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Warum du andere Netflix-Poster siehst als deine Freunde

Spoiler: Es hat etwas mit einer Künstlichen Intelligenz zu tun.
Neun verschiedene Vorschaubilder für Stranger Things | Bild: The Netflix Tech Blog | Screenshot: Motherboard 

Dubiose Experimente mit übernatürlich veranlagten Kindern sind das düstere Steckenpferd des skrupellosen Wissenschaftlers Dr. Brenner. Der Bösewicht aus Stranger Things fasziniert manche Zuschauer so sehr, dass sie jedem von ihm erzählen, wenn sie über die Netflix-Serie reden. Andere dagegen sind eher von der alleinerziehenden Mutter Joyce angetan. Sie gucken vor allem Stranger Things, um mitzufiebern, ob Joyce eine neue Spur ihres vermissten Sohnes Will finden kann.

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Jeder Serien-Fan hat seine individuellen Gründe, eine bestimmte Sendung zu schauen. Das weiß auch Netflix. Die Plattform hat deswegen in den letzten Monaten neue Algorithmen für die Bildauswahl getestet und nun ein neues System mit personalisierten Empfehlungen eingeführt. Bisher war es so: Jeder Nutzer sieht auf Netflix seine eigene, auf ihn zugeschnittene Oberfläche mit Empfehlungen für Filme und Serien, die ihn interessieren könnten. Allen Nutzern werden also unterschiedliche Inhalte empfohlen.

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Jetzt geht Netflix allerdings noch einen Schritt weiter: Die Plattform empfiehlt ihren Nutzern ab sofort auch ein- und denselben Inhalt auf unterschiedliche Weise. Während manch ein potentieller Stranger-Things-Fan nun womöglich ein Vorschaubild mit Dr. Brenner angezeigt bekommt, weil er zum Beispiel zuvor bereits Filme über verschrobene Wissenschaftler geschaut hat, wird die Serie anderen Nutzern vielleicht mit dem Gesicht von Joyce angepriesen.

Wie bestimmt Netflix dein persönliches Vorschaubild?

Dass sich Nutzer mit überwiegender Mehrheit aufgrund des Vorschaubildes für einen bestimmten Inhalt entscheiden (und nicht aufgrund anderer Informationen wie Titel oder Synopse), fand Netflix bereits 2014 heraus. Ein Bild sagt eben mehr als tausend Worte. Dementsprechend waren die hauseigenen Algorithmen bisher darauf trainiert, für jede Serie das Vorschaubild herauszusuchen, das die größtmögliche Gruppe an Nutzern in seinen Bann ziehen würde. Nun suchen sie für unterschiedliche Nutzer auch unterschiedliche Bilder. Schon früher experimentierte Netflix mit unterschiedlichen Vorschaubildern in unterschiedlichen Ländern. Alle deutschen Nutzer bekamen aber für dieselbe Serie auch dasselbe Bild angezeigt. Damit ist nun Schluss.

"Das Bildmaterial könnte einen Schauspieler enthalten, den du kennst, eine aufregende Szene, wie eine Verfolgungsjagd, oder etwas Dramatisches, das die Essenz des Films vermittelt", erklärten vier Netflix-Entwickler letzte Woche auf dem offiziellen Tech-Blog der Firma. Sie arbeiten am System des Maschinellen Lernens, das hinter den personalisierten Empfehlungen auf Netflix steckt. Um aus mehreren Bildern das am besten auf den jeweiligen Nutzer zugeschnittene auszuwählen, können die Algorithmen auf einen riesigen Datensatz zurückgreifen, den die Nutzer fortlaufend selbst generieren. Das wichtigste Kriterium für die Bildauswahl: welche Inhalte ein Nutzer in der Vergangenheit geschaut hat.

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Hat eine Nutzerin zum Beispiel viele Filme mit Matthew Modine, dem Schauspieler in der Rolle von Dr. Brenner gesehen, wird ihm eher ein Stranger-Things-Bild mit dem Wissenschaftler gezeigt als einem Nutzer, der sich schon mehrere Dokus über verschwundene Kinder angeschaut hat.

Die Algorithmen analysieren bei der Auswahl den sogenannten "Kontext" des einzelnen Nutzers. Dazu werden jede Menge Informationen ausgewertet. Neben den bereits geschauten Filmen und den Genres dieser Filme, analysiert Netflix auch, aus welchem Land der Nutzer kommt, und welche Sprache er auf Netflix ausgewählt hat. Außerdem wird das Gerät erfasst, auf dem Netflix gerade läuft, sowie der Zeitpunkt der Netflix-Session berücksichtigt. Falls der Nutzer schon einmal auf den beworbenen Inhalt zugegriffen hat, fließt auch das in die Auswahl des Bildes mit ein: Sah der Nutzer sich damals gleich drei Folgen hintereinander an, oder brach er den Stream schon nach einigen Minuten wieder ab?

Was genau es für die Bildauswahl bedeutet, wenn man abends vor dem Windows-Laptop hängt und Netflix auf Deutsch schaut, ist unklar. Doch das Repertoire, aus dem der Algorithmus für die individuelle Ansprache schöpfen kann, ist pro Serie recht groß: "Wir haben normalerweise bis zu ein paar Dutzend Bilder pro Titel", erklären die Entwickler.

Ein Problem an dieser Methode: Der Algorithmus hat zunächst nur einen Versuch, das passendste Bild auszusuchen. Spricht es den Nutzer nicht an, wird er nicht draufklicken. Zwar kann einem Nutzer bei der nächsten Session schon ein anderes Bild für denselben Inhalt präsentiert werden, doch können solche Veränderungen den Nutzer auch schnell nerven oder verwirren. Um diese Fehlerquote, die im Maschinellen Lernen als "regret" bezeichnet wird, möglichst gering zu halten, greifen die Algorithmen nicht nur auf die Kontextdaten des Nutzers zurück, sondern werten auch das Verhalten der anderen Nutzer aus. Für jedes Bild, das auf Netflix zu sehen ist, liegen Daten vor, welcher Nutzer-Typ wie auf das Bild reagiert hat. Aus diesen Erfahrungswerten errechnet der Algorithmus die Wahrscheinlichkeit, wie ein Nutzer, der das Bild noch nicht gesehen hat, darauf reagieren wird.

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Das neue System der personalisierten Bild-Vorschau stehe aber noch am Anfang, wie die Entwickler betonen. Es gebe noch jede Menge Möglichkeiten, das neue Personalisierungssystem auszubauen.

Warum Netflix ein Interesse daran hat, die personalisierten Empfehlungen weiter auszubauen

Während die Streaming-Plattform gerne die Zufriedenheit ihrer Nutzer zum primären Anliegen erklärt, lässt ein Zitat von Europasprecher Yann Lafargue erahnen, warum Netflix die personalisierten Empfehlungen außerdem weiter ausbauen möchte: "Wenn ein Nutzer Netflix öffnet, haben wir zwischen 90 und 120 Sekunden Zeit. Wenn er in diesem Zeitraum nichts Relevantes für sich findet, haben wir ihn verloren und er schaut oder macht etwas Anderes." Klar ist: Netflix will in diesen ersten Sekunden den Nutzer so schnell wie möglich an die eigenen Inhalte binden – und das funktioniert laut der eigenen Marktforschung am allerbesten durch die Bilder, die uns direkt beim Start unterbreitet werden. So weiß Netflix, dass uns vor allem Nahaufnahmen mit emotionalen Gesichtsausdrücken ansprechen, Bilder mit mehr als drei Schauspielern dagegen nicht. Wir klicken öfter auf Play, wenn wir einen Bösewicht sehen als auf ein Bild mit einem Helden.

"Nur rund zehn Prozent der konsumierten Titel werden über die Suchfunktion gefunden. 90 Prozent werden über die von uns unterbreiteten Vorschlägen entdeckt und konsumiert", erklärt Netflix-Manager Mike Hastings gegenüber futurezone .

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Die Zufriedenheit der Nutzers ist nur eine Seite der Medaille – auf der anderen prangt eine immer längere Verweildauer. Genau wie alle anderen Apps und sozialen Netzwerke möchte Netflix seine Nutzer so lange wie möglich auf seiner Plattform halten – das gehört zum Geschäftsmodell. Denn je länger Nutzer auf Netflix aktiv sind, desto mehr Daten hinterlassen sie auch. Der Anbieter hat wohl nicht zufällig die Kategorie "binge-worthy" geschaffen, in der Netflix gezielt Serien empfiehlt, die man am besten gleich komplett am Stück durchguckt: Binge-Watching eben.

Bisher hat Netflix in der Öffentlichkeit stets betont, die gesammelten Daten ausschließlich dazu zu nutzen, sein Streaming-Angebot zu "verbessern” – eine schwammige Formulierung, die auch genau auf Nutzer zugeschnittene Empfehlungen, zum Beispiel für Eigenproduktionen, mit einschließt. Die Gewissheit, dass Netflix nicht doch eines Tages Werbung von externen Partnern auf seiner Plattform schaltet, haben die Nutzer nicht – der Druck seitens der Werbeindustrie ist bereits groß. Auch ein Weiterverkauf der Daten ist denkbar, wird aber bisher von Netflix ebenso entschieden dementiert.

Doch selbst wenn Netflix seinen riesigen Datenschatz auch in Zukunft für sich behält – einige Nutzer haben erst vorgestern gemerkt, wie unangenehm das Wissen der Plattform sein kann. "An die 53 Leute, die in den letzten 18 Tagen jeden Tag 'A Christmas Prince' geguckt haben: Wer hat euch weh getan?", twitterte das PR-Team von Netflix. Während viele Nutzer den Tweet lustig fanden, kritisierten andere Netflix für das Veröffentlichen der anonymisierten Daten oder zeigten sich entsetzt, dass Netflix das Nutzerverhalten auf diese Weise analysiert. Wir würden Netflix dazu eigentlich nur gerne folgende Frage stellen: "Habt ihr allen 53 Nutzern ein unterschiedliches 'A Christmas Prince'-Bild gezeigt?"