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Eine Kiste voller Zorn

Martin Parr, der clevere Fotohistoriker, hat beschlossen, dass es höchste Zeit ist, fünf Fotobände über verschiedene Protestbewegungen der 60er und 70er neu aufzulegen.

Im Rückblick scheint es fast so, als hätte 2011 ausschließlich aus Protesten, Krawallen, Aufständen und weltweiter allgemeiner Unzufriedenheit bestanden. Es ist aber wichtig, sich klarzumachen, dass diese Wahrnehmung sehr stark von der Nutzung des Internets und der Sozialen Netzwerke beeinflusst ist, und dass es vor nicht allzu langer Zeit für einen einzelnen Unruhestifter gar nicht möglich war, 5.000 wütende Studenten zu mobilisieren und ihre Anliegen über Twitter zu verbreiten. Damals mussten Leute, die zu den Molotow-Partys kamen, noch Eier bzw. Eierstöcke haben, die in der Lava eines riesigen Vulkans voller Wut und Empörung gestählt waren. Das hatte vor allem damit zu tun, dass diese Aktivisten kein digitales Sicherheitsnetz hatten, das sie wieder aus den tiefen der Verließe zog, wenn die harte Hand des Staates einmal zugeschlagen hatte und sie verhaftet wurden—oder noch Schlimmeres.

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Martin Parr, als der clevere Fotohistoriker, der er ist, kennt die Lektionen der Vergangenheit nur zu gut, und beschloss Anfang dieses Jahres, dass es höchste Zeit ist, fünf Fotobände über verschiedene Protestbewegungen der 60er und 70er neu aufzulegen. So entstand der Sammelband The Protest Box (Steidl), der bis zu seinem Erscheinen im Herbst nur für Sammler erhältlich war. Die fünf Bände umfassen Revolten quer durch Lateinamerika, Japan, Algerien und Italien, und passen perfekt in eine schlichte Pappkiste, die aussieht, als wäre sie gerade von einem Armeelaster gefallen. Die Box ist auf 1.500 Kopien limitiert und kostet knapp 400 Euro (was wieder einmal beweist, dass politischer Unmut nicht billig ist). Also dachten wir, wir drucken hier für euch einfach ein paar Fotos aus jedem der fünf darin enthaltenen Bücher ab—eine Art Hors d’oeuvres des Dissens! Diese Fotos stammen aus Paolo Gasparinis Meisterwerk Para Verte Mejor, América Latina, einer erschütternden Dokumentation über die soziale Ungerechtigkeit in Lateinamerika, unter anderem darüber, wie die indigene Bevölkerung zu niederen Arbeiten gezwungen wurde, u. a. in Fabriken. Es wurde ursprünglich 1972 vom mexikanischen Verlag Siglo XXI Editores herausgegeben. Die Fotos oben stammen aus dem 1970 erschienenen Buch América: Un Viaja a Través de la Injusticia des mexikanischen Fotografen Enrique Bostelmann. Wie Gasparini reiste auch Bostelmann auf der Suche nach Ungerechtigkeiten durch den Kontinent und hob dabei den Unterschied zwischen Kapitalismus und Kommunismus hervor. Diese Bilder aus Kitai Kazous Sanrizuka bannen die Wut ins Bild, die im Nachkriegsjapan aufwallte und sich in verschiedenen populären Protestbewegungen äußerte. Kazous Meisterwerk, das 1971 erschien, dokumentiert die Proteste gegen den Bau des Narita Flughafens. Diese Fotos stammen von Paola Mattioli und Anna Candiani, die 1974 den Protest gegen die Aufhebung des Scheidungsrechts in Italien fotografierten. Sie sind aus ihrem Buch Immagini del No, dem elften in einer Serie von Fotobänden mit dem Titel Occhio Magico („Das magische Auge“). Der deutsche Fotograf Dirk Alvermann brachte 1960 Algerien heraus, aus dem diese Bilder stammen. Das Buch war seiner Zeit voraus und hatte schon damals alle typischen Merkmale der klassischen Protestfotografie der 70er-Jahre. Es zeigt beide Seiten des algerischen Aufstands während des Unabhängigkeitskrieges.

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Fotos von Dirk Alvermann, Enrique Bostelmann, Anna Candiani, Paolo Gasparini, Kitai Kazou und Paola Mattiol

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