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Neue Männlichkeit

"Hey, Süße! Geiler Arsch!" – Eine wissenschaftliche Erklärung für Catcalling

Warum pfeifen Männer Frauen nach? Denken manche wirklich, dass diese Art von Anmache charmant ist und gut ankommt? Wir haben nachgefragt.

Dieser Artikel ist Teil unserer Reihe "Neue Männlichkeit".


Wenn ich an einer größeren Gruppe von Männern vorbeigehen muss, habe ich nicht selten ein ziemlich ungutes Gefühl. Viel zu oft weiß ich – wie so viele anderen Frauen auch – schon vorher, was gleich kommt: Ich gehe also so schnell wie möglich an den Typen vorbei, versuche dennoch, entspannt und gleichgültig zu wirken und konzentriere mich darauf, keinem von ihnen in die Augen zu schauen, damit sich auch wirklich niemand motiviert fühlen kann, mich anzusprechen.

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Funktioniert diese Strategie nicht und schaue ich nicht beschäftigt oder abwesend genug, höre ich als nächstes oft Dinge wie "Hey sexy Lady, setz dich zu uns!", "Hallo schöne Frau!" oder auch nur Schmatzgeräusche und Pfeifen. Und damit ist es meistens nicht getan. Besitzt man die Frechheit, auf die Rufe nicht einzusteigen, folgt nicht selten ein genervtes: "Danke könntest du aber schon sagen!" Zeigt man dann sogar den Mittelfinger oder sagt den Typen, sie sollen einen in Ruhe lassen, wird man fast immer und naturgesetzartig als "Schlampe" bezeichnet. Mir ist alles davon bereits passiert – und das Wenigste davon nur einmal.

Jedes Mal wieder frage ich mich, was Männer mit einem derartigen Verhalten bezwecken wollen. Vor allem, weil ich mir keinen einzigen derartigen Fall vorstellen kann, in dem jemals eine Frau positiv reagiert, sich bedankt und nach der Telefonnummer eines der Typen gefragt haben könnte. Vielleicht geht es – wie so oft bei männlichem Dominanzverhalten – aber ohnehin nicht um die Frauen und ihre Gefühle, sondern ausschließlich darum, "Mut" zu demonstrieren und sein Revier zu markieren.

"Manchmal bleiben auch Autos stehen und Männer fragen uns, ob wir nicht einsteigen wollen. Das ist dann schon echt unheimlich."

So ziemlich jede meiner Freundinnen hat ähnliche Erfahrungen gemacht. Eine erzählt mir, dass sie früher aus Angst einfach überhaupt nicht reagiert habe, vor allem weil sie in solchen Situationen fast immer alleine einer ganzen Gruppe von Männern gegenüberstand. "Mittlerweile pfeife ich aber auch selbst zurück und versuche, die Typen, die so etwas machen, dadurch mit sich selbst zu konfrontieren – mit einem Augenzwinkern, wenn möglich", sagt sie. "Dann ist meistens wieder Ruhe."

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Auch eine ganz andere Qualität von Belästigung kann in solchen Situationen passieren. "Manchmal bleiben auch Autos stehen und Männer fragen uns, ob wir nicht einsteigen wollen", erzählt sie weiter. "Das ist dann schon echt unheimlich. Manchmal bekomme ich auch Dinge über mein Aussehen zu hören und wenn ich dann nicht reagiere, schreien sie mir nach, dass ich ohnehin hässlich und noch dazu undankbar sei."

Fragt man nach, wie sich Frauen in solchen Situationen fühlen, fallen die Antworten ähnlich aus: Die Situation wird als unangenehm empfunden, man beschleunigt den Schritt und fühlt sich ein Stück weit hilflos. Redet man zurück, erntet man oft nur spöttisches Lachen.


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Der Schweizer Autor Oliver König behandelt genau dieses Thema in seinem Buch Macht in Gruppen: gruppendynamische Prozesse und Interventionen. Er erklärt die Position von Frauen in der Gesellschaft als "unterlegen". Diese Definition einer "Unterlegenheit" ist wiederum an die "Überlegenheit" der männlichen Position gebunden – und umgekehrt. Das bedeutet, damit die "Überlegenheit" der männlichen Position immer wieder reproduziert werden kann, ist die reale Anwesenheit der "unterlegenen" Position notwendig.

Das unterstreicht die Vermutung, dass Männergruppen, die Frauen durch Nachpfeifen und dumme Sprüche abwerten, das lediglich tun, um sich selbst besser, stärker, überlegener zu fühlen – und vor den anderen Mitgliedern der Gruppe ihre Position als Alpha-Männchen zu stärken. Doch dieses Verhalten ist in den Augen der Forschung nicht das einzige, das Männergruppen von Frauengruppen unterscheidet.

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Generell würden sich Männer untereinander anders verhalten als Frauen innerhalb reiner Frauengruppen, sagt Eva-Maria Schmidt, Universitätsassistentin am Institut für Soziologie an der Universität Wien mit Schwerpunkt auf Männlichkeitsforschung im Gespräch mit VICE: "Studien haben gezeigt, dass soziales Handeln von Männern vor allem innerhalb von Männergruppen, sogenannten homosozialen Feldern, sehr viel stärker kompetitiver Art ist. Soziales Handeln von Männern ist insgesamt deutlich stärker als Risikohandeln einzustufen als bei Frauen. Diese Praktiken wurden auch mit 'ernsten Spielen des Wettbewerbs' verglichen."

Die These besagt, dass der Wettbewerb ein wichtiges Instrument der männlichen Sozialisation ist – in diesem Fall möglicherweise der Wettbewerb darum, wer sich traut, die meisten Frauen anzusprechen. So werde die Bande unter Männern gestärkt. Grund für dieses Verhalten sei laut Schmidt die Sozialisation von Männern in unserer Gesellschaft: "Von Beginn an lernen und imitieren Jungen dieses Verhalten. Sie haben in homosozialen Gruppen im Verlauf ihrer Sozialisation viel häufiger die Gelegenheit zu lernen, wie man in hierarchischen Strukturen agiert."

"Männer sind in stärkerem Maße auf die reale Anwesenheit von Frauen angewiesen, um die Rollenspaltung aufrechtzuerhalten."

Warum dieser Sozialisationsprozess letzten Endes zur Folge hat, dass Männer in Gruppen Frauen nachpfeifen oder beleidigende Bemerkungen machen, erklärt Schmidt mit der Theorie der "hegemonialen Männlichkeit" nach der australischen Soziologin R. W. Connell: So würden Burschen und Mädchen von klein auf lernen, dass es männlich ist, Weibliches abzuwerten. Daraus resultiert eine bestimmte Form männlichen Verhaltens – die "hegemoniale Männlichkeit" – die als Ideal gilt. Bei Catcalling gehe es der Expertin zufolge also nicht nur um Machtdemonstration gegenüber Frauen, sondern auch um Demonstration von Männlichkeit innerhalb des homosozialen Feldes.

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Ein anderer wesentlicher Unterschied zwischen Männer- und Frauengruppen soll laut Oliver König außerdem der Umgang mit Situationen sein, in denen das andere Geschlecht nicht anwesend ist. Während Frauen die Abwesenheit von Männern eher als positiv erleben, würden Männer durch die Abwesenheit von Frauen eher verunsichert. "Sie sind in stärkerem Maße auf die reale Anwesenheit von Frauen angewiesen, um die Rollenspaltung aufrechtzuerhalten", schreibt König.

Männer pfeifen oder rufen uns also in der Regel nicht nach, um uns aufzureißen. Sie rufen uns nach, um sich männlich zu fühlen – gegenüber uns Frauen und ihren Freunden gleichermaßen. Sie wollen ihren Freunden beweisen, dass sie es verdient haben, in der Hierarchie über ihnen zu stehen. Und sie wollen beweisen, dass sie echte Männer sind.


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Diese Vorstellung von Männlichkeit als Konzept der geschlechtlichen Überlegenheit, die indirekt Catcalling rechtfertigt, ist mehr als problematisch. Auch deshalb, weil diese Idee Männer in gewisse Rollenbilder drängt, die sie glauben, erfüllen zu müssen – was letztlich den Kreislauf aus Anmachsprüchen, Ablehnung und Angst am Leben erhält. Umso wichtiger ist es, dass Männer genau wie Frauen diese alten Verhaltensmuster hinterfragen.

Catcalling macht keine Frau glücklicher, keinen Mann männlicher und kein Date auch nur das kleinste Bisschen wahrscheinlicher. Ganz abgesehen davon, dass es niemanden jemals individueller oder interessanter wirken lassen hat. Das könnte zumindest für den Anfang ein gutes Argument sein, um Catcaller zum Schweigen zu bringen. Bis es hoffentlich irgendwann gar nicht mehr nötig ist, Leute zu überzeugen, dass unverlangtes Hinterherrufen und stereotypische "Komplimente" mit Erniedrigungsabsicht eventuell nicht das Allercoolste sind.

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