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15 junge Leute in Stuttgart stehen heute vor der Obdachlosigkeit

Weil ihr Haus heute zwangsversteigert wird, müssen sie vielleicht bald wieder in dem Park leben, in dem sie sich kennengelernt haben.

Frodo (22), Alex (29), Chainne, Kobolt (25), Flozi (17) und Damon | Alle Fotos von der Autorin

Wenn du auf der Straße lebst, können dir eine Menge mieser Sachen passieren. Neben pädophilen Arschlöchern und Drogen gibt es eine ganze Menge Irrer mit kranken Ideen. Kobolt (25) ist im Schlaf mal angezündet worden. An diesem Samstagnachmittag sitzen er, Flozi (17), Frodo (22) und Alex (29) in seinem Zimmer in Stuttgart und haben Angst, wieder auf der Straße zu landen. Am Donnerstag soll das Haus, in dem sie mit elf weiteren Freunden seit zwei Jahren leben, zwangsversteigert werden. Wenn ihnen nicht bald etwas einfällt, landen sie ziemlich sicher wieder auf der Straße. Ihr Problem ist, dass sich für ein paar ehemalige Straßenkinder nicht viele Leute interessieren.

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Die Wände in Kobolts Zimmer sind vollgemalt, das abgeratzte Sofa auch. Der Tisch ist ziemlich vollgestellt. Aschenbecher, Tabak, Stifte und Kekse. Es ist nicht die unordentlichste WG. Alex rührt in seinem Milchkaffee, die anderen rauchen ihre Selbstgedrehten. Nebenbei erzählen sie, wie sie in den vergangenen Monaten lernen mussten, dass es nicht gut für sie aussieht. "Der Mietverein konnte uns nicht helfen, die Caritas auch nicht", sagt Alex. Ihr Pech ist, dass der Vermieter pleite ist.

Ihre letzte Hoffnung sehen sie in einer Crowdfunding-Kampagne. Würden Leute genug Geld spenden, würden sie ein Haus kaufen. Denn dass ein neuer Eigentümer sie hier weiter wohnen lässt, erscheint ihnen eher unwahrscheinlich. "Wir bekommen viel positive Resonanzen von außen, aber die Zeit ist knapp. Wir hängen ziemlich in der Luft", sagt Alex, der die Spendenseite aufgesetzt hat.

Das Wohnhaus aus den 50er Jahren im Stuttgarter Stadtteil Degerloch ist ziemlich abgewohnt. 15 junge Leute mit fast genauso vielen Hunden leben hier in fünf Wohnungen. Äußerlich fällt das Haus ein bisschen aus der Reihe in dem ordentlichen Wohngebiet, wo jeder Rasen auf gleicher Höhe gemäht scheint. Über einem der Balkone prangt in großen Lettern A.C.A.B., der Rasen hinter dem Haus ist nicht gemäht. Auch dass hier Leute wohnen, die viele wohl als "linke Zecken" bezeichnen würden, ist für den bürgerlichen Stadtteil ein bisschen Revolution. Doch die Nachbarn hätten sich langsam an sie gewöhnt, sagen alle aus der Reutlinger Straße 72. So laut wie am Anfang gehe es bei ihnen auch nicht mehr zu. "Wir haben uns mittlerweile echt gerafft", sagt Kobolt, die Anderen grinsen.

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"Fast alle, die hier wohnen, haben sich vor ungefähr fünf Jahren im Schlossgarten kennengelernt. Wir haben alle Platte gemacht und der Schlossgarten war unser Wohnzimmer", sagt Kobolt. Der Stuttgarter Park ist seit jeher Treffpunkt für obdachlose Jugendliche. Auch wenn es da im Sommer ziemlich schön ist: Das Leben auf der Straße hat in der Realität selten etwas von der Romantik eines John-Steinbeck-Romans. Und das liegt nicht nur daran, dass in Deutschland das Wetter nicht ganz so gut ist wie in Kalifornien. Neben psychischen Problemen, Krankheiten und Drogen sind es laut Alex vor allem sexuelle Übergriffe, Raub und Misshandlungen, denen sie auf der Straße ausgesetzt sind. Zu Hause sei es für viele nicht besser gewesen. In ihrer Gruppe fühlten sie sich sicher, haben aufeinander aufgepasst. Ein Dach über dem Kopf und ein Bett wünschten sie sich verständlicherweise dennoch.

"Ein Kumpel hat uns irgendwann erzählt, dass sein Vermieter ein Haus hat, das leer steht, und den Kontakt hergestellt", sagt Alex. Also haben sie sich ins Zeug gelegt. Nachdem klar war, dass das Jobcenter die Mieten übernimmt, konnten sie schließlich vor zwei Jahren einziehen und als Gruppe zusammen bleiben.

Dass das Haus nicht in einem Top-Zustand war, sei ihnen klar gewesen. Doch sie waren zunächst einmal froh, nach Jahren auf der Straße wieder ein Dach über dem Kopf zu haben und vor allem ihre Hunde mitnehmen zu können. Das sei bei den meisten Wohnungen nämlich die Schwierigkeit.

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Über die gravierenden Mängel am Haus habe der Vermieter sie vorab nicht informiert. "Die haben wir erst nach dem Einzug bemerkt", erklärt Kobolt. "Ein Boiler war defekt, es roch immer wieder nach Gas, teilweise funktionierten die Heizungen nicht. Einige Wohnungen hatten kein Wasser und in einem Raum gab es Stromschwankungen", sagt Alex und lacht. Sie nehmen es mit Humor. "In dem Zustand wäre hier keine Familie eingezogen", sagt er. Was Alex und die anderen selber machen konnten, haben sie gemacht. "Ich habe zur Sicherheit einen Spannungsschutz eingebaut", sagt Alex.

"Unser Vermieter sagte, wir sollen ihm ein Jahr Zeit geben, dann habe er seine Schulden bezahlt und kümmere sich um das Haus", erinnert sich Alex. Als nach dem Jahr sowie in den folgenden Monaten trotz ihrer Nachfragen nichts passierte, wurde das Verhältnis zum Vermieter schlechter. Die Kommunikation lag auf Eis. Im Oktober bekamen sie dann ein Schreiben, das die Zwangsversteigerung ankündigte. "Wir haben lange überlegt, was wir machen sollen".

Dass Mieter tatsächlich ein Problem haben, wenn ein Haus zwangsversteigert wird, bestätigt auch Angelika Brautmeier. Die Geschäftsführerin des Mietervereins in Stuttgart sagt: "Der neue Erwerber hat ein Sonderkündigungsrecht." Nach dem Zuschlag könne er den Mietern mit einer Dreimonatsfrist kündigen. Doch einen Freifahrtsschein habe er nicht. "Modernisierung ist beispielsweise kein Kündigungsgrund. Die kann man auch machen, wenn die Leute noch drin wohnen", sagt Brautmeier.

Der verschuldete Vermieter hat das Wohnhaus ziemlich verfallen lassen. In den gerichtlichen Gutachten steht, dass das Haus "stark abgewohnt" und in "einem sehr schlechten Zustand" sei. Dennoch hat er vom Jobcenter durchschnittlich 400 Euro Kaltmiete pro Zimmer kassiert. Vermietet hat er 15 Zimmer an die Stadt. In einer Wohnung im Erdgeschoss wohnt eine ältere Dame. Mit der verstehen sie sich laut Alex gut. "Die war froh, dass endlich Leute ins leere Haus gezogen sind."

Viele Nachbarn akzeptieren sie mittlerweile. "Die Leute sind hier total hundefreundlich", sagt Flozi. "Manche wollen sogar Fotos mit uns machen." Mit 17 Jahren ist die Polizistentochter das Küken in der WG. Sie hat gerade ihren Realschulabschluss gemacht. Auch Andere im Haus kümmern sich langsam um Schule und Jobs. Das wäre sicher nicht passiert, wenn sie noch auf der Straße wären. Dahin zurück wollen sie auf keinen Fall. "Wenn wir nicht bald ein wenig Hilfe bekommen, sind wir im Arsch", sagt Alex.