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Das passiert, wenn Unternehmen den Unterschied zwischen Sexismus und Sexualität nicht kennen

An Berliner Bahnhöfen noch OK, in Münster nicht mehr: Die Plakate zur Ausstellung "Homosexualität_en" sind für die Deutsche Bahn plötzlich zu sexistisch. Will man nicht am Zuggleis hängen haben.

ARTIST CRUSH: Heather Cassils — Mistress Violet (@MsVioletMays)19. November 2015

Was ist Sexismus? Oder anders formuliert: Wann ist Werbung sexistisch? Danach gefragt poppen uns intuitiv stereotype Werbeplakate mit leicht bekleideten, dünnen Frauen und ihren prallen Brüsten auf, die völlig zusammenhangslos Produkte wie Fischbrötchen oder eine industrielle Konturmessmaschine bewerben.

Doch danach gefragt, ob wir einen Kanon mit Kriterien aufstellen könnten, wonach sich Werbung als sexistisch oder eben nicht sexistisch klassifizieren ließe, käme so mancher von uns vermutlich ins Schwimmen. Wo und wie die Grenzen setzen? Wann ist Haut, Po oder Nippel noch OK und wann nicht mehr?

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In Deutschland beschäftigt eine solche Debatte gerade das Schwule Museum* in Berlin, die Stadt Münster, die Deutsche Bahn und explizit das LWL (Museum für Kunst und Kultur). Beim Corpus Delicti handelt es sich um ein Plakat des_der kanadischen Künstler_in Heather Cassils, das aus der Serie "CUTS: A Traditional Sculpture" stammte. Damit wirbt das LWL für die am 12. Mai eröffnende Ausstellung "Homosexualität_en", die bereits schon letztes Jahr im Berliner Schwulen Museum* und dem Deutschen Historischen Museum präsentiert wurde. Das entsprechende Plakat hing in allen Bezirken und Straßen Berlins, inklusive den Bahnhöfen, wie auch in der S-Bahn, die zur Deutschen Bahn gehört. War alles kein Problem, es gab keine Beschwerden. Bis jetzt.

Wie nun das Schwule Museum* in einer Pressemitteilung berichtet, habe das Fachreferat Media & Buch (zuständig für die Motivgenehmigung bei der Deutschen Bahn AG) im Vorfeld der Ausstellungseröffnung in Münster veranlasst, das identische Plakatmotiv nicht in den regionalen Bahnhöfen aufzuhängen, da es als "sexualisiertes" und "sexistisches" Bild den Richtlinien des Deutschen Werberates widersprechen würde.

Die Museen entgegneten, dass Ausstellung und Plakat alles andere als "sexistisch" seien, ja, dass mit dem Projekt deutliche Geschlechternormen in Frage gestellt und ihnen gleichzeitig die Formenvielfalt von Sexualitäten und Geschlechtlichkeit entgegengestellt würden. Ziel der Ausstellung sei das Öffnen von Sexualitäten und Geschlechternormen, wie sie sich gerade auch allzu häufig in der Werbung als ausschließlich binär manifestieren.

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Die Bahn sah das anders und wies die Firma Ströer an, die entsprechenden Plakate nicht in ihren Bahnhöfen aufzuhängen. Ströer ist dieser Anordnung gefolgt und hat dem LWL-Museum Ersatzflächen in der Stadt angeboten.

— DB Personenverkehr (@DB_Bahn)10. Mai 2016

Es scheint, als ob die Deutsche Bahn hier Sexualität mit Sexismus gleichsetze, als ob nackte Haut schon kategorisch diskriminierend sei und die Verantwortlichen auch der Frage nach dem Kontext—nämlich einem künstlerischen—keine große Bedeutung beigemessen hätten. Denn gelten für Kunst nicht ohnehin andere Maßstäbe als für mit Titten bekränzte Media-Markt-Plakate?

Für die Deutsche Bahn offensichtlich erst einmal nicht. Als Argument schob man den Deutschen Werberat vor, wobei nicht ganz klar war, ob dieser tatsächlich das Plakat so bewertete, wie die Bahn es glaubte zu wissen. Wir fragten bei Julia Busse, der Geschäftsführerin und Pressesprecherin des Deutschen Werberats, einfach mal nach: "Das Plakat hing ja schon damals in Berlin aus und es gab keine Beschwerden dazu. Und die Einschätzung, dass das unseren Richtlinien widersprechen würde, ist eine Einschätzung von dritter Seite. Wir haben eine solche Einschätzung nicht abgegeben. Und grundsätzlich gilt: Das Verbot von sexistischer Werbung beschränkt natürlich in keiner Weise die Auseinandersetzung mit Sexualität. Wir bekämpfen zwar sexistische Werbung, aber der Werberat beschränkt sicherlich nicht, dass man sich auch in der Öffentlichkeit mit Sexualität generell auseinandersetzt. Und wenn ich das Motiv richtig verstehe, soll es genau dazu einladen: Sich mit nicht klar einzuordnenden Geschlechtern auseinanderzusetzen."

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Vom Schwulen Museum* angesprochen, warum die gleiche Werbung auf den bahneigenen S-Bahnhöfen in Berlin kein Problem war, erklärte die Deutsche Bahn, dass die Plakate damals "durchgerutscht" wären und ihre Genehmigung im letzten Jahr ein Versehen seitens der Bahn gewesen sei.

Nun aber scheint es doch ein Einlenken von der Deutschen Bahn zu geben. Auf Anfrage des Tagesspiegels gab man zu verstehen: "Nach Gesprächen mit dem Landesmuseum in Münster hat die Deutsche Bahn ihre Bedenken gegenüber dem Werbemotiv zur Ausstellung Homo-Sexualitäten zurück gestellt und ihren Werbepartner entsprechend informiert."

Na also, geht doch. Und so lange sich direkt beim zentralen Eingang am Berliner Hauptbahnhof trägerlose Damen auf Werbeplakaten den sprachlosen Besuchern entgegenräkeln, wird in Münster doch etwas nackte Kunst wohl auch noch drin sein.

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