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​Autistischer Affenzirkus: Warum es nicht nur um Heilung gehen sollte

In China haben Forscher autistische Affen gezüchtet, die geheilt werden sollen. Das ist in jeder Hinsicht der falsche Ansatz, sich dem komplexen Thema Autismus zu nähern.

Als AutistIn ist man es beinahe schon gewohnt, medial verhöhnt und gedemütigt zu werden. Nicht nur, dass Autismus ein fancy Schimpfwort für so ziemlich alles ist, was man abwerten möchte. Auch die Berichterstattung über Autismus an sich ist mehr als kritisch zu betrachten. Mal ist es ein bedauerlicher Einzelfall, gelegentlich eine Modeerkrankung, ein andermal eine Epidemie. Es liegt selten im Interesse des Journalismus, eine neurologische Diversität wie Autismus ohne Clickbait-gerechte Schlagzeilen und mitleiderweckenden Phrasen darzustellen.

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So entsteht in der Öffentlichkeit ein Bild, das AutistInnen irgendwo zwischen dem beängstigend hochbegabten Wunderkind mit fragwürdigem Modegeschmack und Sheldon Cooper-artigem Sozialverhalten einerseits und dem mutistischen, windeltragenden Pflegefall andererseits ansiedelt—je nachdem, welches Bild gerade die größere Aufmerksamkeit erzielen könnte.

Die Realität hingegen sieht anders aus. Kein Autist gleicht dem anderen.

Das autistische Spektrum umfasst eine ebenso vielfältige Ausprägung an Intelligenz, Persönlichkeit und Interessengebieten wie bei nichtautistischen Menschen auch. Es gibt geistig behinderte AutistInnen, es gibt hochbegabte AutistInnen und alles, was man sich dazwischen nur vorstellen kann. Manche benötigen lebenslange Pflege, andere leben selbstständig, sind verheiratet, berufstätig und haben Kinder. Wie ganz normale Menschen, kann man meinen. Ja. Wie ganz normale Menschen. Mit dem Unterschied, dass niemand Interesse daran hat, nichtautistische Affen zu züchten, um dann an der Heilung ihres Nichtautismus zu arbeiten.

Tierisch autistisch

Bereits seit längerem werden Versuche mit Mäusen durchgeführt, in deren Hirnen man durch genetische Manipulation autismusähnliche Symptome auszulösen versucht. Diese Experimente lieferten aber nur wenige verwertbare Informationen, was einige Forscher auf die Idee brachte, nicht den Versuchsansatz, dafür aber die Tierart zu ändern.

Durch den Wechsel zu Affen als Versuchstieren, die Menschen in der evolutionären Entwicklung näherstehen, erhofft man sich nun Erkenntnisse, die sich schneller auf autistische Kinder übertragen lassen. Mittels Viren wurde den Versuchstieren ein verändertes Gen in den Körper geschleust. Die Wissenschaftler des Shanghai Institutes for Biological Sciences haben laut eigenen Angaben auf diesem Wege Affen geschaffen, die eine geistige Retardierung, stereotype Interessen sowie repetitive Sprache aufzeigen. Sie laufen vermehrt im Kreis, werden aggressiv, wenn man ihnen in die Augen starrt und suchen seltener Kontakt mit anderen Tieren. Symptome also, die laut Forschungsinstitut dem Autismus ähnlich seien. Inwieweit man einen Affen dazu bringen kann, sich wiederholende Sätze zu sprechen, müsste man mir vielleicht etwas genauer erklären. Eventuell bin ich aber auch zu autistisch, um das zu verstehen.

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Autismus, das ist eine tiefgreifende Entwicklungsstörung, die bei etwa 1 Prozent der Bevölkerung vorkommt. Das Gehirn von Autisten ist, um es sehr einfach zu sagen, etwas anders vernetzt als das von NichtautistInnen. Entgegen hartnäckiger Mythen und Verschwörungstheorien wird Autismus weder von Impfungen, noch von Gluten, Industriezucker oder von zu gefühlskalten Müttern ausgelöst. Man geht davon aus, dass Autismus genetische Ursachen hat und auf das komplexe Zusammenspiel einer Vielzahl von Genen zurückzuführen ist. Autismus ist also keine Erkrankung, nichts, was man heilen kann; Autismus gilt als angeborene seelische Behinderung.
AutistInnen zeigen Eigenschaften und Verhaltensweisen, die zwar nicht bei jedem autistischen Menschen in der gleichen Ausprägung vorkommen, sich aber zu allgemein gültigen Diagnosekriterien zusammenfassen lassen.


Im Affenlabor: Tierversuche an Primaten


Um eine Autismusdiagnose zu erhalten, müssen Probleme im Sozialverhalten vorliegen, also Schwierigkeiten beim Kontakt zu anderen Menschen, zum Beispiel beim Schließen und Halten von Sozialkontakten. Der Wunsch nach dem Alleinsein ist stärker ausgeprägt als bei neurotypischen Menschen—unter anderem, weil AutistInnen Probleme mit der Verarbeitung von Reizen haben. Sie erleben Sinneseindrücke jedweder Art ungefiltert und intensiv, was für das Gehirn sehr anstrengend ist und lange Erholungszeiten erfordert. Auch in der Kommunikation gibt es Auffälligkeiten. So neigen AutistInnen dazu, auf der Informationsebene zu kommunizieren, Nonverbales nicht zu verstehen und sprachliche Feinheiten wie Ironie und Sarkasmus weniger gut, manchmal gar nicht, zu beherrschen. Bezeichnend für Autismus ist zudem die Neigung zu Ritualen, gewohnten Verhaltensmustern und ausgeprägten Spezialinteressen.

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Tierisch schwer

Es ist schwer für AutistInnen, sich in dieser Welt, die so gänzlich anders funktioniert, als es ihren Bedürfnissen entspricht, zurechtzufinden. Das betrifft das Privatleben ebenso wie den Beruf. Vor allem hochfunktionale Autisten mit durchschnittlicher oder hoch ausgeprägter Intelligenz zerbrechen oft an den Erwartungen, möglichst normal zu funktionieren und permanent Leistung zu bringen. Viele erkranken infolge des daraus entstehenden Leidensdrucks an Depressionen, ziehen sich zurück und vereinsamen.

Therapieangebote für AutistInnen sind rar und oft schädigen sie mehr, als sie helfen. Wo eine sanfte Unterstützung im täglichen Leben angebracht wäre, die den Fokus auf Selbstständigkeit und Selbstbestimmung legt, sprießen Angebote aus den Boden, die an missbräuchlichen und grausamen Drill erinnern und darauf ausgelegt sind, dass der zu therapierende autistische Mensch funktioniert und möglichst unauffällig wirkt. Auch Einläufe mit Chlorbleiche, propagiert von amerikanischen Aluhutträgern, erfreuen sich immer wieder großer Beliebtheit. Auf Kosten der AutistInnen, versteht sich, die danach zwar körperlich geschädigt, aber noch genauso autistisch sind wie zuvor. Auf Willen und Wohlbefinden des Patienten wird zu oft keine Rücksicht genommen. Elternverbände und Autistenvereine, die allesamt von neurotypischen Menschen geführt werden, legen zwar großen Wert darauf, für AutistInnen zu sprechen, nicht aber mit ihnen. Das ist bezeichnend für die landläufige Meinung, die man von AutistInnen hat.

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Tierisch schlecht

Wo Inklusion nötig ist, wo eine Eingliederung in die Gesellschaft statt eine Ausgrenzung aus dieser angebracht wäre, gibt es lediglich Ansätze, das „Problem Autismus" möglichst schnell aus der Welt zu schaffen. In regelmäßigen Abständen wird an einer Heilung gearbeitet. An einer Heilung von etwas, das genetisch verursacht ist, wie auch die Augenfarbe, die Körpergröße oder die geistige Kapazität. Auch nach einer Möglichkeit, Autismus bei ungeborenen Kindern zu diagnostizieren, wird fieberhaft gesucht. Diese pränatale Diagnose hat das Ziel, es unnötig zu machen, das autistische Kind überhaupt zu gebären.

In Österreich ist es noch immer gefühlt einfacher, einen Doktor in Nuklearwissenschaften zu machen als einen Termin für die Autismusdiagnostik zu ergattern. Diagnose- und Therapieangebote sind fest in der Hand von Vereinen, deren Vorgehen für Außenstehende nicht transparent ist. Statt praktischer Lebensunterstützung gibt es unter gewissen Umständen Hilfe durch regelmäßig wechselnde Psychologiestudenten und nette Tanzangebote mit ganz vielen anderen Menschen. Weil AutistInnen auf beides ja so viel Wert legen.

So bleiben Diagnostik und Therapie oft ein kostspieliger Luxus statt ein gesundheitlich notwendiger Prozess, der—wie in vergleichbaren Ländern auch—als Kassenleistung zu verstehen sein sollte.

All dies wirkt auf AutistInnen, egal ob niedrig- oder hochfunktional, von denen sich keiner um diese seelische Behinderung beworben hat, als wäre ihr Leben nur eines zweiter Klasse, auf keinen Fall lebenswert. Man bekommt den Eindruck, als wären sie nicht mehr als ein Problem, das es schnellstmöglich zu beseitigen gilt.
Wäre es nicht menschenwürdiger, AutistInnen als gleichwertig und ihr Leben als lebenswert anzuerkennen und weniger Energie in zum Scheitern verurteilte Heilungsmethoden dieser genetischen Diversität zu stecken? Wäre es nicht humaner, diese Ressourcen dafür zu verwenden, AutistInnen zu fördern und zu unterstützen? Ergäbe es nicht mehr Sinn, das vom Autismus verursachte Leid, das man durch die oft einseitige Berichterstattung vermittelt, zu lindern?

Man könnte beispielsweise damit beginnen, AutistInnen zu fragen, welche Bedürfnisse sie haben und ihnen dann zuhören. Auch die Affen in den Käfigen der Forschungsinstitute hätten sicher ein Interesse daran.

Marlies Hübner ist Autistin, Autorin, Bloggerin und twittert.