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Schulden

Der Moment, an dem junge Schweizer nicht mehr mit ihren Schulden klarkamen

"Ich war schon stark verschuldet, als ich mir für 3.000 Franken Kokain kaufte." – Marcel, 23
Foto links und rechts vom Autor | Foto Mitte zur Verfügung gestellt

Schulden sind ein wenig wie Herpes. Es braucht nicht viel, um sie zu bekommen, sie loszuwerden aber kann zu einer Mammutaufgabe werden. Mit der Kreditkarte mal schnell einen Flug buchen oder einen schlechten Tag im Büro mit exzessivem Online-Shopping kompensieren, ist heute kein Problem mehr. Kreditgeber locken mit träumerischen Werbungen und die 600-Franken-Jacke kannst du dir ohne Probleme auf Rechnung bestellen. Seit auch noch der Dealer des Vertrauens "Fuffis auf Kombi" aushändigt, bist du nirgends mehr sicher vor der Schuldenfalle.

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2007 waren 38 Prozent der 18- bis 34-jährigen Deutschschweizer verschuldet. Die Ernsthaftigkeit der Situation zu leugnen, ist oft die einfachste Lösung für diese Menschen, wie eine Studie der Fachhochschule Nordwestschweiz zeigt. Die Autoren der Studie schreiben jedoch entgegen der oft getroffenen Annahme, dass die Ursache "Konsumgeilheit" sei:

"Die Hauptursache für eine hohe Verschuldung ist nicht ein sorgloses Konsumieren, sondern eine tiefe Verunsicherung und ein Mangel an Lebensperspektiven."

Man gönnt sich noch ein bisschen mehr, um den täglichen Stress zu unterdrücken. Wer Glück hat, dem wird von Familie oder Freunden geholfen. Wer nicht so viel Glück hat, steht alleine da, mit zum Teil horrend hohen Schulden. Doch irgendwann nützt es auch nichts mehr, Rechnungen und eingeschriebene Briefe zu ignorieren.

Wir haben mit jungen Menschen über den Tag gesprochen, an dem ihnen bewusst wurde, dass ihnen ihre Schulden über den Kopf gewachsen sind.

Jonas*, 24

Foto zur Verfügung gestellt

VICE: Wann hast du realisiert, dass du ein Schuldenproblem hast?
Jonas: Als ich bei der Arbeit von der Polizei besucht wurde. Weil ich Rechnungen, Mahnungen und Pfändungsandrohungen immer ignoriert und zuhause nie die Türe geöffnet hatte, wenn jemand vom Amt klingelte, ist die Polizei vorbeigekommen. Es war mir extrem peinlich. Im Geschäft habe ich erzählt, dass ich am Wochenende zuvor Zeuge eines Verbrechens geworden bin und eine dringende Zeugenaussage machen sollte. Die Lohnpfändung konnte ich nur abwenden, weil mein Vater für mich gebürgt hat und ich 1.000 Franken sofort bezahlt habe. Es war nicht wirklich cool, mit zwei Polizisten an einen Geldautomaten zu gehen und gleichzeitig meinen Vater am Telefon zu bitten, seinen Kopf für mich hinzuhalten.

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Wie viel Schulden hattest du?
Ich habe Verlustscheine über knapp 11.000 Franken. Anfangs habe ich es gar nicht bemerkt. Ich bin relativ unbelastet von zuhause ausgezogen und habe mir über meine finanzielle Situation nicht viele Gedanken gemacht. Irgendwann habe ich mir eine Kreditkarte angeschafft, um einfacher Flüge zu buchen und auch um mich online mal wieder neu einzukleiden. Eines führte zum anderen.

Du konntest 11.000 Franken von deiner Kreditkarte buchen?
Nein. Die Limite war bei 3.000 Franken. Als ich diese erreicht hatte, fing ich an, Sachen auf Rechnung zu bestellen. Immer mehr und mehr, das zog sich so um die vier Monate hin.

Was hast du gekauft für so viel Geld?
Ich wollte das neuste iPhone, einen grossen Flatscreen und ein paar neue Fussballschuhe. Immer das teuerste und neueste. Am Schluss hatte ich vier Accounts bei einem bekannten Onlineversand für Kleidung, weil ich mir teure Markenklamotten auf Rechnung bestellen wollte.

Linus*, 23

Foto vom Autor

VICE: Wann hast du gemerkt, dass du richtig tief in den Schulden bist?
Linus: Als ich aus meiner ersten Wohnung geflogen bin. Damals konnte ich nach meiner Lehre im gleichen Betrieb weiterarbeiten und verdiente 4.700 Franken im Monat. Nachdem ich bei meinen Eltern ausgezogen bin, fing ich an, viel zu kiffen und verlor nach nicht mal einem Jahr meinen Job. Aus Stolz habe ich meinen Eltern nichts gesagt und bin nach drei Monaten aus der Wohnung geflogen. Der Vermieter stand vor der Tür und drohte mir mit der Polizei. So kam alles ans Licht und ich musste fürs Erste zu meinen Eltern zurück. Jetzt wohne ich bei Freunden und bin bei meinen Eltern angemeldet.

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Wie hoch sind dein Schulden?
Ich habe rund 8.000 Franken Schulden. Im Moment.

Du sagst das so, als ob das kein grosses Problem sei, wieso?
Seit fast drei Jahren schon schlage ich mich mit Schulden durchs Leben. Irgendwann habe ich mich daran gewöhnt. Momentan schaffe ich es immer noch, meine finanziellen Pflichten zu erfüllen, da ich wieder arbeite.

Hattest du kein Erspartes?
Ich habe sehr viel Geld für Gras ausgegeben. Im Ausgang gönnte ich mir oft sehr viel und lud regelmässig meine Freunde ein. Es ging mir damals nicht so gut und ich versuchte, mir eine schöne Zeit zu erkaufen.

Sam*, 32

Foto vom Autor

VICE: Wie war das bei dir, als du gemerkt hast, wie tief du verschuldet bist?
Sammy: Das war überhaupt nicht schön. Zuerst hat jemand vom Betreibungsamt bei mir geklingelt und wollte wissen, wieso ich meine Rechnungen nicht bezahle. Ich hatte keinen Überblick mehr über meine Schulden und war total überfordert. Als er mir erzählte, wie schlecht es um mich steht, brach ich fast zusammen und fühlte mich den ganzen Tag richtig mies! Ich war damals 26 Jahre alt und musste meine Eltern um Hilfe bitten. Leider konnten sie mir nicht aushelfen und so wurden einige meiner Wertgegenstände gepfändet. Ein richtig komisches Gefühl, wenn dir fremde Menschen deine Sachen wegnehmen und aus der Wohnung tragen.

Wie hoch stapeln sich bei dir die offenen Rechnungen?
Nicht mehr so hoch, zum Glück. Zu den schlimmsten Zeiten hatte ich knapp 23.000 Franken Schulden. Ich versuche gerade, alles loszuwerden.

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Wie machst du das?
Ich habe eine gut bezahlte Arbeit und kann jeden Monat einiges zurückzahlen. Vor einem Jahr habe ich einen Kredit aufgenommen, um alle meine offenen Rechnungen auf einmal zurückzuzahlen. Jetzt schulde ich nur noch der Kreditgesellschaft Geld. Im Moment bezahle ich fast 600 Franken pro Monat zurück. Wenn ich das durchziehen kann, bin ich nächstes Jahr schuldenfrei.

Wie hast du überhaupt so viele Schulden angehäuft?
Ich habe eine ziemlich schmerzhafte Trennung durchgemacht. Danach war ich einfach nicht mehr ich selbst und habe angefangen, unseriös mit meinem Geld umzugehen. Das Unnötigste, was ich mir geleistet habe, war wohl ein Fernseher für 3.200 Franken.So ging das weiter, bis ich völlig die Kontrolle verloren habe. Mehrere Kreditkarten und ganz viele Dinge auf Rechnung brachten das Fass zum Überlaufen.


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Emre, 20

Wollte kein Foto

VICE: Wann hast du realisiert, dass du ein Schuldenproblem hast?
Emre: Als ich nach Hause gekommen bin und meine Eltern schon auf mich gewartet haben. Bei mir Zuhause ist es gar kein gutes Zeichen, wenn so etwas passiert und ich hatte eine leichte Vorahnung. Sie hatten einen Brief geöffnet, den man an der Türe entgegennehmen musste. Es war eine Forderung vom Betreibungsamt über 2.300 Franken. Ihre Enttäuschung war sehr gross, da sie immer dachten, ich könne mit Geld umgehen.

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Kannst du das denn nicht?
Ich habe ein paar dumme Entscheidungen getroffen, als ich 18 geworden bin. Das kleine Sparkonto, dass mir meine Eltern angelegt hatten, war in zwei Monaten geplündert. Danach wollte ich immer mehr und habe mir, ohne meinen Eltern etwas davon zu sagen, eine Kreditkarte machen lassen. Damit bin ich shoppen gegangen oder habe Online-Poker gespielt. Ich dachte, ein paar Klamotten und ein neuer Laptop müssten her. So ging das weiter, bis ich etwa 4.000 Franken Schulden hatte.

Warst du da noch in deiner Ausbildung?
Ja, ich war noch Lehrling und habe 1.450 Franken im Monat verdient. Es war trotzdem extrem einfach, an eine Kreditkarte zu kommen, selbst mit diesem Lohn.

Wie sieht’s jetzt aus?
Ich habe Glück. Meine Eltern haben mir aus dem Schlimmsten herausgeholfen. Im Gegenzug musste ich mich bei der Schuldenberatung anmelden. Dort hilft man mir, meine monatlichen Ausgaben zu budgetieren und schaut darauf, dass ich meine Rechnungen pünktlich bezahle und nicht weitere Schulden anhäufe.

Marcel*, 23

Foto zur Verfügung gestellt

VICE: Wann wurde dir klar, dass du hoch verschuldet bist?
Marcel: Spätestens als ich einen Kredit aufnehmen musste, um meinen Kokaindealer zu bezahlen. Das war so vor einem Jahr. Eigentlich wusste ich aber schon immer, wie tief ich in der Scheisse sitze, habe aber einfach damit gelebt.

Wie kommt denn so etwas zustande?
Ich war schon stark verschuldet, als ich mir für 3.000 Franken Kokain kaufte. Ich wollte es gewinnbringend verkaufen und sollte meinen Lieferanten nach spätestens zwei Wochen bezahlen. Ein bisschen davon konnte ich an Partys loswerden, den grössten Teil aber haben Freunde und ich selbst konsumiert. Als ich dann das Geld nicht bereit hatte, bat ich einen Freund, für mich einen Kredit aufzunehmen. Den Lieferanten hielten wir eine Woche hin und bezahlten ihn dann mit der Kreditsumme.

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Hattest du davor schon mit Kokain zu tun?
Ja. Nach dem ich mit Kollegen an der Streetparade 2012 MDMA konsumiert habe, wollten wir am nächsten Tag noch mehr Pillen kaufen. Wir bekamen einen Kontakt und wurden in eine Wohnung in der Nähe von Basel eingeladen. Der Dealer und Hausherr legte eine riesige Line Kokain und lud uns alle auf eine "gratis Nase" ein. Das war mein erster Kontakt mit Koks, danach ging vieles schief.

Kannst du erzählen wieso?
Damals wollten wir ans schnelle Geld und mein Cousin meinte, dass es keinen einfacheren Weg gibt, als einen Dealer auszurauben. Er hatte Kontakte zu einer bekannten Bikergruppe und wir gingen zusammen mit diesen Leuten zur Wohnung des Dealers. Ich klingelte, während sich alle anderen ausser Sichtweite versteckten. Ich sollte die Tür auftreten, sobald aufgemacht wird und die anderen würden dann hereinstürmen. Der Typ wurde richtig übel zugerichtet und wir haben alles, was irgendeinen Wert hat, eingepackt.

Und dann seid ihr abgehauen?
Ja, aber das nützte in dem Moment auch nichts mehr. Der Typ wusste ja, wer ich war und keine zwei Wochen später zerschlug jemand plötzlich eine Glasflasche auf meinem Kopf. Mitten auf einer Strasse in Basel. Erst im Krankenhaus bin ich wieder zu mir gekommen. Gleichzeitig hat mich der Typ angezeigt und ich musste vor Gericht.

Was ist dabei herausgekommen?
Zwei Jahre auf Bewährung für mittelschwere Körperverletzung. Ich war 18 Jahre alt und hatte absolut keine Ahnung, was auf mich zukommt. Unvorbereitet und ohne Anwalt bin ich vor Gericht gegangen, weil ich dachte, dass da vielleicht ein Polizist am Computer sitzt und mit mir verhandelt. Es war aber eine öffentliche Verhandlung. Die zwei Schulklassen im Publikum durften mich weinen sehen, weil ich dachte, ich muss für zwei Jahre in den Knast. Der Richter hatte irgendwann Mitleid mit mir und hat mir erklärt, was "auf Bewährung" bedeutet. Was für ein scheiss Tag! Hast du selbst Probleme mit Schulden, kannst du dir hier Hilfe holen.

*Name der Redaktion bekannt

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