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Heinrich Manns Tantra-Enkel

Heinrich Manns Enkel Saranam Ludvik Mann führt die Idee seines Großvaters von sexueller und persönlicher Befreiung und Überwindung fort.

Die Familie Mann mit ihren berühmtesten Vertretern Thomas, Heinrich und Golo hat eine ähnliche Faszination wie die Kennedys. Unglück, Erfolg, Selbstmorde, Ruhm und sexuelle Ausschweifungen liegen nahe beieinander. Thomas Mann unterdrückte seine Homosexualität. Heinrich Mann hatte Liebschaften mit allerlei Frauen. Der eine wurde weltberühmt, doch bezahlte dafür mit der Unterdrückung seiner sexuellen Lust. Der andere lebte seine Sexualität aus, war aber zu Lebzeiten wenig beachtet. Heinrich Manns Enkel Saranam Ludvik Mann—Sohn von Leonie Mann und dem tschechischen Schriftsteller Ludvík Aškenazy—führt die Idee seines Großvaters von sexueller und persönlicher Befreiung und Überwindung fort.
Saranam betreibt mit Freunden in Berlin die älteste Tantraschule Deutschlands—das Diamond Lotus Institut)—und lebt in einer sexuell offenen Lebensgemeinschaft. Wir haben uns also mit dem einfühlsamen und sympathischen Enkel des lockereren der beiden Mann-Brüder getroffen, um über Tantra, Nietzsche, Erbsünde, Pornografie und seine Familie zu reden.
 
VICE: Hallo Saranam! Kurz vorab: Bei uns beiden gibt es eine Verbindung. Deine Eltern haben in Bozen gelebt, ich habe dort studiert.
Saranam Ludvik Mann: Etwa zehn Jahre haben sie dort gelebt. Ich habe mein Abitur in Bozen gemacht.

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War es damals in Südtirol sexuell eher prüde?
Ja, es ist eine sehr katholische Gegend. Ich bin 1976 dorthin gekommen. Damals besetzte ein Pfarrer eine leerstehende Fabrik, um Drogensüchtige zu heilen. Ihm haben dabei viele jugendliche Paare geholfen, aber eher, weil sie sich dort ungestört treffen konnten. In den meisten Elternhäusern war es verboten, sich zu Hause zu treffen oder zu übernachten.

In deiner Familie gab es doch auch eine Form der sexuellen „Unterdrückung“. Thomas Mann war homosexuell, konnte oder wollte dies aber nicht ausleben. Dein Großvater Heinrich Mann scheint sexuell eher offenherzig gewesen zu sein.
Wirkliche Details aus ihren Sexualleben sind nicht bekannt. Thomas wurde als Jugendlicher für seine Homosexualität gehänselt. Er hatte einem Freund einen Liebesbrief geschrieben. So kam es raus. Das war ihm wohl eine Lehre, seine sexuelle Orientierung zu verstecken. Darunter litt er. Er schreibt: „Ich würde jeden Tag nur eine Schale Reis essen, wenn ich wüsste, dass ich davon die kläffenden Hunde im Souterrain bändigen könnte.“ Ich sehe darin sein schlechtes Gewissen. Seine eigene Sexualität hat er wohl wegen seiner Karriere verschwiegen. Ansonsten wäre er wahrscheinlich nicht so berühmt geworden. Heinrich hatte wegen bekanntgewordener „schmutziger“ sexueller Dinge viel eher Probleme, volle schriftstellerische Anerkennung zu bekommen. Thomas schrieb noch mit 70 verzweifelt in sein Tagebuch, dass er selbst noch in diesem hohen Alter von der Lust überkommen werde und nachts beschämt onaniere.

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Tod in Venedig behandelt Thomas’ homoerotische Neigungen. Hat er sich im wahren Leben immer zurückgehalten?
Noch im hohen Alter verliebte er sich in einen jungen Kellner in einem Hotel. Interessanterweise hat Thomas alle Tagebücher verbrannt, die er zusammen mit Heinrich während ihrer Jugend in Italien schrieb. Vielleicht hat er in seiner frühen Jugend mehr Eskapaden gewagt, als ihm später lieb war zuzugeben.

War das durch das Elternhaus vorgegeben?
Ja, aber auch durch das Bürgertum. Heinrich aber scheint sich sehr früh davon befreit zu haben. Er begeisterte sich für die Dienstmädchen in seinem Elternhaus. Er hat sich oft bei ihnen in der Küche rumgetrieben. Später fühlte er sich dann deswegen zu einfachen Frauen sexuell hingezogen, wohl auch zu Prostituierten.

Was glaubst du, was für ein Mensch ihre Mutter war?
Es ist bekannt, dass Julia Mann sehr prüde in einem Lübecker Mädcheninternat aufwuchs. Sie heiratete Thomas Johann Heinrich Mann, den Finanzsenator Lübecks, obwohl sie nicht verliebt war. Aber sie hatte auch einen Liebhaber, ihren Klavierlehrer, mit dem sie viel Zeit verbrachte. Ein sexueller Partner allein reicht im Leben eher nicht (lacht).

Stimmt es, dass Heinrich Mann Nietzscheaner war? Thomas las Nietzsche, aber er hat nicht gänzlich versucht, die alten Werte abzustreifen. Gibt es bei Heinrich Mann also den Versuch zur Umwertung der Werte? Z.B. bei Die Göttinnen?
Er hat Nietzsche sehr geschätzt. Ihm war die Krise des modernen Menschen bewusst und ein wichtiges Thema seiner Literatur. Die Göttinnen habe ich persönlich erst relativ spät gelesen. Ironischerweise in dem Jahr, als wir unser Liebesinselprojekt in Brasilien begonnen haben.

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Wann war das?
1994, glaube ich. Die Göttinnen, jedenfalls, hat mich sehr fasziniert. Die Protagonistin, die Herzogin von Assy, hat bis ins hohe Alter viele Liebhaber. Männer wie Frauen. Mit ungefähr 50 hat sie einen 16-jährigen Geliebten. Mein Großvater hat feministisch gedacht und ihr ein ausschweifendes Sexualleben zugeschrieben.

Was er selbst auch hatte?
Ja. Ich vermute, er verkehrte mit Prostituierten und leichten Damen in Bars. Seine zweite Frau, Nelly Kröger, war Bartänzerin und hatte selbst Liebhaber nebenher. Wie bekannt ist, beging sie Selbstmord. Sexuelle Freiheit führt daher nicht zwangsläufig zur Glückseligkeit, wenn sie nicht bewusst gelebt wird. Aber über die Gefühlstiefen Heinrich Manns und seiner Sexualpartnerinnen können wir nur spekulieren.

Hat Heinrich Mann persönliche Erfahrungen in seinen Büchern verarbeitet?
Ja. Als er seinen Professor Unrat vollendet hatte, schrieb er an seine erste Geliebte, Ines Schmidt: „Aber eins solltest du wissen und du solltest dich nicht erschrecken: Professor Unrat, den ich in schillernden Farben als größenwahnsinnigen Kleinbürger beschreibe—das bin ich.“ (lacht). Er hat sich wohl zeitlebens selbst analysiert, ich stelle mir vor, dass seine Kraft, gesellschaftliche Doppelmoral zu decouvrieren, sein Humanismus, sein Demokratieverständnis, sein öffentliches Einsetzen für Völkerverständigung ihre Wurzeln darin haben. In vielen seiner Romane ist die Sexualität aber nicht nur als das dekadent Heimliche, das es zu entlarven gilt, beschrieben, sondern sie wird von ihm immer wieder auch als der natürliche Ausdruck von Lebenslust und Liebe verehrt. Zum Beispiel liebt sein König Henri die Mädchen und dadurch das Volk und das Volk so wiederum ihn und dadurch wird aus dem Krieger ein Friedensstifter.

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War damals dein Lebensweg als Tantralehrer schon beschritten?
Ja. Meinen Großvater habe ich ja nie persönlich kennengelernt und meine Mutter hat mir auch nicht sehr vieles über ihn erzählt. Die Kriegswirren haben die beiden auch sehr früh auseinander gebracht. Mein erkunderisches Interesse an Sexualität wurde wohl vor allem von meinem Vater, Ludvík Aškenazy, dem tschechischen Schriftsteller, geprägt. Denn ich sprach schon sehr früh mit ihm über meine Sexualität, über Probleme, die ich mit meiner ersten Freundin hatte. Ich konnte mit ihm über alles offen reden. Als ich 17 war, empfahl er mir, Bücher des Sexualforschers Wilhelm Reich zu lesen.

 
Heinrich Mann war Anhänger des „Aktivismus“. Durch Aktivierung des Geistigen sollte ein Aufbruch ins Paradies erreicht werden. Stellt Tantra auch einen Aufbruch ins Paradies dar?
Ich fühle mich in meiner gesellschaftspolitischen Einstellung bezüglich der Sexualität meinem Grossvater wesensverwandt. Das Ziel des Tantra ist Bewusstheit, Weisheit, wache Lebendigkeit in jeder Hinsicht. Das Wort Intelligenz zu benutzen, wäre zu rational. Intelligenz führt zu einem wunderbaren materiellen Wohlstand, so dass jeder einen Überfluss von allem genießen kann. Aber sie führt auch zur Erfindung der Atombombe. Mir fehlen die Gefühle bei all unserem technischen Fortschritt, so entsteht für mich auch die Gier der Industrie oder Finanzwelt aus einem unbewussten, unbefriedigten Gefühlsleben. Tantra wirkt dagegen an, indem es sexuelle Lust von Scham und Schuld befreit, indem es ihr die nötige Würde verleiht und sie aufmerksam kultiviert. Befriedigung und Befriedung gehören im Tantra sehr eng zusammen.

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Im christlichen Glauben unterdrückt die Erbsünde die sexuelle Lust.
Durch Evas Sündenfall der Nacktheit beginnt die moralische Unterdrückung der leiblichen Lust durch einen rachsüchtigen Gott. Auch die Platoniker und Paulus haben dazu beigetragen. Bei den Vorsokratikern hatte sexuelle Lust noch einen ganz anderen Stellenwert.

Es gab dionysische Feste des Rausches.
Ja, und es gab auch bei intellektuellen Denkern und bei Dichtern der Antike sexuell betonte Gelage. Philosophie und der Eros waren nicht getrennt. Das macht für mich den Menschen aus. Zurück zur Gier: Wer nicht befriedigt ist, will Ersatzbefriedigung. Also kaufe ich noch grelleres Klopapier oder einen vergoldeten Ultraflachfernseher. Und jetzt kommen die Priester und die Prüden und sagen, die heutigen Probleme existieren, weil wir gegen die 10 Gebote verstoßen. Ich glaube, wir haben zu viel Angst vor unserem Orgasmusreflex, weshalb unsere Bauchmuskeln verspannt und wir voll Ärger sind. Durch Sex und Tantra wird dein Leben in dieser Hinsicht befreit und Lebenslust kommt auf.

Fehlt uns die von Nietzsche geforderte Umwertung der Werte?  
Aber sicher! Und wir sind mitten drin in diesem Wertewandelprozess, inzwischen weltweit. Dennoch bin ich kein Nietzscheaner, denn auch er war zum Teil in den Zerrbildern seiner Zeit gefangen. Überkommene Werte zurück zu wollen, ist gefährlich. Auch die Nazis im Dritten Reich wollten ein verklärtes Frauenbild wieder einrichten, prüde, alte Werte hochhalten. Die katholische Kirche will zurück zu vergangenen Werten, doch missbrauchen ihre Priester Kinder und vertuschen das gleichzeitig, weil Sex im Weltbild der Kirche immer noch eine Sünde ist.

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Neben einer freieren Sexualität gibt es heute vermehrt Gewaltpornografie, auch gefilmte Vergewaltigung. Ist das eine „normale“ Form der Sexualität?
Nein. Je unterdrückter wir in unserer Sexualität werden, desto perverser werden unsere sexuellen Vorlieben. Eine frei gelebte Sexualität will niemandem wehtun. Wenn du schon mal so Sex hattest, dass Herz und Lust zusammengeflossen sind, dann willst du die ganze Welt umarmen und fühlst dich geliebt. Da ist kein Raum für Gewalt oder sexuelle Qual. Wenn unser Wille im Kindesalter gebrochen wird, wollen wir uns später rächen. Manche eben in Form des sexuellen Missbrauchs. Sexuell Unterdrückte und Unsichere spielen in solchen Pornos mit oder stehen drauf. Sex hat nichts mit Gewalt zu tun.

Ist Sex mehr als reine Befriedigung von Trieben?
Natürlich. Sexualität ist verehrenswert und nichts Mechanisches. Sexualität macht uns gesund, friedlich, kreativ, klug, schafft Verbundenheit und Vertrauen, lehrt uns, immer einfühlsamer zu werden. Auch bei einem One-Night-Stand sollten wir unser Herz der anderen Person ganz öffnen, auch für die kurze Zeit. Loslassen zu können, spielt hier eine wichtige Rolle.

Gilt das generell im Leben?
Ja, immer dann, wenn wir an Dingen, Menschen oder Situationen zu sehr festhalten, wenn wir uns gegen den stetigen Wandel des Lebens sträuben, wenn wir alles kontrollieren wollen, anstatt zu lernen, uns auch hinzugeben. Wir akzeptieren den Tod nicht, haben Angst vor ihm, auch weil wir uns schuldig fühlen, und wir sind deshalb in Konflikten mit unseren Mitmenschen nicht mutig und liebevoll genug.

In was für einer Beziehung lebst du denn?
Ich lebe mit meiner großen Liebe, Suriya, zusammen. Wir leben zu zweit in einer offenen Beziehung. Das war von Anfang an so ausgemacht. Ich möchte aber, wenn ich 80 bin, noch in ihre Augen sehen und sagen: „Ja, da ist noch diese Glut.“ Das wünsche ich mir.

Keine Eifersucht?
Immer weniger, daran arbeiten wir jeden Tag. Der Ursprung der Eifersucht kommt vom Irrglauben des Menschen, nicht liebenswert zu sein. In der Liebe sollte es keine Konkurrenz geben, sondern Mitfreude aller Beteiligten.

Gelebter notwendiger Wertewandel?
Ja, die Umwertung aller Werte muss kommen. Denn ohne diese wird Sex weiterhin Ware sein, wird Sex skandalisiert, trivialisiert, wird ein glückliches Liebesleben eher die Ausnahme bleiben, werden letztendlich alle Probleme im menschlichen Zusammenleben nur ungenügend verstanden und bearbeitet.