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Das schlimmste Wochenende seit Bestehen der deutschen Fankultur

Hunderte Festnahmen und Schwerverletzte: Eine Gewaltwelle von Fans und Polizei überzog am Wochenende die Republik. Nach den Anschlägen von Paris geht es längst nicht mehr nur um Fußball. Der ideologische Kampf ist im und ums Stadion angekommen.
Foto: twitter.com/GrobesSchnitzel

Seit Freitag, dem 13., ist vieles kaputt gegangen. Terroristen wollten einen Anschlag im Stade de France bei einem unbedeutenden Freundschaftsspiel verüben. Vier Tage später wurde das Länderspiel in Hannover zwischen Deutschland und den Niederlanden wegen Terrorgefahr abgesagt. Wir wissen nicht, von wem die Gefahr ausging und welche Dimension der Anschlag gehabt hätte. Weil Innenminister de Maizière uns die Akzeptanz der Wahrheit nicht zutraute und uns stattdessen mit seiner Aussage erst Recht Angst einflößte, erreichte er einen höchst misslichen Nebeneffekt: Ein ganz frischer Wind in der Kultur um die Sicherheitsdebatte in Stadien. Einer, der von rechts kommt.

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Rudi Völler fordert die Einführung einer personalisierten Fankarte nach italienischem Vorbild. Wolfang Holzhäuser, auch von Bayer Leverkusen, will einen Fingerabdruckscanner am Stadioneingang und Clemens Tönnies, Schalker Aufsichtsratsvorsitzender und Fleisch-Mogul, will die Wurst künftig schon am Stadiontor sehen—er forderte einen Nacktscanner für Fans. Was bei 60.000 Fans Auf Schalke logistisch natürlich ein Klacks wäre. Natürlich forderten auch Verbände und Vereine von den Fans, auf Pyrotechnik und Böller zu verzichten.

Während Deutschland für seine Fankultur und die teilweise sehr mühseligen Kompromiss-Entscheidungen zwischen Fanvertretungen und Verbänden und Vereinen gelobt wurde, könnte all das erst mal in den Hintergrund rücken. Denn der Fußball ist als unverhältnismäßiger Aufmerksamkeitsmagnet ein perfektes Ziel für terroristische Anschläge. Die Generalisierung ist das Problem an der Geschichte. Die Behörden sehen sich bevollmächtigt, alles zu tun, um Menschenleben zu retten und Gewalt zu verhindern. Wenn man Tausende Fans wegen eines Tatverdachts aussperrt, dann hat man als Fan nun mal keine Handhabe. Ein gerettetes Menschenleben ist mehr wert als jedes versaute Fußballwochenende.

Diese Herren haben wir am Wochenende vor den Stadien antreffen dürfen. Foto: Imago

Was allerdings nichts bringt, sind die Aussagen wie von Völler oder Tönnies, die eine Ableitung der versuchten terroristischen Angriffe eins zu eins auf die deutschen Fankultur bemühen. Eine personalisierte Fankarte würde einen Selbstmordattentäter wohl nicht stoppen, stattdessen hat sie in den anderen Ländern dem Fußball bereits massiv geschadet und wurde sogar in der Türkei für verfassungswidrig erklärt. Solche Aussagen sind die pure Provokation für Menschen, denen ihr Verein und der Fußball alles bedeuten.

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Vielleicht ist es so zu erklären, nicht aber zu entschuldigen, wie gewalttätig sich viele Fans am Wochenende in und um die Stadien der Republik präsentierten. Es gab Hunderte Festnahmen, insgesamt fünf der neun Spiele in der Bundesliga fanden ohne Gäste-Ultras statt. Entweder wurden sie auf der Anreise von der Polizei zurückgeschickt, erhielten vor dem Stadion einen Platzverweis oder verließen aus Solidarität das Stadion. Die Polizei reagierte rigoros und häufig viel zu überzogen. Doch die Qualität der Gewalt war absolut erschreckend. Die deutsche Fankultur hat nicht verstanden, das besonders in Zeiten von Terrorwarnungen und verängstigt-emotionalen Bürgern, solche Gewalttaten nur Wasser auf die Mühlen von Sicherheitsfanatikern und Modernisierungseiferern ist. Der Graben zwischen Polizei und Fans ist tiefer denn je, nur die Beamten sitzen am längeren Hebel. Die Aktionen am Wochenende haben dieser bunten und freien deutsche Fankultur geschadet, ihr Sympathiepunkte gekostet und durch das fehlende Feingefühl die ganze Ignoranz mancher Idioten offenbart, die jetzt Millionen friedlicher Fans ausbaden müssen.

Wir haben die wichtigsten Ereignisse vom Wochenende zusammengefasst:

196 Festnahmen und zahlreiche Verletze bei Massenschlägerei an einem Schalker Kassenhäuschen

Vor dem Spiel zwischen Schalke und dem FC Bayern kam es zu heftigen Schlägereien und einem versuchten Sturm des Kassenbereichs vor der Schalker Heimkurve. Der Sturm ging von befreundeten Fans des FC Bayern und Anhängern des VfL Bochum aus. Die Polizei sprach von einem „extrem gewalttätigen Übergriff". 196 Fans wurden daraufhin vorläufig festgenommen und zahlreiche Menschen wurden verletzt.

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Ein Video zeigt Teile der sehr gewaltsamen Auseinandersetzungen von Schalkern mit den Bayern- und Bochum-Fans. Erst als die Schalker Ultras in den Bereich kamen, flohen die Angreifer. Der FC Bayern distanzierte sich von diesen Fans, entschuldigte sich und will gegen die „Gewalttäter vorgehen". Wie sehr die Vorfälle nun dem Fußball anhaften, verdeutlicht eine Aussage eines „hochrangigen" Polizeibeamtens in der Bild-Zeitung: „Es ist unfassbar, dass diese Randalierer durch ihre Aktion gerade wegen der erhöhten Terrorgefahr eine Massenpanik in Kauf genommen haben. Dann hätte es Tote geben können."

40 vermummte Gladbacher griffen Zug mit Hannover-Ultras an

Auch vor dem Spiel in Mönchengladbach mussten mehrere Fans noch vor Anpfiff wieder die Heimreise antreten. Nach Polizeiangaben haben rund 238 Anhänger aus Hannover, wovon 28 bekannte Gewalttäter Sport gewesen sein sollen, in einer Regionalbahn randaliert. Die zahlenmäßig unterlegenen und „normalen" Gladbach-Fans sollen auf der Fahrt von den Hannoveranern gewaltsam untersucht und Dauerkarteninhaber verprügelt worden sein. Anschließend wurde die Notbremse des Zuges gezogen, zahlreiche Scheiben der Bahn eingeschlagen und es kam mit etwa 30-40 vermummten Gladbacher Fans außerhalb der Bahn zu einer Schlägerei.

Sowohl die Fanhilfe Hannover als auch die beiden offiziellen Fanbeauftragten von Hannover 96 widersprechen hingegen der Mönchengladbacher Polizei. Die Fanhilfe schreibt in einer Stellungnahme, dass es „keine verabredete Drittortauseinandersetzung gegeben" habe. Ebenso spricht sie von einer „ruhigen Situation" beim Eintreffen der Polizei und kritisiert die Beamten scharf, dass die etwa 200 Fans nicht mit Shuttlebussen ins Stadion gebracht wurden, sondern mit einem Zug zurück nach Hannover mussten. Die Fanbeauftragten des Vereins erklärten auf der Website des Vereins ebenfalls, dass es nach wie vor keine Bestätigung gebe, dass die Notbremse von einem 96-Fan gezogen wurde. Ebenso seien die Fans im Zug von den Gladbachern von außen angegriffen worden und diese sorgten auch für die massive Sachbeschädigung an der Bahn.

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51 Bremer Schwarzfahrer demolieren Zug

Auf dem Weg nach Hannover gab es mehrere Auseinandersetzungen zwischen Fans von Werder Bremen und der Polizei. Weil laut Polizeiangaben von 113 Fans 51 keinen gültigen Fahrschein vorzeigen konnten, rief eine Schaffnerin die Beamten, die die Personalien der Fans kontrollierten. Aus Verärgerung über die Festsetzung demolierten andere Werder-Fans eine Bahn, leerten Feuerlöscher und kamen mit der Polizei aneinander.

Nur mal so, um zu zeigen, was parallel zum Werder-Spiel in Wolfsburg am Hannoveraner Hbf mit Fans passiert. #wobSVW pic.twitter.com/xNoqKg7ojo
— Grober Schnitzer (@GrobesSchnitzel) 21. November 2015

Werder-Fans berichten hingegen von massiver Polizeigewalt und ungerechtfertigt brutalem Einsteigen gegen die Fans. Im Weser-Kurier erklärte ein Werder-Ultrà, dass aber vor allem die Polizei durch Pfefferspray einige Fans verletzte und den betroffenen Anhängern erste Hilfe verweigerte. Nachdem die Polizei 128 Fans in Gewahrsam nahm, mussten zahlreiche Anhänger noch vor Anpfiff des Spiels zurück nach Bremen fahren. In Bremen schritt die Bremer Polizei dann ein, weil Werder-Ultras „unmittelbar die Fahrbahn und die Straßenbahnschienen betreten" hatten. Ein Stein soll geworfen worden sein und mehrere Fans wurden festgenommen.

Magdeburger Fans stürmten den Platz und prügelten auf Ordner ein

In der dritten Liga stürmten Magdeburger Fans kurz vor Schluss der Partie das Feld und sorgten für eine knapp sechsminütige Spielunterbrechung. Nachdem die FCM-Fans ein Tribünentor öffneten, kam es zu einer Prügelei mit dem Ordnungsdienst. Die Magdeburger Spieler konnten weitere Auseinandersetzungen verhindern, indem sie ihre Fans beruhigten.

Der Verein reagierte in einem offenen Brief auf die Geschehnisse. „Wieder einmal wurden während eines Meisterschaftsspiels seitens unserer Fans Grenzen überschritten und somit Regeln gebrochen", so der Verein. Des Weiteren wurde erklärt: „Leider müssen wir in Anlehnung der gestrigen Vorkommnisse feststellen, dass einige Wenige unserer Fans noch nicht drittligatauglich sind und mittels ihres Verhaltens die aktuellen Ziele unseres Vereins stark gefährden".

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