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Mein Leben mit dem Opus Dei

Es ist gar nicht so einfach, als queerer Mensch in einer Hausgemeinschaft voller katholischer Hardliner zu leben.

Michelangelos ‚Die Erschaffung Adams' | Foto: Jörg Bittner Unna | Wikimedia Commons | CC BY 3.0

Jeder hat ein paar dieser Anekdoten auf Lager, die aus dem üblichen alkoholgeschwängerten Gerede junger, urbaner Erwachsener auf sozialen Events hervorstehen. Als 27 Jahre alter, queerer Mensch, der gerne Pailletten-Oberteile für Frauen, Kreolen und Lippenstift trägt, lautet meine persönliche Mic-Drop-Anekdote in etwa: „Ich habe mal ein Jahr in einer religiösen Männerwohngemeinschaft gelebt, die von der römisch-katholischen Sekte Opus Dei geleitet wurde."

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Nach diesen Worten sind alle vorangegangenen Themen für mindestens fünf Minuten komplett vergessen und die Leute bombardieren mich mit Fragen über das warum und überhaupt: Wie hast du den Großteil von 2010 in einem derartig tiefreligiösen Haushalt überleben können, in dem das Zölibat durchgesetzt wird, man nach Mitternacht nicht mehr raus durfte und zu dem Frauen der Zugang verboten war? Mein Standardantwort darauf lautet dann: „Es ist aus Versehen passiert." Was die Wirklichkeit vielleicht stark vereinfacht, aber nichtsdestotrotz akkurat wiedergibt.

Als Teenager bin ich ein leidenschaftlich religiöser Menschen gewesen. Selbst mein letztes Jahr in der Oberstufe verbrachte ich noch damit, mich dazwischen zu entscheiden, ob ich eine akademische Laufbahn einschlage, auf die Schauspielschule gehe oder einem Klosterorden beitrete. Während meiner drei Jahre an der Uni hörte ich dann aber auf, jede Woche in die Kirche zu gehen, fing mit dem Rauchen an, mit Alkohol und mit Drogen. Ich hatte mein Coming-out—erst als schwul, dann begann ich Frauenkleider zu tragen. Als ich dann auch recht spontan was mit einer Freundin anfing, ließ ich noch während der Phase mit den Abschlussprüfungen alle wissen, dass ich bisexuell bin.

Das Jahr nach meinem Abschluss entschied ich mich dann dazu einen Jura-Umschulungskurs für Graduierte in London zu besuchen. Die Rezession war allerdings eingetreten und ich hielt mich geradeso mit einem Kredit über Wasser. Bei einer Internetsuche nach billigen und befristeten Wohnräumen war ich auf das Netherhall House in North London gestoßen. Bei meiner Ankunft dort wurde ich von dem Leiter der Einrichtung in Empfang genommen, Peter. Peter fragte mich, was ich in London studieren würde, und ich erklärte ihm, dass ich das College of Law besuchen würde. „Ah, ich bin auch mal Jurist bei Allen & Overy [einer sehr prestigeträchtige Anwaltskanzlei in London] gewesen, bevor man mich darum bat, hier zu arbeiten", sagte er.

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Das—die Verwendung dieser passiven Formulierung—war mein erster Hinweise auf die Präsenz von Opus Dei („das Werk Gottes"—von seinen Mitgliedern auch gerne nur „das Werk" genannt) hinter den Kulissen meines neuen Zuhauses. Das Netherhall House wurde 1966 in North London als universitätsübergreifendes Studentenwohnheim für männliche Studierende in North London gegründet. Die Gründung erfolgte unter der finanziellen und spirituellen Führung des Opus Dei.

Es ist etwas schwierig, normalen Katholiken zu erklären, was Opus Dei genau ist—von Menschen außerhalb der katholischen Kirche mal ganz abgesehen. Die Organisation wurde 1928 von dem spanischen Priester Josemaría Escrivá—heute ein Heiliger—gegründet, dessen spiritueller Rahmen für Opus Dei in der Idee bestand, dass Heiligkeit nicht in einem Kloster oder in der Kirche gefunden werden kann, sondern durch die Ausübung von Alltagstätigkeiten. Die Vereinigung gilt als eine der umstrittensten Kräfte innerhalb der katholischen Kirche und wird von ihren Kritikern als verschlossen und elitär bezeichnet.

Opus Dei vertritt auch eine äußerst strenge Arbeitsethik, was wahrscheinlich auch der Grund ist, warum viele meiner Mitbewohner—von denen einige, oder zumindest ihre Eltern, Mitglieder waren—an einigen der prestigeträchtigsten Graduiertenkurse in London teilnahmen. Viele meiner Mitbewohner waren Spanier, Lateinamerikaner oder Polen und hatten in ihren Heimatländern hervorragende Schul- oder Universitätszeugnisse abgelegt, bevor sie zum weiteren Studieren nach London gezogen waren. Naturwissenschaften, Medizin und Ökonomie gehörten zu den am häufigsten vertretenen Fachrichtungen.

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Escrivá selbst ist der Grund für viele der Kontroversen, die Opus Dei umgeben. Mitglieder der Organisation nennen ihn auch „der Vater", aber aus historischen Dokumenten und seinen eigenen Briefen heraus lässt sich ablesen, dass ihn seine Abneigung gegen den spanischen Kommunismus in die Arme des faschistischen Diktators Franco trieb. Obwohl es sich um eine religiöse und keine politische Organisation handelt, wurde mir schnell klar, dass meine Mitbewohner alle aus reichen Familien stammten und extrem konservative Ansichten vertaten, die mit ihrer religiösen Ausrichtung einhergingen.

Die überwiegend aus Laien bestehende Organisation gliedert sich in drei verschiedene Mitgliedertypen. Peter war ein Numerarier—das ist die strengste Mitgliedschaftsform. Sie machen etwa 20 Prozent der Mitglieder des Opus Dei aus und leben nach den Regeln des Zölibats in nach Geschlechtern getrennten Opus-Dei-Einrichtungen. In der Regel gehen sie ganz normalen Berufen nach, wobei sie nicht selten sehr hohe Positionen innehaben: Ärzte, Banker, Juristen. Ihre Einkünfte händigen sie jedoch umgehend an die Organisation aus. Als mir Peter diskret mitteilte, dass man ihn darum gebeten habe, hierher zukommen und hier zu arbeiten, meinte er damit, dass er nach vielen Jahren als gut verdienender Anwalt, während der sein komplettes Gehalt an Opus Dei übertragen hatte, eines Tages darum gebeten wurde zu kündigen und eine neue Karriere als Leiter von Netherhall zu beginnen. Wissen Peters alte Anwaltskollegen von seinem Leben jenseits der Arbeit—dem Zölibat, der lebenslangen Verpflichtung gegenüber dem Opus Dei? Es ist schwer zu sagen, aber Diskretion (oder „Geheimniskrämerei" wie einige unzufriedene Ex-Mitglieder es bezeichnen) ist ein wichtiger Aspekt der Funktionsweise des Opus Dei.

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Die Supernumerarier bilden die größte Gruppe im Opus Dei. Das sind normale Menschen, oftmals verheiratet mit Kindern, die sich in Glaubensfragen eher an Opus Dei als an ihrer örtlichen Kirchengemeinde orientieren. Die britische Labour-Politikerin Ruth Kelly, Ministerin unter Tony Blair und Gordon Brown, ist zum Beispiel eine Opus-Dei-Supernumerarierin.

Frauen waren in dem Haus nicht erlaubt—weder als Bewohnerinnen noch als Gäste. Nach sieben Jahren als verweiblichter Teenager in einer Jungenschule hatte mir die Universität viel mehr Freiheiten gegeben—nicht zuletzt wegen der Präsenz von Frauen. Jetzt, da ich wieder in so einem von Männern besetzten Raum war, konnte ich nicht mehr wirklich viel damit anfangen.

Ich hatte großen Teilen meiner Männlichkeit abgeschworen und auch wenn ich hier nicht das pubertäre Machogehabe der Schule vorfand, so war das Haus doch voller Männer, die kunstvoll eine neue Männlichkeit nachahmten—tief religiös und voller Nostalgie für eine Vergangenheit, die es so nie gegeben hatte. Einer meiner Mitbewohner zum Beispiel, Frank, war mit seinen 25 Jahren schon passionierter Pfeifenraucher. Ein anderer, Luca, sprach allen Ernstes darüber, ein Mädchen aus dem weiblichen Gegenstück zu unserem Haus zu umwerben—als würden wir in den 1940ern leben. Es gab noch ein paar andere, die mit großer Sicherheit queer waren, das aber nicht sagten. Meine Vermutungen sollten Jahre später bestätigt werden, als ich sie dann im East Bloc erblickte—einem Schwulenclub in East London. Es waren Männer, die so sehr darauf achteten, über Frauen nur voller Würde und Respekt zu sprechen, dass sie diese damit zu einem „anderen" machten; sie wurden zu etwas Fremden, das nurmehr als Projektionsfläche für die eigenen Ängste diente.

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Wenn ich sage, dass es Frauen nicht erlaubt war, das Haus zu betreten, dann ist das nicht hundert Prozent richtig. Opus Dei verfügt nämlich über einen dritten Mitgliedstypen: die Auxiliarnumerarierinnen. Diese bestehen ausschließlich aus Frauen, die ebenfalls nach dem Zölibat leben und sich vor allem um die Pflege (Putzen zum Beispiel) der Opus-Dei-Zentren und -Häuser wie Netherhall kümmern. Jeden Morgen um 9 Uhr wurde das kleine, kerkerähnliche Zimmer von Peter geöffnet—ein Signal, dass es Zeit war, für mindestens zwei Stunden meinen Raum zu verlassen. Die Tür im Erdgeschoss zum Treppenhaus blieb bis 11 Uhr abgeschlossen, damit wir nicht in Kontakt mit den unsichtbaren Frauen kommen konnten, die tagtäglich unsere Zimmer aufräumten und putzten. Einmal wurde ich jedoch aus Versehen mit eingeschlossen. Die Auxiliarnumerarierin, die mich sah, senkte sofort ihren Blick und schien sehr ängstlich. Ohne ein Wort zu sagen, rannte ich den Flur entlang in Richtung Feuerleiter.

Frauenfeindlichkeit ist einer der gängigsten Vorwürfe gegen Opus Dei. 2002 veröffentlichte ein ehemaliges Mitglied, Isabel de Armas, ihr Buch Ser mujer en el Opus Dei [Als Frau im Opus Dei], in dem sie Escrivá Frauenfeindlichkeit und Größenwahn vorwarf. Die Organisation selbst beschuldigte sie, weibliche Mitglieder zu marginalisieren und ihnen „totale Unterwerfung" abzuverlangen.

Das extrem traditionalistische Umfeld hatte auch einen Einfluss auf meine eigene Gender-Präsentation. Ich hörte auf, Make-Up zu verwenden, und trug männlichere Kleidung. Nach wenigen Wochen hörte ich auf, an den gemeinsamen Mahlzeiten teilzunehmen, obwohl ich dafür mit meinen Gebühren mitbezahlte. Ich hatte einfach niemandem am Tisch etwas zu sagen. Die „Familie", mit der ich dort zusammenlebte, war keineswegs unfreundlich und ich wurde immer mal wieder nett darum gebeten, mehr „teilzunehmen". Es war nur einfach nicht meine Familie. Die Einladungen, mich mehr einzubringen, führten nur dazu, dass ich mich über die Advents- und Winterzeit immer mehr in mein Zimmer zurückzog. Ich spielte auch mit dem Gedanken, nach Weihnachten dort auszuziehen, aber die Kosten hinderten mich und ich hatte ja auch immer noch meinen Kurs an der Uni.

Als dann der Frühling kam, wurde ich ein- oder zwei Mal in meinem Zimmer von einem Mitbewohner besucht—einem Polen, der genau so wenig wie ich hier rein zu passen schien. Er hatte damit angefangen, sich zwischendurch mit mir im Haus zu unterhalten, und am Ende lud ich ihn auf ein paar Gläser Wein in meinen Raum ein—um ehrlich zu sein auch, weil ich kein Internet hatte. Er erklärte mir, wie er gerade an seinem Master saß, aber eigentlich lieber Friseur werden wollte. Er war der Erste, der mich mit der Droge Mephedron in Kontakt brachte, die damals noch legal war und die wir uns in großen Mengen mit der regulären Post zum Haus schicken ließen. Mephedron ist eine Droge, die vor allem mit schwulem Sex assoziiert wird, was eigentlich schon ganz witzig ist, da ich sie dort ausschließlich konsumierte, um in dieser Umgebung halbwegs gesellschaftsfähig zu sein, in der Sexualität so streng gemaßregelt war, wie man sich das nur vorstellen kann.

Während unserer enthemmten Unterhaltungen erklärte er nach und nach, dass er bi war und sehr religiöse Eltern hatte, die ihn nur unter der Bedingung nach London gehen lassen hatten, dass er in einer religiösen Einrichtung wohnt. Ich konnte an seinen Ohrringen und seiner Gesichtsbehaarung sehen, dass er mit der Gemeinschaft, in der wir hier lebten, absolut gar nichts zu tun hatte. Die Wirkung des Alkohols ließ ihn fast unreal erscheinen—wie einen aus purer Einsamkeit geborenen imaginären Freund. Wir beide wussten, dass das hier nur übergangsweise war, und dass es keine wahre Freundschaft gab, die darüber hinaus gehen würde.

Wütende Ex-Mitglieder werfen Opus Dei vor, eine Sekte zu sein, und sagen, dass die Organisation mit aggressiven Mitteln Mitglieder rekrutieren würde. Ich habe keinerlei Zweifel daran, dass ein paar in meinem Jahrgang sich daran versucht haben, aber ich kann nicht wirklich sagen, dass Peter, die Angestellten oder meine Mitbewohner versucht hätten, mich zu rekrutieren. Vielleicht war ich für sie auch einfach ein hoffnungsloser Fall—auch wenn sie zu höflich waren, das geradeheraus zu sagen. Mein Aufenthalt in Netherhall war durchaus eine spirituelle Reise für mich gewesen, nur eben nicht auf diese Art. Umgeben von Männern, die die beste Form von Männlichkeit lebten, die ich mir persönlich vorstellen konnte, fand ich das gleichzeitig alles unglaublich befremdlich. Ich erkannte ein für alle Mal, dass dieses Geschlecht in meinen Augen nicht von der Religion erlöst werden konnte.

Escrivá, der Vater, hat sich Überlieferungen zu Folge so hart mit Seilen geschlagen, um sich zu kasteien, dass in seiner Wohnzelle regelmäßig alles voller Blut war. Weniger schwerwiegende körperliche Selbstzüchtigung wird dort auch heute noch praktiziert. Meine größte Erkenntnis aus meiner Begegnung mit Opus Dei war die, dass ich mich mein ganzes Leben lang mental, wenn nicht sogar körperlich, strafen könnte. Ich verlies Netherhall schließlich in dem Wissen, dass der Katholizismus immer eine wichtige Rolle für mich spielen würde, aber dass ich seine Alltagsrealität transzendiert hatte und nicht länger nach seinen Grundsätzen lebte.