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Aufwachsen an der Zürcher Goldküste

Es gab die Rotzlöffel im rosa Polo-Shirt, die Rolex getragen, Champagner-Flaschen an den Tisch bestellt und Papas Maybach gegen die Garagenwand gedonnert haben. Und es gab meine Freunde und mich.

Wenn ein Soziologie-Student aus dem Kreis 4 eine Pyramide der globalen Ausbeutung zeichnen würde, wäre die Zürcher "Goldküste" wohl an deren Spitze. Ich muss enttäuschen, die wenigsten Diktatoren und Kriegsverbrecher nisten sich am rechten Zürichseeufer in einer gemütlichen Villa mit 500 Quadratmetern ein. Hier leben die natürlichen Gewinner des Systems. Menschen, die in rauen Mengen Geld geerbt oder verdient haben. Und Tina Turner.

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Hier fliessen Milch und Honig den Dorfbach hinunter und die verwöhnten Bälger werden im Bentley aus dem Montessori-Kindergarten abgeholt. Soweit zumindest das Klischee. In Wirklichkeit gibt es die unterschiedlichsten Typen an der Goldküste, das Spektrum reicht vom leimschnüffelnden Amateur-Schwulenpornodarsteller über die alleinerziehende Sekretärin, den Tanga-Nazi mit den Wolfskindern, bis hin zum neureichen Broker im gelben Ferrari. Ja, die habe ich alle dort kennengelernt.

Dank einem erfolgreich geführten Steuerwettbewerb und der Nähe zur inoffiziellen Hauptstadt des Landes, leben aber tatsächlich viele reiche Leute an der Goldküste, was auch einen Effekt auf das Dorfklima und die Infrastruktur hat. Aber obwohl es den meisten Küsnachtern finanziell eher gut geht, wohnen nicht ausschliesslich Superreiche dort.

Wer superreich ist, oder sich für superreich hält, schickt seine Kinder oftmals in Privatschulen. Ich habe es ironischerweise immer als Privileg verstanden, die ganz normalen Schulen zu besuchen. Mir war die als zunehmend wahrgenommene Verweichlichung und zuweilen wachsende Arroganz der Privatschüler auf so ziemlich jeder Bildungsebene zuwider.

Die Verweichlichung kam daher, dass bei einem Scheitern einfach die Umstände angepasst wurden—wer nicht in der öffentlichen Schule oder dem Sportclub bestand, bekam eine neue Schule oder ein neues Hobby. Und daher zogen viele dann die Arroganz, weil sie nicht mehr scheitern konnten, solange Geld die Probleme irgendwie zu lösen vermochte. Es gab Ausnahmen, unter denen ich auch ein paar Freunde hatte, aber im grossen Ganzen gibt es gewissermassen eine selbstgewählte Ghettoisierung besserverdienender Familien, die vom privaten Kindergarten bis zum Golfclub Zumikon reicht.

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Diese selbstgewählte Abschottung der superreichen Bewohner der Goldküste gründet vermutlich in Angst. Angst, ihren Besitz oder Status einzubüssen. Angst, dass ihre Kinder von Drogen oder Armut dahingerafft werden oder ausserhalb der Blase voller Gold und Geld nicht bestehen können. Sie haben Angst, dass ihre Kinder die falschen Freunde haben könnten oder es als Erwachsene zu nichts bringen. Was sie nicht wissen (oder nicht wissen wollen): Ihre kleinen Engel werden meist schon vor ihrem 16. Geburtstag von einer Welle aus Dekadenz, Gras, Alkohol und Kokain ergriffen und erst nach der Privatschulzeit wieder an Land gespült.

Dabei tragen die trotz Pauschalbesteuerung und Steuergeschenken reichlich vorhandenen öffentlichen Gelder gerade an der Goldküste zu einer überdurchschnittlich soliden öffentlichen Bildung bei. Wohl deshalb ist es normal, dass die Kinder erst dann in Privatschulen versetzt werden, wenn sie die ersten Probleme in der öffentlichen Schule bekommen.

Das war zu meiner Zeit teils schon im Kindergarten der Fall, meistens aber erst, wenn es darum ging, ob der kleine Prinz das Gymnasium schafft oder nicht. Wenn der Spross also den öffentlichen Weg an die Spitze der Gesellschaft aus Intelligenz- oder Interessensdefiziten nicht gehen konnte, wurde nachgeholfen. Vom Frei-Gymnasium übers Lernstudio bis zum Internat in Zuoz wurden Unsummen in den Erwerb einer Matura gesteckt. Wer dort wieder rausflog, weil er zum Beispiel vergessen hatte, den Drogentest zu türken, reiste weiter ans Institut Montana.

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Meine Kindergartenzeit war hauptsächlich von einer extrem steilen Strasse, dem Strandbad und regelmässigen Prügeleien auf dem Nachhauseweg geprägt—von Höhepunkten also, die in jeder Kindheit in irgendeiner Form vorkommen. Erst durch die Entwicklungen in den nächsten Jahrzehnten bekam diese 0815-Kindheit ihre spezielle Komponente. Schliesslich ist es doch ganz befriedigend, zu wissen, dass man einem, der heute am rechten Flügel der Zürcher SVP politisiert, schon vor der Primarschulzeit regelmässig eins auf die Rübe gegeben hat.

Mit dem Eintritt in die Primarschule hatten wir uns—wie wohl ziemlich jedes Kind in einer ähnlichen Blase—für eine Sportart zu entscheiden. Bei mir war das Eishockey. Wir Hockeyspieler fanden Fussballer doof, die Fussballer fanden uns Hockeyspieler doof. Wir erzählten uns die folgenden zehn Jahre Geschichten, wie Fussballspieler auf Kekse wichsten und diese dann assen. Soweit ich weiss, erzählten sich die Fussballer sehr ähnliche Geschichten über uns Eishockeyspieler.

Damals war die Pfadi noch stark besucht. Ich ging hin, weil einer meiner besten Freunde mich mitschleppte und blieb für zehn Jahre dort hängen. Die Pfadi erfüllte an der Goldküste eine ihrer ursprünglich angedachten Kernfunktionen so gut wie kaum woanders: Sie machte uns gleich. Für ein paar Stunden am Samstagnachmittag ging es nicht darum, was deine Eltern haben, sondern darum, wer du bist und wie hoch die Flammen deines Feuers züngeln.

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Foto von Flickr | FNF | CC BY 2.0

Wir hatten strikte Uniformpflicht und so wurden die unterschiedlichen sozialen Stati erst sichtbar, als sich nach der samstäglichen Einheitlichkeit eine Armada von Range Rovern vor der Pfadihütte zum Einsammeln der von oben bis unten in Schlamm gepackten und durchgeräuchten Jugend versammelte. Ab der Mittelstufe wurden die meisten von uns nicht mehr von ihren Eltern abgeholt. Das war der Anfang einer Zeit voller jugendlicher Subversivität—zumindest soweit, wie Jugendliche in einer der reichsten Gegenden der Schweiz eben subversiv sein können. Wir waren in unschuldsversprechende Uniformen gekleidete, kleine Jugend-Gangs, die sich unbeaufsichtigt ihren Weg durch die Dorfidylle bahnten.

Wegen der Uniformen dachten die Leute, jemand sei für uns verantwortlich, passe auf uns auf. Wer eine Uniform trägt, ist in der Schweiz akzeptiert. Polizisten, Feuerwehrmänner, Zivildienst, das Militär und sogar die scheiss Cevi—du verstehst.

Dieses kulturelle Missverständnis half uns Zehn- bis Zwölffjährigen sehr beim Süssigkeiten und Pornohefte klauen. In dieser Zeit wurde ich zum ersten Mal polizeilich verhört, weil meine Schulfreunde und ich mit richtig armselig gefälschten Schülerausweisen im Hinterzimmer einer Apotheke genug Feuerwerk für einen Kleinkrieg gekauft hatten.

Einen Sommer später hatten wir die glorreiche Idee auf der Burgruine „Wulp" eine Schlacht mit unseren extra aus Japan bestellten Airsoft-Guns anzusetzen. Dazu zogen wir uns an wie der innere Zirkel des IS (oder damals die Hisbollah): von oben bis unten vermummt. Natürlich liessen wir es uns auch nicht nehmen, auf dem Weg ins Küsnachter Tobel, die eine oder andere Plastikkugel zu verballern. Kurz bevor wir in der Burgruine angekommen waren, bemerkten wir, dass uns ein Polizeiauto durch den Wald folgte. Instinktiv flüchteten wir in die Büsche, was die Herren Polizisten dazu veranlasste, auszusteigen, ihre scharfen Waffen auf uns 13-Jährige zu richten und uns so zur Aufgabe zu zwingen. Der Anblick der anschliessend auf der Kühlerhaube ausgebreiteten Plastikwaffen liess mich aus irgendeinem Grund Stolz fühlen, wie nie zuvor.

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Foto von Flickr | basrawii | CC BY 2.0

Ein paar gesprengte Briefkästen, staatlich konfiszierte Airsoft-Guns und eingeworfene Scheiben später, waren wir hochpubertär und wurden in der Küsnachter Sekundarschule zusammengepfercht. Das galt natürlich nur für jene, die das Gymnasium nicht direkt schafften oder eben nicht ins freie Gymnasium oder Lernstudio gesteckt worden waren. Diese Auserwählten bestiegen ab dann täglich den Bus, um in die gelobte Stadt zu reisen. Wir anderen blieben im Dorf gefangen.

Gleichzeitig leisteten sich die ersten unter uns Mofas. Die aufgemotzten Maschinchen transportierten durchschnittlich 2.5 Personen pro Stück vom Küsnachter Horn über den Rösslipark in Erlenbach zum „Restaurant Löwen" in Meilen und von dort vor das Küsnachter Jugendlokal „Pitch Pine". Allerdings kam es selten vor, dass wir einen Fuss in das von einem break-dancenden Jugendarbeiter Anfang vierzig betriebene Lokal setzten. Wir haben den Typen und seine erzwungenen High Fives gehasst. Viel lieber hielten wir uns am Seeufer auf, denn wir waren „Seebuebe" und dort unser natürliches Habitat. Der einzige „Jugendarbeiter", dem wir vertrauten, war der reformierte Pfarrer Andrea Bianca. Und der war früher ein Punk gewesen und kein Break-Dancer.

Mit der Pubertät verlagerten sich meine Interessen weg vom Terroristen spielen hin zum Gangster mimen. Ich fand schnell gleichgesinnte Freunde. Einige kannte ich aus der Pfadi, andere aus der Schule und weitere vom See. Wir bildeten einen ziemlich sektiererischen Freundeskreis, der die eine Hälfte seiner Ideologie vom Wu-tang Clan und die andere Hälfte von Robert Wilsons Illuminatus bezog.

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Foto von Flickr | Chris Drumm | CC BY 2.0

Die dörfliche und gepützelte Atmosphäre der Goldküste passte nicht so recht zu unserem selbstgewählten Lebensstil, also sahen wir uns gezwungen sie umzugestalten. Wir begannen damit, unser Dorf mit Graffiti vollzubomben, hingen mit heruntergezogenen Kapuzen, breiten Hosen und aufgedrehten Ghettoblastern auf Parkbänken am See herum, rauchten Gras, soffen (erst Hooch später Bier dann Vodka) und machten im Luftschutzkeller unter dem Schulhaus Erlenbach Musik. Wann immer wir nicht irgendwo sein mussten (wir hatten vergleichsweise wenige wichtige Termine in dem Alter), trafen wir uns draussen und erschufen soviel Ghetto-Atmosphäre, wie die Umstände herzugeben bereit waren.

Das schiere Gegenteil der Bronx waren natürlich die ganzen Sturmfrei-Partys. Mindestens jedes zweite Klassenmitglied bewohnte ein Haus mit einem beachtlichen Alkoholvorrat und mindestens einmal im Monat waren die Eltern von irgendwem weg. Wir belagerten dann zu dreissigst ein Wochenende lang die entsprechende Wohnstätte.

Foto vom Autor

Um an das dringend benötigte Gras (um das sich unser Alltag effektiv drehte) zu kommen, reisten wir auch gerne mal in die Stadt. Aber nicht nur die damals noch weit verbreiteten Duftsäckchen zogen uns nach Zürich, auch Vinyl und Lackfarben standen auf den Einkaufslisten. An dieser Stelle ein Gruss an die Betreiber unserer Lieblingsläden, die teilweise mit dem „Golden Age" von Hip Hop eingegangen sind: Sixpack, Monorecords, Da Spot, Get Records, Crazy Beat, 16 Tons, Abraxas, Biotop, C-Hanf und mein persönlicher King: James Blunt, dessen Menü-Karte uns mit gut zwanzig Ganja-Sorten so manchen freien Nachmittag versüsste. Ich hoffe, ihr habt unser sauer verdientes Taschengeld weise investiert—in Anwälte oder die dritte Säule.

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Am Seeufer hatte ich auch meine ersten Konfrontationen mit der selbsternannten „Rechten Front Küsnacht". Die rechte Front bestand zu einem Drittel aus Secondos und vollständig aus Aussenseitern, die sonst einfach keine Freunde fanden und sich deshalb den Nazis anschlossen. Rechts zu sein und jeden zu hassen war in den Neunzigern mindestens so en vogue wie heute. Die SVP hangelte sich damals gerade am niedergerungenen EWR-Vertrag in politische Höhen und in ihrem Fahrwasser sprossen in jedem Weiler Springerstiefel, Bomberjacken und Glatzen aus dem Boden. Ich fand das damals schon mindestens so scheisse, wie ich E.K.R. grossartig fand.

Mir war aber nie vollständig klar, wie gefährlich die Front wirklich war. Einerseits bestand sie unseres Erachtens aus geistig rückständigen Verlierern, andererseits unterhielt offenbar mindestens einer von ihnen Kontakte zu Blood and Honour, den Hammerskins und anderen internationalen Neonazi-Organisationen. Diese Kontakte schätzten wir damals allerdings nicht als gefährlich genug ein, um uns von einer Schlägerei mit ihm und seinen Freunden abhalten zu lassen.


Unser Leben drehte sich damals noch um die wirklich wichtigen Dinge:


Diese sozialen Spannungen eskalierten jeweils an den Dorfchilbis, an welchen Ausländer und Neonazis sich gegenseitig identitätsstiftend auf die Fresse gaben. Wir wurden ab und zu in den Konflikt reingezogen, waren aber grundsätzlich ohnehin nur wegen dem schlecht bewachten Alkohol und der Frauen dort und versuchten also, uns aus Handgreiflichkeiten herauszuhalten.

Einen letzten Höhepunkt fand unser Konflikt mit den Neonazis am Schauplatz unseres „Kifferhäuschens", an dessen Wand eines Tages ein riesiges Hakenkreuz prangte. Da malten wir ein deckendes und dreimal so grosses Wu-Tang-Symbol darüber und die Sache war für uns gegessen.

Alles in Allem hatte ich trotz der Bentleys, Nazis und Montessori-Mentalität eine sehr schöne Zeit an der Goldküste, die jetzt dann bald mein halbes Leben zurückliegt. Ich bin ehrlich dankbar für all die guten Freundschaften und dieses in Watte gepackte Umfeld, das uns gerade so viel Widerstand entgegenbrachte, um rebellieren zu können und trotzdem gleichzeitig so vergebend und ungefährlich blieb.

Till hängt nicht mehr so oft am See herum, dafür auf Twitter: @trippmann
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Titelbild von Roland zh | Wikimedia | CC BY-SA 3.0