"Du bist der einzige nur Halbverblödete in diesem Scheißladen"
Illustrationen von Kurt Panzenberger

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literatur

"Du bist der einzige nur Halbverblödete in diesem Scheißladen"

Ein Auszug aus dem Roman 'Tito, die Piaffe und das Einhorn' von Christian Moser-Sollmann, exklusiv vorab bei VICE.

Tito, die Piaffe und das Einhorn erscheint am 21. September beim Dachbuch Verlag.

In meine heute tendenziell leicht weinerliche, der eigenen Liebesvergangenheit verhaftete Gedankenwelt versunken, sitze ich an der Bar und bestelle mein zweites Bier. Ein Hirter, ein Bier, so wie ein Bier schmecken sollte. Nicht zu malzig und fein hopfig und herb im Antrunk. Ich mag noch nicht heimgehen.

Ich kann noch gar nicht heimgehen, ich muss noch auf eine Geburtstagsparty. Auf die Party eines verheirateten Freundes, der nicht nur 32 wird, sondern der auch Bezirkspolitiker ist und zum ersten Mal Vater wird. Vater und Freund wäre ja super, aber Bezirkspolitiker verheißt nichts Gutes. Eine Festlichkeit mit Lokalpolitikern, wenigstens echte Wiener und keine Binnenmigranten. Dafür garantiert sinnlose Gespräche über die Wiener Lokalpolitik.

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Gibt es was Öderes als Wiener Bezirkspolitik? In Wien ist die Verwaltung des Bestehenden das einzige politische Ziel. Die Binnenmigranten kommen mit dem Wunsch, in eine Metropole zu migrieren. Sie bleiben mit der bitteren Erkenntnis, dass Wien nur ein Dorf wie das ihre ist, aus dem sie geflüchtet sind, mit dem Unterschied, dass es hier wenigstens öffentliche Verkehrsmittel gibt. Gottlob profitierte Wien unendlich vom EU-Beitritt.

Wien blüht nicht aus eigenem Antrieb. Erst durch mehr Osteuropäer, mehr Asiaten, mehr Zuwanderer wird es in Wien langsam erträglich.

Wien blüht nicht aus eigenem Antrieb, die Stadt wurde nur durch eine günstige Wendung des Weltgeistes dynamischer und lebenswerter. Erst durch mehr Osteuropäer, mehr Asiaten, mehr Zuwanderer wird es in Wien langsam erträglich.

Die Stadt wird lebenswerter, nicht wegen, sondern trotz der Wiener Politik, und über etwas Inexistentes wie die Wiener Politik muss ich heute noch quatschen. Ich muss zu einer Bezirksratsparty, ich habe es Bezirksrat Toni versprochen. Ich bin gestraft, ich bin verflucht, ich würde lieber sitzen bleiben, noch zwei Biere trinken und dann heimgehen und schlafen und morgen Zeitung lesen, Fußball schauen und eine Runde laufen. Eben all das tun, was der erwerbstätige Lohnarbeiter am Wochenende macht, um sich zu entspannen und am Montag wieder einigermaßen hergestellt für die Arbeitswelt zu sein. Das Wochenende hilft den Menschen, den Stumpfsinn zu vergessen. Die österreichische Innenpolitik ist am Ende.

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Während ich wortkarg an der Bar sitze und mir überlege, ob ich die Party nicht doch lieber spritzen sollte unter Aufwendung einer fadenscheinigen und wenig glaubwürdigen Ausrede, schnappt sich Atzgo seinen Barhocker und setzt sich neben mich. Das macht er öfter, nur in letzter Zeit war er ein bisschen aggressiv.

Er hat mich angestänkert, kleine Spitzen ausgeteilt, aber mir ist das egal. Erstens nehme ich ihn nicht ernst und zweitens leidet der auch an seinem Tagesjob. Da muss man manchmal seinen Frust an den Mitmenschen auslassen, ist sicher nichts Persönliches. Meistens steigert sich Atzgo in irgendeine Nebensächlichkeit rein, manchmal ist er gönnerhaft, manchmal jovial, manchmal einfach nur neugierig, manchmal euphorisch.


Etwas anderen Beobachtungen aus dem Nachtleben: Der echte "Nightcrawler" auf VICE


Heute strahlt er mich richtiggehend an: "Tito, du bist der einzige nur Halbverblödete in diesem Scheißladen. Das Einhorn ist verwunschen. Es wird auch dich verfluchen. Das meine ich als Kompliment. Schau dich um, die Leute hier sind alle lahm und fertig in der Birne. Du hast was drauf, mit dir kann man fein reden, du bist gebildet, du bist traurig, du bist lustig. Ich hab in diesem Loch jahrelang als Kellner gearbeitet, du bist nicht so kaputt im Herzen wie die anderen. Du bist früher nie ins Einhorn gekommen, obwohl wir uns seit Ewigkeiten kennen. Du verplemperst nur deine Zeit und wirst wie diese Deppen verkümmern. Ich glaube dir vieles, nur nehme ich dir nicht ab, dass du nicht zynisch bist. Du willst mir einreden, du bist affirmativ, doch du bist weder romantisch noch naiv."

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Natürlich sagt er so was nur, wenn er was getrunken hat, ich kann ihm seine Spötteleien nicht verübeln. Ich mag ihn. Den begnadetsten lebenden Popmusiker ohne Plattenvertrag, den Noch-nicht-Erben der Plastikdynastie.

Der hochtalentierte, sensible Industriellenspross. Der digitale André Heller. Der deshalb sein Leben als Telefonboy bestreitet und dabei langjährigen und restlos verkalkten Abonnenten einer großen österreichischen Zeitung einredet, nicht ihr Abo zu kündigen, weil diese kürzlich in dieser Zeitung gelesen haben, dass es anlässlich der neuen Aboaktion für Neuabonnenten das formschöne Kaffeeservice zu gewinnen gibt und sie als Altabonnenten ebenfalls dieses wertvolle Präsent besitzen möchten.

Es ist ein Witz, so der Tenor der Altabonnenten, dass nur Neukunden, nicht aber Stammkunden Abogeschenke bekommen, schließlich sind sie seit 20 Jahren treue Leser dieser österreichischen Traditionszeitung. Mit Abonnenten jeden Tag acht Stunden solche Dialoge zu führen, wenn man in seiner Freizeit der größte lebende Popstar Österreichs ist, verkraftet Atzgo nur schwer. Er hat also ein Recht, sich zu besaufen und sich mit kleinen Gemeinheiten von dem Unbill des Arbeitsalltags abzulenken. Triebabfuhr durch Sticheleien funktioniert prima.

Atzgos Ansatz ist radikal unösterreichisch. Stur wie ein beratungsresistenter Politiker veröffentlicht er alle zwei Jahre ein Album, verteilt dieses gratis an seine Kollegen und verschenkt die Musik im Internet, da er weiß, dass die Rezeption seines Werkes während seiner Lebenszeit nicht mehr stattfinden wird. Er kuratiert schon seine Nachlassverwaltung, er orchestriert seine Karriere für die Zeit nach seinem Tod. Atzgo denkt in Gesamtwerken. Er ist überzeugt, dass seine Musik erst ent­deckt werden wird.

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Atzgo schleimt mich an, keine Ahnung, warum Atzgo so betont freundlich zu mir ist. Beim letzten Gespräch meinte er, wir gehen nicht aus, sondern wir treffen einander nur zufällig. Dann reden wir halt, weil wir einander nicht anschweigen können. Er hat mich eine halbe Stunde genervt und absurdes Zeug behauptet. Ich kenne etwa die erste Platte der Band Black Flag nicht.

Natürlich sagt mir dieser Bandname nichts, was interessieren mich die Archive der Popkultur. Also versuche ich einen Themenwechsel. In Bars ist jedes Thema besser als Popmusik. Selbst die Bundesländerflüchtlinge haben alle gut sortierte Plattensammlungen. Niemand ist mehr peinlich und verteidigt offensiv seinen schlechten Geschmack. Sollte es noch jemanden geben, der ernsthaft Spaßmetal wie Rammstein hört, verschweigt er das. Dabei könnte speziell dieser fiktive, geschmacksfreie Konsument für sich schon wieder beanspruchen, antizyklisch vorne zu sein.


Apropos "Einhorn": Londons polyamoröse Einhorn-Bewegung auf VICE


"Atzgo, lass mal das Musikgerede, ich weiß, du sammelst alles noch auf CDs und alles, was gut ist, du besitzt eben ein Sammlerherz. Über Musik reden ist langweilig." Er rutscht nervös auf seinem Hocker herum und fährt sich durch seine Haare. Er kann nicht still sitzen und zerlegt einen Bierdeckel.

Er seufzt: "Okay, meinetwegen. Warum gehst du überhaupt in dieses beschissene Lokal? Das Einhorn ist ein verwunschener Ort. Fällt dir nicht auf, dass hier nur gescheiterte Existenzen herumhängen? Ich hab in dieser Bude sechs sinnlose Jahre lang gearbeitet, das Einhorn ist die Endstation für Leute, die sich nichts mehr erwarten. Du bist nicht fertig mit deinem Leben. Was treibt dich hierher?"

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"Also Einhorn als Lokalname finde ich schon mal nicht schlecht. Das Tier gilt als Symbol für das Gute, also kann das Einhorn kein verwunschener Ort sein. Ich glaube an Einhörner. Weißt du nicht, dass die Tränen des Einhorns die Versteinerung eines Herzens lösen können. Das wäre doch was, wenn sich die Versteinerung meines Herzens lösen würde."

"Tito, ich merke es durchaus, wenn du mich verarschst. Versteinerung des Herzens, was ist denn das für ein Blödsinn. Glaube mir, verlasse diesen Ort, bevor es zu spät ist, sonst wirst auch du verflucht."

"Mensch, bist du heute pessimistisch. Kommst du gerade von deiner Psychotherapeutin? Letztens wolltest du mir einreden, dass das menschliche Leben schon die eigentliche Hölle ist und der Tod die eigentliche Geburt. Was soll dieser Esoterikkram? Ich gehe einfach nur auf ein Bier nach der Arbeit hierher, weil mich die Leute in Ruhe lassen. Mich hat hier nie jemand schief angelabert. Das ist schon mal was. Ich erwarte mir nichts mehr vom Ausgehen, dafür sind wir zu alt, Atzgo."

Schau dich um. Alle sind gut und korrekt angezogen, alle kennen die Quellen, und doch passt nichts zusammen, und sie verstehen nicht, warum etwas gut und wichtig ist.

Was soll dieser schwermütige Quatsch? Ich hab weder Lust, über Musik zu sprechen noch über verwunschene Orte nach­zudenken. Hätte ich Atzgo nicht zugetraut, dass er so spirituell angehaucht ist. So leicht kann er mich nicht ärgern.

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"Verrate mir lieber was anderes, du bist belesen. Was ist überhaupt der Unterschied zwischen den Begriffen Kanon, Tradition, konservativ und reaktionär? Was findest du das beste Wort?"

Atzgos Augen lachen hocherfreut. Sinnlose Themen diskutiert er bevorzugt. Er verwendet gerne Wörter, deren Klang er mag. Er sagt Sachen, weil sie gut klingen, nicht weil er sie ernst nimmt. Seinem Mundwinkel nach zu schließen habe ich sein Interesse geweckt.

"Als ehemals stigmatisierter, im Feuilleton gerade schwer angesagter Begriff ist konservativ schon wieder durch, mit reaktionär kannst du besser anecken, du willst doch nicht bei Cioran und den anderen Rumänen abkupfern. Traditionalismus finde ich schärfer als Begriff, weniger bemüht, du bewegst dich einfach innerhalb der Tradition eines Kanons, in der du dich heimisch fühlst. Tradition ist das, was die Leute verste­hen, die nicht abgestumpft sind und eben zwischen den Zeilen lesen können. Schau dich um. Alle sind gut und korrekt angezogen, alle kennen die Quellen, und doch passt nichts zusammen, und sie verstehen nicht, warum etwas gut und wichtig ist. Auch wenn die Archive offen sind, Wissen entsteht erst in der gekonnten Kontextualisierung. Aktive Aneignung ist heute das Schwierigste überhaupt. Die Auskenner erkennst du nicht mehr an der gleichen Garderobe. Aber du und ich wissen den­noch sofort, wer was taugt und wer nicht. Lass uns Traditionskompanien bilden. Traditionalismus ist ein sperriges Wort, warum fragst du überhaupt so einen Quatsch?"


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