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The Moral Compass Issue

Athenische Anarchie

Letztes Jahr verfeinerten die Griechen ihr Chaos-Rezept: Man fülle einen Platz mit wütenden Menschen, gebe ein paar Holzstangen dazu und der Spaß ist vorprogrammiert.

Anfang dieses Jahres verfeinerten die Griechen ihr Chaos-Rezept: Man fülle einen Platz in der Innenstadt mit Tausenden wütenden Menschen, gebe dann ein paar durchgeknallte Kommunisten dazu, die die Horde mit dicken Holzstangen angreifen und flankiere sie mit Anarchisten, die Mollis werfen. Wenn die Masse dann schließlich in Panik gerät und sich alle gegenseitig über den Haufen rennen, wird die Polizei geholt, um die Demonstranten mit Tränengas einzudieseln. Die griechischen Proteste richteten sich gegen die Sparmaßnahmen, die dem Parlament vom griechischen Premierminister Papandreou vorgesetzt wurden. Vorher hatte er verzweifelt versucht, die EU davon zu überzeugen, seinem total bankrotten Land aus der Patsche zu helfen. Als wir in Griechenland ankamen, türmte sich überall Müll in den Straßen und die Menschen machten einen sichtlich deprimierten Eindruck. Die Proteste wurden von einem ziemlich unsoliden Bündnis aus verschiedenen Fraktionen getragen: Kommunisten, die vorzugsweise alleine marschieren; Gewerkschaftsmitglieder, die bereits vor einer Woche mehrere staatliche Gebäude besetzt hatten; Studenten und „Desperados“—normale Griechen, die keiner besonderen Ideologie anhängen, sondern einfach in einem Land leben möchten, das nicht von korrupten Idioten regiert wird; und zu guter Letzt die Anarchisten, die zu spät zur Demo kamen, weil sie von den Kommunisten aufgehalten wurden. Liebhaber von Krawallen wissen, dass die griechischen Anarchisten berüchtigt sind für ihre Aktionen. Dürfte ich eine der Gruppen zum Superstar wählen, dann wären es die Anarchisten. Die meisten Leute hassen sie, aber es gibt auch solche, die die rotznasige Infanteriedivision aus Tennage-Crust-Punks für die Speerspitze des anhaltenden Kampfes gegen Unterdrückung halten. Die anarchistische „Bewegung“ hat hier vor allem im Jahr 2008 ordentlich Aufwind bekommen, als ein 15-jähriger Anarcho-Teenager von einem Polizisten erschossen wurde. Ihr Einfluss auf die griechische Politik geht jedoch mindestens bis auf die Studentenproteste von 1973 zurück. Damals verbarrikadierten sich Studenten im Polytechnion in Athen und demonstrierten gegen die rechte Militärdiktatur. Bei der Räumung des Geländes rollte die Armee mit einem Panzer über das Universitätstor und tötete dabei 18 Menschen, die sich am Tor festgebunden hatten. Nach diesem Vorfall entstand eine nationale Bewegung, die der rechten Junta endlich ein Ende setzen sollte. Jetzt ist die Universität wieder besetzt und die Anarchisten und Sozialisten gratulieren sich bereits, weil sie davon ausgehen, dass Griechenland schon bald wieder von einer Explosion der Gewalt zerrissen wird—wie in den glorreichen Tagen von 1973. Dass die griechische Polizei wohl die verhassteste in ganz Europa ist, kommt da gelegen. Jeder, mit dem ich gesprochen habe, geht davon aus, dass die MAT (Bereitschaftspolizei) Verbindungen zur Neonazigruppe „Goldenes Morgengrauen“ hat. Am ersten Tag des organisierten Streiks schien die ganze Stadt voll von Demonstranten zu sein. Es mag romantisch klingen, aber das sah nicht nach einer einfachen Demo aus, sondern nach Revolution. Ein klares Ziel gab es zwar nicht, aber alle waren sich einig, dass das Leben ohne die herrschende Regierung besser wäre. Die meisten der Kämpfer schienen mittleren Alters zu sein, Jahrgang ’73, mit deutlichem Bauchansatz. Wie Profis brachen sie riesengroße Steine in kleine wurfgerechte Stücke. Die Polizei warf die Steine zwar auf uns zurück, aber es war trotzdem eine großartige Gemeinschaftserfahrung. Der zweite Tag war nicht ganz so erfreulich. PAME, eine kommunistische Subgruppe, hatte sich vor das Parlament gestellt und allen anderen den Durchgang versperrt. Die Anarchisten ließen sich das nicht bieten und schmissen Steine und Brandbomben auf jeden, der ein Gesicht hatte. Nach einer Stunde übler Auseinandersetzungen wurde die PAME von der MAT entfernt—und ersetzt. Die Desperados und Anarchisten flohen, und es wurde von „Bürgerkrieg“ geredet. Ein Anarchist rief: „Es gibt kein Morgen.“ Leider war das ein großer, großer Irrtum. VICE News Special Teenage Riot: Athens jetzt auf VICE.com anschauen.

Fotos von Henry Langston