Menschen

Selbstverletzung: Durch meine Narben fühlte ich mich weniger männlich

Menschen mit Borderline-Persönlichkeitsstörung nehmen Gefühle wie Wut oder Trauer intensiver wahr. Ich war damit überfordert und verletzte mich selbst.
Eine Collage mit sorgenvoll blickenden Männeraugen und über dem Gesicht zusammengeschlagenen Händen
Augen: imago images | Westend61 | Hände: imago images | Photocase | Collage: VICE 

Leidest du unter einer Borderline-Persönlichkeitsstörung, selbstverletzendem Verhalten oder sorgst dich um einen nahestehenden Menschen? Die Nummer der Telefonseelsorge in Deutschland ist 0800 111 0 111. Die Borderline-Plattform hat bundesweite Anlaufstellen für Menschen mit Borderline-Persönlichkeitsstörung aufgelistet. Die Nummer der Telefonseelsorge in der Schweiz ist 143. In Österreich erreichst du den Notfallpsychologischen Dienst unter 0699 18 85 54 00.

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Achtung, dieser Text enthält Details über selbstverletzendes Verhalten. Bitte beachte, dass er dich triggern könnte, wenn du selbst betroffen bist oder warst.

Hätte ich doch nur in die Wand geboxt. Boxen ist männlich. Stattdessen lege ich die Rasierklinge weg, setze mich auf den Boden des Balkons, reiße das letzte Stück Papier von der Küchenrolle. Es brennt, als der Stoff die Wunde berührt. Muss das genäht werden? Ich habe die Schnitte parallel auf meinen Oberschenkeln platziert, präzise wie ein Bauzeichner. Alle werden kapieren, dass das kein Unfall war. Wie erkläre ich das bloß meinen Eltern, Freunden, dem Hausarzt, der Fußballmannschaft?

Vier Jahre lang ging das so. Vier Jahre lang habe ich mich selbst verletzt. Ich leide an einer Borderline-Persönlichkeitsstörung. Menschen mit BPS nehmen Gefühle wie Wut, Trauer, aber auch Freude extrem intensiv wahr. Damit sind sie teilweise überfordert. Zu welchem Verhalten das führt, ist von Mensch zu Mensch verschieden. Manche verletzen sich selbst, so wie ich.


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Als ich mich mit 20 Jahren das erste Mal selbst verletzte und mich mein Mitbewohner auf dem Balkon fand, zeigte ich ihm und meinem Umfeld, dass es mir nicht gut geht. Alle waren verblüfft. Einer meiner Schnitte musste genäht werden. Während mir die Krankenschwester mit besorgtem Blick die Betäubungsspritze in die Wunde jagte, fühlte ich mich so unmännlich wie noch nie. So entstellt, so ohne Kontrolle. Tyler Durden, der von Brad Pitt gespielte Haudrauf-Mann aus Fight Club, würde sagen: Ich war am Nullpunkt angelangt. Ich hatte mich selbst mit einem Messer zugerichtet. Das machen doch nur Teenie-Mädchen, dachte ich damals, Mädels, die sich Texte von My Chemical Romance auf ihre schwarzen Converse schreiben. Doch bei mir war das anders. Als ich anfing, mich zu verletzen, war ich 20 Jahre alt und ein mehr oder weniger erwachsener Mann. Was ich mir da antat, ergab keinen Sinn.

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Das Mann-Sein war für mich schon immer ein Rätsel. Während in der neunten Klasse bei meinen Mitschülern der Bass aus der Kehle wummerte und der Bart durch die Pickelcreme schoss, konnte ich mir das Geld für Hygieneartikel sparen. "Der sieht ja aus wie 11", sagten sie in der Großraumdisco, "Ausweis bitte" beim Bierkauf an der Supermarktkasse. Also ging ich zu anderen Methoden über, um mir selbst und allen anderen zu beweisen, dass ich ein echter Mann bin. Zwo, eins, Risikoverhalten!

Du kannst dich prügeln, kannst saufen oder rasen. Trotzdem bist du für alle nur ein Draufgänger, vielleicht ein Arschloch, aber selten ein Therapiefall. Boys will be boys.

Ich begab mich immer wieder in gefährliche Situationen. Betrunken kletterte ich auf hohe Gebäude oder versuchte, mich nach einer durchzechten Nacht noch hinters Lenkrad zu setzen. Meine Freunde konnten mich davon abhalten loszufahren. Einmal schlief ich im Winter auf einer Parkbank ein. In Clubs versuchte ich oft, Frauen aufzureißen. Meistens ohne Erfolg. Ich wollte es allen zeigen: Schaut her, ich kann es trotzdem, riecht an meinen Fingern, das ist echte Vagina! Mit 16 kaufte ich das Buch eines Pick-up-Artists. Heute schäme ich mich dafür.

Niemand dachte damals daran, dass ich in Therapie gehöre – oder gar unter einer psychischen Krankheit leide. Heute weiß ich, dass auffälliges Verhalten gerade bei Männern oft nicht als Störung erkannt wird: Du kannst dich prügeln, kannst saufen oder rasen. Trotzdem bist du für alle nur ein Draufgänger, vielleicht ein Arschloch, aber selten ein Therapiefall. Boys will be boys.

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Der Geschlechterforscher Harry Friebel schreibt, dass Männer glauben, stets Täter, niemals aber Opfer sein zu dürfen. Aggression gegen sich selbst zu richten, wird mit Weiblichkeit verknüpft. Medien vervielfältigten in der Vergangenheit diese These: Ein Spiegel-Artikel aus dem Jahr 2008 trug den Titel "Warum Mädchen sich ritzen". Die SZ schrieb über das Schicksal von "Jenny", der Focus über "Emma". Das wird weder der Krankheit Borderline noch dem Symptom Selbstverletzung gerecht. Und es übt noch mehr Druck auf Männer aus, die sich selbst verletzen. Als ich mich schnitt, schrie etwas in mir: Du musst doch deinen Mann stehen! Ich hatte das Gefühl, selbst beim Verrücktsein alles falsch zu machen.

Wenn ein Mann sich selbst verletzt, dauert es deshalb oft noch länger, bis Leute das verstehen. Papa sagte, ich sollte doch mal öfters an die frische Luft gehen. Ich säße so viel vor dem Computer. Der Hausarzt sagte, so einen wie mich hätte er noch nie gesehen. Doch wirklich übelnehmen konnte ich die Hilflosigkeit niemandem. Ich verstand es ja schließlich auch nicht: Wieso bürdete ich mir dieses Leid auf?

Die Narben veränderten mein Leben. Ich wurde zum Tarnungskünstler.

Ich verletzte mich trotzdem noch ein Dutzend Mal. Meistens wenn Alkohol im Spiel war und mich ein Streit oder Liebeskummer erschütterte. Als ich meiner Mutter ein halbes Jahr nach dem ersten Vorfall mit Suizid drohte, schickte sie mich in die Klinik. Diagnose: "Emotional instabile Persönlichkeitsstörung des Borderline-Typs." Für mich war das der ultimative Vertragsbruch mit meinem Ideal von Männlichkeit, schwarz auf weiß.

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Die Narben veränderten mein Leben. Ich wurde zum Tarnungskünstler. Meine Hosen wechselte ich vor dem Sport auf dem Klo, um meine Beine nicht zu entblößen. Schwimmbäder mied ich, kurze Hosen auch. Sex durfte nur noch im Dunkeln stattfinden. Niemand sollte eine Chance bekommen, mich auf meine Narben anzusprechen. Falls trotzdem jemand meine Oberschenkel oder meinen Bauch zu sehen bekam, hieß es: Cool bleiben. Sprüche klopfen. Witzig sein. "Alte Kriegsverletzung" oder "Hab mit 'nem Tiger gekämpft" oder "Das willst du gar nicht wissen."

Gefühlt hatte ich keine andere Wahl. Im männlichen Freundeskreis bleibt die Empathie oft aus: Wenn du deine Probleme mit in die Umkleidekabine nimmst, bekommst du es bloß mit Verdrängung zu tun. Alles wird zum Gag gemacht oder ironisiert. Das ist zwar spaßig, lässt dir aber keinen Raum, um auf deine Krise klarzukommen . Heute erkenne ich, wie stark ich selbst verdrängte: Ich wollte nicht der Typ sein, der nach dem fünften Bier auf der Party anfängt zu heulen. Ich wollte der Lustige sein, der Entertainer. Am Ende landete ich oft trotzdem weinend im Treppenhaus.

In den Arm genommen werden fühlte sich oft so an, als würde ich im Schwitzkasten stecken.

Auf das Warum kann ich auch heute noch keine klare Antwort geben. Manchmal war der körperliche Schmerz die einzige Möglichkeit, ein Ablassventil für meine überbordenden Gefühle zu schaffen. Dieses Phänomen beschreibt auch Dr. Christian Klesse, Psychologe der Universitätsklinik Freiburg, in einem Artikel: "Es ist anzunehmen, dass Schmerz für Borderline-Patienten eine Erleichterung für zu starke Emotionen ist."

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Doch das Schamgefühl beim Blick auf meine Wunden löste noch viel mehr von dem Schmerz aus, den ich zu verdrängen versuchte. Manchmal war es einfach nur ein Hilfeschrei nach Aufmerksamkeit: Ich wollte mein Leid am eigenen Körper veranschaulichen. Schau her und nimm mich in den Arm! Mein Problem war, dass ich empfindlich auf Fürsorge reagierte, obwohl ich sie einforderte. In den Arm genommen werden fühlte sich oft so an, als würde ich im Schwitzkasten stecken.

Auf mir lag der Zwang, eine Geschlechterrolle zu erfüllen, die eigentlich gar nicht zu mir passte. Besonders unter Borderlinern ist das nicht selten. Betroffene Männer leeren oft lieber noch eine Flasche Wodka, statt über ihre Gefühle zu reden oder zum Arzt zu gehen. Sich einzugestehen, dass man krank ist, scheint für viele nach wie vor ein Tabu zu sein.

Männliches Leid entsteht nicht durch den Wandel des Arbeitsmarktes und schon gar nicht durch den Feminismus. Es sind veraltete Drehbücher, die Männern Rollenbilder zuschreiben. Drehbücher, die Väter an ihre Söhne vererben, die dafür sorgen, dass das Bundesliga-Spiel lauter gedreht wird, wenn der Sohn am Küchentisch weint. Wenn wir wirklich unseren Mann stehen wollen, dann müssen wir diese Drehbücher endlich in die Tonne kloppen.

Sechs Jahre nach meiner ersten Selbstverletzung bin ich zuversichtlich, mich von dem Druck gelöst zu haben. Von Heilung würde ich nicht sprechen, immerhin beschränkt sich meine Krankheit nicht auf ein Symptom. Aber ich glaube, ich habe den Mann durch den Mensch ersetzt. Heute verstecke ich meine Narben nicht mehr. Ja, es ist kitschig, aber: Sie sind ein Teil von mir geworden. Wenn ich heute auf sie angesprochen werde, such ich nicht mehr nach Ausreden. Ich sage: Ich habe mich geschnitten, weil es mir nicht gut ging.

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