingestürzt und haben Menschen unter Ihrem Schutt begraben. Von Verletzten liest man die ganze Zeit, mittlerweile soll es auch schon Tote geben.

Medizinstudenten und Ärzte müssen sich gegenseitig aushelfen, da alle Zugänge für Rettung und Feuerwehr versperrt sind. Geschäfte, Cafés und Hotels in der Nähe des Platzes bieten Unterschlupf. Aber immer noch werden wehrlose Passanten willkürlich angegriffen.
Taksim Gezi war zu Beginn eine kleiner Protest von rund 50 Menschen. Heute sind es 50.000. Wir lesen von Anreisenden aus der ganzen Türkei und sogar weltweit. Diese Menschen schreiben Geschichte und machen den ersten Schritt für eine bessere und humanere Zukunft."

Weitere Informationen zum Protest aus Wiener Sicht findet ihr auf dieser Facebook-Seite.

Emel Öztürk:

Was war der Grund für dich, eine Solidaritätsdemo gegen die Polizei-Übergriffe am Taksim-Platz in Wien zu organisieren?

Als Architekturstudentin und Vorarlbergerin mit türkischen Wurzeln war ich an der Sache von Anfang an interessiert. Es fing mit dem Projekt für die Neugestaltung des Taksim-Platzes an, das dann zu einer Verpflanzung von Bäumen auf dem letzten grünen Fleck von Istanbul geführt hat und aus dem schlussendlich der heutige Taksim Gezi-Park geworden ist.
Die Versammlungsfreiheit ist ein Menschenrecht und die Demonstranten haben sich dort zusammengefunden, um zu zeigen, dass sie das neue Projekt nicht akzeptieren. Die Übergriffe der Polizei zeigen, dass Menschenrechte hier immer noch missachtet werden. Die Regierung akzeptiert keine Meinungsverschiedenheit. Das war wichtig genug für mich und für uns Architekturstudenten an der TU-Wien, um dagegen eine Aktion zu veranstalten.

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Hast du direkten Kontakt zu Leuten, die in Istanbul von der Polizeigewalt betroffen waren?

Ja, Freunde und Verwandte. Einige sind verletzt und im Krankenhaus. Seit gestern ist es beinahe unmöglich, mit denen in Kontakt zu bleiben, da sie keinen Zugang zum Internet mehr haben.

Bahar Tugrul:

Warum hast du persönlich diese Demo mitorganisiert?

Es ist so schwer einfach zuzusehen wie die Demonstranten in der Türkei Widerstand leisten und leiden. Die Polizeit ist erbarmungslos zu diesen Menschen, mittlerweile helfen den Polizisten auch die Erdogan-Anhänger. Die DÜRFEN mit den Polizisten die Protestanten angreifen! Die Demonstranten haben keine Waffen - NICHTS! Trotzdem werden sie angegriffen. Am liebsten würde ich Vorort sein. Daran ist aber nichts zu ändern. Wir haben uns mit Freunden zusammen gesetzt und beschlossen uns hier nützlich zu machen. Türkischen Medien haben Schweigepflicht, die sie auch einhalten. Wenn das so ist, werden wir es der ganzen Welt verbreiten!

Sind die Demonstranten in Istanbul auch sauer auf die Türkei-Politik in Syrien? Richtet sich ihr Protest auch gegen die syrischen Flüchtlinge, die seit dem Krieg die Türkei "überschwemmen"?

Nein, nein auf keinen Fall. Aber erwähnenswert ist, dass die türkische Regierung die Politik mit Syrien ausnützt als eine Stütze für sich selbst verwendet. Wisst ihr wo die Flüchtlinge untergebracht sind? In Izmir. Izmir ist eine Stadt, in der Erdogan nie die Mehrheit der Stimmen bei Wahlen bekommt. Aber genau diese Flüchtlinge sind jetzt für ihn potenzielle Stimmen!

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Cemile Cengiz:

Wofür steht aus deiner Sicht #occupygezi?

Die Porteste im Gezi-Park sind nun als Symbol einer Massenbewegung für Menschenrechte zu verstehen. Die Türkei soll eine Heimat für unterschiedliche Gedanken sein, für Menschen mit sehr unterschiedlichen politischen Einstellungen, für verschiedene religiöse Gemeinden, für Atheisten—für ALLE. Genau das möchten die Aktivisten hier unterstreichen: „Wir sind das Volk, wir halten alle zusammen, egal woher wir stammen, was wir glauben, was wir denken, denn eines haben wir alle gemeinsam das Recht zu sprechen, zu denken, zu leben; und dies darf von NIEMANDEM missachtet werden." Wir hier in Österreich unterstützen diesen Gedanken, und möchten die gesamte Bevölkerung Europas auf die Geschehnisse in der Türkei aufmerksam machen.

Hast du Freunde, die die Unruhen aus nächster Nähe mitbekommen haben?

In Izmir habe ich Freunde, die heute von Tränengas und noch einem undefinierten neuen Gas betroffen sind. Sie berichten, dass es schlimmer wie in Istanbul momentan dort ist, dass die Hölle ausgebrochen sei. In Istanbul sind sehr viele berühmte Menschen in dieser Hinsicht aktiv, sie halten uns auf dem Laufenden.

Hast du irgendeine Botschaft für unsere Leser, für die Demonstranten in Istanbul oder auch die Polizei und die Politiker in der Türkei?

Ich möchte noch mal alle darauf hinweisen, dass sie nicht alles glauben sollen, was momentan im Internet im Umlauf ist. Bitte glaubt und teilt nur Infos, deren Quellen euch bekannt sind.
Es war eine friedliche Demonstration und die Aktivisten versuchen dies erneut aufzurollen—darauf sollten auch wir uns konzentrieren. Nachdem sich die Polizei vom Taksim Square zurückgezogen hat, haben sich die Menschen dort versammelt und räumen jetzt den Platz auf. Das sind alles friedliche Menschen, die einfach nur Mitspracherecht haben möchten. Daran ist nichts Barbarisches, daran gibt es nichts Falsches. Daher sind die Razzien und die Gewalttaten der Polizei nicht zu entschuldigen und nicht zu dulden.

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Emel Öztürk

Emel Öztürk

Marko Chekk

Bahar Tugrul

Emel Öztürk

Bahar Tugrul

Emel Öztürk

Bahar Tugrul

Emel Öztürk