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Die Utopie des Jacob Appelbaum

Wir haben mit dem renommierten Aktivisten über Internetüberwachung, die Militarisierung sowie die Freiheiten des Cyberspace gesprochen.

Jacob Appelbaum wurde einmal der „gefährlichste Mann im Cyberspace“ genannt. Aber diese falsche Bezeichnung ärgert ihn. Denn in Wirklichkeit ist Appelbaum einfach ein renommierter Experte für Internetsicherheit, der zufällig auch einer der Entwickler des Tor-Netzwerks und einer der Mitarbeiter von WikiLeaks ist – im Moment schreibt er zusammen mit Julian Assange ein Buch. Außerdem ist er auch ein enger Freund von Laura Poitras, der Vertrauten von Edward Snowden, mit der er gerade für den Spiegel Nachforschungen zu den NSA-Verbindungen anstellt.

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2010 geriet Jacob wegen seiner Verbindung zu WikiLeaks in das Visier des US-Geheimdienstes. Ein paar Mal wurde er verhaftet und wiederholt wurden seine elektronischen Geräte beschlagnahmt. Nicht besonders angetan von der Verfolgung, die er in den Staaten erlebte, zog Appelbaum nach Deutschland. Dort wurde er von fast allen politischen Parteien als Computerexperte zu Rate gezogen. Daneben beriet er Macher von Filmen über Internetüberwachung und digitale Rechte.

Am Tag unseres Interviews gelang es Appelbaums Kollegen vom Chaos Computer Club, dem größten Hacker-Kollektiv Europas, den Fingerprint-Sensor des iPhone 5 zu überlisten. Appelbaum versprach, dass dem Tor-Netzwerk noch mehr große Entwicklungen bevorstehen. Wir trafen uns, um uns über die individuelle Freiheit und ihre Grenzen in unserer modernen Welt zu unterhalten.

VICE: Wie lässt sich das Internet deiner Meinung nach am besten verstehen, wenn man es nicht nur als „Cyberspace“ auffassen will?
Jacob Appelbaum: Es gibt im Grunde keine Trennung zwischen der realen Welt und dem Internet. Wir beginnen gerade zu beobachten, wie sich dieser Raum militarisiert. Das bedeutet nicht, dass die Entwicklung gerade erst begonnen hat, sondern nur, dass wir angefangen haben, sie als unwiderlegbare Tatsache zu begreifen („Diese verrückten paranoiden Leute waren nicht verrückt und paranoid genug!“). Im Westen beobachten wir eine extreme Kontrolle des Internets—zum Beispiel durch GCHQ- oder NSA-Spähsoftware wie Quantum Insert, oder das Tempora-Programm. Bei diesen Programmen geht es nicht darum, das Internet zu kontrollieren, sondern darum, mit Hilfe des Internets bestimmte Orte und Menschen zu kontrollieren. Das heißt, das Internet wird als gigantischer Überwachungsapparat genutzt. Das ist besonders deshalb problematisch, weil du dich mittlerweile nicht mehr aus dem Apparat ausklinken kannst.

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Offensichtlich handelt es sich um ein fehlerhaftes System, sonst wäre die Überwachung ja gar nicht aufgefallen.
Ja, stimmt, die Fehler sind ein wichtiger Punkt. Das alles überwachende Auge wird als perfekte Lösung präsentiert, was es in Wirklichkeit aber nicht ist. Im Gegenteil stellt es eine existenzielle Bedrohung für die Demokratie dar. Man kann nicht über das größte Spionagesystem verfügen, das es je gab, und behaupten, dass es nicht missbraucht wird.

Ist denn ein System, in dem auch Betrügern eine absolute Anonymität garantiert wird, die einzige Alternative?
Es ist wichtig zu verstehen, dass es verschiedene Arten der Anonymität gibt. Wenn wir zum Beispiel in diesem Restaurant in Berlin sind und keiner von uns sein Handy angeschaltet hat, sind wir geographisch gesehen anonym. Trotzdem würden wir nicht einfach die Zeche prellen. Ganz ähnlich gibt es auch keinen Grund dafür, dass mein Provider weiß, welche Webseiten ich besuche oder wo ich mich befinde. Dass diese Informationen unbekannt bleiben, bedeutet nicht, dass zwangsläufig etwas Schlimmes passiert. Selbst wenn du vielleicht hin und wieder auf nerviges Verhalten stößt—die Alternative wäre viel schlimmer. Das Internet als gigantischer globaler Spähapparat ist nichts, was wir unserer Gesellschaft wünschen sollten.

Was sagst du zu den Leuten auf Silk Road, die, bis zur Schließung der Website, Waffen und Drogen verkauft haben und Mordaufträge entgegengenommen haben?
Zeig mir einen modernen Staat, der nicht mit diesen Dingen zu tun hat—Großbritannien oder die Vereinigten Staaten können es sicherlich nicht behaupten. Diese Dinge stellen ein Problem dar. Doch im Vergleich dazu, was es bedeuten würde, das Recht aufzugeben, frei zu sprechen oder zu lesen, sind sie winzig klein. Anstatt danach zu fragen, was schlechte Menschen im Internet anstellen können, sollten wir eher darüber nachdenken, welche Rechte sich eine freie Gesellschaft leisten sollte.

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Viele Leute scheinen zu denken: „Ich fühle mich durch die NSA oder das GCHQ nicht gefährdet, weil ich nicht wichtig genug bin.“
Genau, wozu brauchen wir überhaupt eine Freiheitsurkunde oder eine Magna Carta, nicht wahr? Die Leute sagen: Ich werde schon keinen Ärger mit dem Staat bekommen, weil ich noch nie etwas Verbotenes getan habe. Aber wir haben grundlegende Freiheiten in unseren Gesetzen und Gründungsdokumenten verankert, weil wir eben nicht wissen, was die Zukunft bringen wird. Man sollte im Voraus planen.

Glaubst du, dass einige der Storys darüber, dass das Tor-Netzwerk gar nicht so sicher ist, wie es den Anschein erweckt, den Nutzen des Netzwerks diskreditieren sollen?
Nein, ich glaube nicht, dass sie darauf abzielen. Die Leute erzählen die Mann-beißt-Hund-Geschichte einfach nur so oft sie können. Viele Journalisten lieben es, in ihren Artikeln schlecht über Tor zu sprechen. Das sind genau dieselben Journalisten, die keine Ahnung von Verschlüsselung oder Internetdatenschutz haben und Tor nicht einmal benutzen könnten, wenn das Leben ihrer Informanten auf dem Spiel stehen würde. Wir werden sehen, dass Tor es besser als alles andere schafft, Anonymität zu gewährleisten. Die Leute sagen: „Benutz doch ein VPN [dabei bleibt die Identität des Users bei der Verbindung mit einem Proxy-Server verborgen], doch die meisten davon haben im Grunde genommen keine Ahnung, worüber sie reden. Ein VPN garantiert keine Anonymität.“

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Julian Assange in seinem Versteck in der ecuadorianischen Botschaft. (Foto von Henry Langston)

Nehmen wir mal an, du bist in Saudi-Arabien und willst einfach nur einen Porno kucken oder eine verbotene Webseite wie Wikipedia besuchen. Dann wäre VPN doch die perfekte Lösung, oder nicht?
Ja, es sei denn, du arbeitest für ein saudisches Ölunternehmen und wirst von der NSA überwacht. Sie können die Tatsache, dass du ein VPN verwendest, für einen Man-in-the-Middle-Angriff nutzen und deinen Traffic isolieren, ohne dass es jemandem auffällt. Unterschätze Big Brother nicht, er fickt jeden.

Was sagst du zum Hack des iPhone-Sensors?
Das ist Wahnsinn. Ich weiß nicht, was ich dazu sagen soll.

Apple zufolge ist der Fingerabdruck auf dem Handy verschlüsselt und bleibt auf dem Handy.
Na ja, vielleicht bis zum Jailbreak. Ich bin entsetzt darüber, dass Apple—als Partner des Prism-Programms—in dieser Ära der massiven Spähaktionen die absolute Überwachung so weit treibt, dass bei jeder Entsperrung des Handys ein elektronischer Fingerabdruck genommen wird. Vielleicht ließ es sich mit Steve Jobs nicht besonders angenehm zusammenarbeiten, aber ich kann mir nicht vorstellen, dass es so etwas bei ihm gegeben hätte. Weder das noch das goldene iPhone.

Ein goldenes iPhone und ein Fingerabdruckscanner auf einmal? Steve Jobs muss sich dabei im Grabe umdrehen. Ich glaube, dass die Leute diesen Dingen sehr optimistisch gegenüberstehen und ich habe eigentlich kein Problem mit diesem Optimismus. Doch ab einem gewissen Punkt wird Optimismus zum Solipsismus und du glaubst, dass dein Bewusstsein die gesamte Realität abdeckt. Wir können die NSA oder die Chinesen oder das GCHQ nicht daran hindern, unsere Computersysteme auszuspähen. Gerade deshalb sollten wir wahrscheinlich im Blick behalten, wie umfassend deren Systeme sind.

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Was können wir tun, um das Spiel zu drehen?
Es ist nicht klar, was getan werden muss. Die Sache an sich ist nicht einfach zu beobachten. Es ist nicht klar, was gerade passiert, geschweige denn, was getan werden muss. Durch GCHQ und die DA-Notice, mit der man die Berichterstattung über die Überwachung zensieren wollte, wird eine demokratische Debatte in Großbritannien unterdrückt. Deshalb hört man so gut wie nichts aus Großbritannien, während in Deutschland und den USA eine große Debatte darüber geführt wird.

Wir haben noch nicht ganz Zustände wie in Osteuropa erreicht. In Griechenland spricht die Goldene Morgenröte jetzt davon, Immigranten in Seife zu verwandeln, um damit die Straßen sauberzumachen. Das Schlimme ist, dass diese Art des Klassen- und Rassenhasses durch Knappheit hervorgerufen wird und diese in einigen Fällen auf völlig undemokratische Weise zustande kommt. Im Moment sind nur bestimmte Menschen von den Einschränkungen betroffen, und das ist sehr gefährlich.

In einem Tweet hast du vor Kurzem geschrieben: „Wenn ich großartige Musik oder Bücher wiederentdecke, merke ich, wie die Unterdrückungstaktik der USA mein gesamtes Leben beeinflusst hat.“ Kannst du das ausführen?
Ja, klar. Als ich vor Kurzem ein Buch las und David Bowie hörte, dachte ich: ,Wahrscheinlich werde ich gerade von vielen Seiten überwacht und das wird sich in naher Zukunft wahrscheinlich auch nicht ändern.‘ Aber in den USA brach der Geheimdienst mit ziemlicher Sicherheit in mein Apartment ein. Außerdem wurde meine Mutter—angeblich aus anderen Gründen—verhaftet und ins Gefängnis gesteckt und mindestens zweimal zu meiner Rolle bei WikiLeaks befragt.

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Ich bin mir relativ sicher, dass meine Freundin nachts davon aufgewacht ist, dass Unbekannte vor ihrem Haus standen und mit Nachtsichtgeräten anleuchtet haben. In Berlin hat die Spionage sicherlich ein ähnliches Ausmaß angenommen, aber ich bekomme es nicht so sehr mit. Hier besteht noch die Möglichkeit, dass ich mich nicht wie ein Staatsfeind oder irgendein Dissident behandelt fühle, auch wenn es nur für einen Moment ist. In den USA kann ich das nicht behaupten. In Deutschland kann ich zumindest die Vorstellung aufrecht halten, dass mir niemand dabei zuhört, wie ich David Bowie höre.

Jacob Appelbaum in Berlin.

Der Rolling Stone hat mal geschrieben, du wärest der gefährlichste Mann des Internets. Aber ist das nicht eigentlich der Große Bruder?
Dieser Artikel hat mich wirklich geärgert. Der Typ, der ihn verfasst hat, ist großartig und Rolling Stone hatte ursprünglich „der unbekannte Böse von WikiLeaks“ geschrieben. Aber es sind nun mal sensationsgeile Arschlöcher. Ich war echt wütend, als sie behauptet haben, ich sei der gefährlichste Mann im Cyberspace. Das ist doch lächerlich. Für Menschen im Internet sind nicht die Hacker die größte Bedrohung, sondern der systematische Missbrauch von Gesetzen, durch den eine Überwachung möglich wird, ohne dass Menschen gegen die Gesetze, auf die verwiesen wird, verstoßen haben.

Die größte Bedrohung für die Menschen im Internet ist also gewissermaßen der Große Bruder. Aber es ist nicht nur ein einzelner. Viele Staaten schließen sich gegen Individuen zusammen. Was wir brauchen, ist eine Wiederkehr der individuellen Freiheit. Wir brauchen eine neue Aufklärungsbewegung, um zu verstehen, dass Staaten Grenzen haben müssen und es Rechtssicherheit geben muss.

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Dystopien zu entwerfen, fällt den Leuten ziemlich leicht, aber Utopien sind aus der Mode gekommen. Kannst du dir vorstellen, wie ein Idealzustand aussehen könnte? Die utopischen Welten, über die wir uns früher Gedanken gemacht haben, waren perfekte zukünftige Welten. Heutzutage ist bereits die Erhaltung der Demokratie zum utopischen Ideal geworden, was meiner Ansicht nach ziemlich traurig ist. Unsere Utopie, die darin besteht, die Macht der Nationalstaaten zu begrenzen, ist ziemlich konservativ. Die aktuelle dystopische Realität ist, dass es keine derartigen Grenzen gibt und parallele Machtstrukturen bestehen, die vom Gesetzgeber so gut wie nicht reguliert werden.

Die Regierungen wissen ganz genau, dass sie die Rechte eines jeden Menschen verletzen; sie verstoßen so oft gegen die Verordnung gegen die Telefokommunikationsüberwachung, dass du keine Chance hast, dagegen vorzugehen. Wenn sie nur einmal eine Person abhören würden, dann wäre es ein Kapitalverbrechen—doch wenn es 330 Millionen Mal pro Sekunde passiert? Das ist keine Verschwörungstheorie, das ist ein Businessplan. Die Utopien, die uns bleiben, sind nicht mit Ursula Le Guins anarchistischer Mondutopie aus Die Enteigneten zu vergleichen. Vielmehr geben wir uns mit Hoffnungen wie „Eines Tages könnten wir wieder eine Regierung mit begrenzter Macht und einen Staat haben, der uns beschützt“ zufrieden.

Ich messe meine Regierung nicht daran, dass sie nicht so schlimm ist wie die in Nordkorea. Ich messe meine Regierung an dem, was sie leisten sollte und an den Idealen, denen sie gerecht werden sollte. Für mich besteht die Utopie darin, dass wir vielleicht wieder eine liberale Demokratie erreichen. Punkt.

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