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Wer sich online verliebt, steht wahrscheinlich nur auf sich selbst

Netz-Liebschaften sind die Brief-Ehen des 21. Jahrhunderts, meint eine Expertin.
Bild: Vanessa Huang | CC 2.0

Das Internet durchsickert unser Leben auf jeder Ebene—vor allem auf der von Beziehungen. Durch Tinder, Facebook und WhatsApp haben wir viele Möglichkeiten, mit Menschen zu schreiben, die wir nicht oder kaum kennen. Dadurch gibt es nicht nur mehr Kontakt, sondern auch mehr Möglichkeiten, uns in neue Menschen—oder die Internet-Version von ihnen—zu verlieben. Was mir dabei immer wieder aufgefallen ist: Diese Bekanntschaften sind oft so speziell, dass sie nur in genau dem Umfeld und auf dem Kanal, in dem sie entstanden sind, funktionieren.

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Auf meinen Aufruf, man möge mir von seinen Erfahrungen mit Internet-Lieben erzählen, die der Realität nicht standhalten konnten, meldeten sich acht Menschen, die von dem selben Phänomen berichten. Kein Wunder: Immerhin ist die Menschheit online und wickelt dort die Freizeit, Arbeit und eben auch das Dating ab. Warum auch nicht? Mit Freunden chatten statt telefonieren geht doch auch; da wird ja wohl das Flirten genauso klappen. Die Namen von Julia, Lukas und Lisa wurden geändert—es ist ihnen zu unangenehm, unter ihrem Namen über ihre Enttäuschungen zu berichten.

Julia spricht mit mir abgeklärt über ihre Erfahrungen. Sie hat sich schon oft verliebt—in die Gespräche mit einem Chatpartner. Julia hat schon fast auf allen Kanälen Männer kennengelernt, von Tinder über Twitter und Facebook bis hin zu YouTube. Und sie auch getroffen. "Sie konnten dem Bild, das ich von ihnen hatte, aber nicht standhalten", sagt sie.

Das Problem ist so alt wie das Internet selbst. Wir entscheiden darüber, wie wir uns und was genau wir darstellen wollen, und wählen sorgfältig aus, welche Information über uns wir wie genau präsentieren. Und das machen eben alle. Was uns nicht weniger authentisch macht, wir erzählen ja immerhin von uns. Aber wir haben keine Macht darüber, wie das Gegenüber die Bausteine an Information über uns zusammensetzt und welches Bild sich das Gegenüber malt.

Früher haben viele Ehen Jahrzehnte lang von Briefen gelebt.

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"Ich hatte das Gefühl, sie sehr gut zu kennen", sagt mir Peter, der seine Ex-Freundin auf Tinder kennengelernt hat. Sie haben nächtelang Romane geschrieben, sich über alles Private und Persönliche ausgetauscht. Und es waren sowohl bei Julia als auch bei Peter authentische Gespräche. Man hat sich nicht wie auf einem Selfie als einen perfekten Menschen dargestellt, sondern über private Misserfolge, Verletzungen und Enttäuschungen gesprochen. "Es ging meistens um sehr deepes oder privates Zeug. Es waren sehr offene und persönliche Schreibereien", sagt mir Lisa, die auch Erfahrungen mit einer Briefliebe 2.0 hat.

"So neuartig ist dieses Phänomen nicht", sagt mir die Psychologin Mag. Florentina Steiner, die ich zu dem Thema befragt habe. "Früher haben viele Ehen Jahrzehnte lang von Briefen gelebt. Neben Leidenschaft und der Entscheidung, sich zu binden, gilt die Intimität in den meisten Theorien als wichtigste Komponente der Liebe. Papier ist geduldig. Das Internet ist es auch. Das Schreiben entgleitet schnell in eine Art Tagebuch-Manier. Nirgends gibt es so viele Ich-Botschaften wie bei diesen Geschreibseln. Der Mensch hat sich also einen Traum erfüllt: Das antwortende Tagebuch. So animiert man sich gegenseitig natürlich sehr, sehr schnell zu einer Offenheit, die dann gerne mit Seelenverwandtschaft verwechselt wird."

Lisa bestätigt die Aussage der Psychologin. Sie sei eher in sich selbst verliebt und in die Gespräche als in den jeweils anderen Menschen gewesen, reflektiert sie heute. Aber sowas weiß man eben immer erst im Nachhinein. Sie hat vor drei Jahren einen Mann kennengelernt, mit dem sie dank der Entfernung in erster Linie gechattet hat. In der Realität waren sie maximal befreundet. Im Chat hat es dann gefunkt—und sie haben eine Fernbeziehung begonnen.

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Als Julia ihre letzte Schreibliebe traf, war sie enttäuscht. "Er war viel schüchterner als gedacht." Einen anderen Internet-Typen fand sie beim ersten Treffen sogar abstoßend—sein Dialekt und seine Art ekelten sie an. Auch Lisa war beim den realen Treffen enttäuschter als im Internet—er wäre zu ungesprächig gewesen, meint sie. Trotzdem schreiben beide nach dem Treffen weiter und sprechen von einer Art Suchtgefühl.

Die Gefühle, die man beim Schreiben hat, sind deshalb nicht weniger schön.

"Wir haben dann ewig lange Nachrichten auf WhatsApp geschrieben, quasi die Second Base des Internets", berichtet mir Lukas. "Bis wir uns halb-zufällig getroffen haben. Wir haben gewusst, dass wir beide mit Freunden in einem Lokal sind. Die Begegnung war sehr seltsam." Von einem perfekten ersten Treffen hat mir keiner der acht Menschen, die sich auf meinen Aufruf von ihrer Internet-Liebe zu erzählen, berichtet.

Und das obwohl man sich eigentlich kennen müsste. "Die oberste Erwartung beim Treffen ist aber die Vertraulichkeit", erklärt mir Mag. Steiner. "Genau die fehlt dann plötzlich. Wer will denn schon beim ersten persönlichen Treffen über große Gedanken und Gefühle und eigene Abgründe reden? Hier ist viel mehr Oberflächlichkeit gefragt. Das führt dann bei einem persönlichen Treffen fast zwangsläufig zu Enttäuschungen. Wieder zuhause am Computer funktioniert es dann aber gleich wieder viel besser. Man deutet nicht mehr panisch den Gesichtsausdruck und ist endlich wieder auf dem Gesprächsniveau, das man gewohnt ist."

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Lest hier, warum man öfter über WhatsApp Schluss machen sollte.

Lisa schreibt mit ihrem Kontakt ein Jahr lang weiter, wobei sie mit ihm eine Fernbeziehung anfängt. "Nicht mit ihm. Mit seiner Internet-Version", stellt sie klar. Julia schreibt bis heute mit ihrer Internet-Version eines Freundes. Ihre Gefühle hat es jedenfalls reaktiviert. "Ich muss mich aktiv an das Gefühl, das ich bei dem Treffen hatte, erinnern, um nicht zu verfallen." Auch Lukas beendet die Internet-Romanze, indem er eine Beziehung anfängt. Für drei Monate. "Sie war ganz anders. Sie hat gut ausgesehen, aber sie war verrückt." Man schreibt weiter, obwohl man entidealisiert worden ist und man weiß, dass man das Gefühl aus dem Internet nicht ins reale Leben transportieren kann.

Die Gefühle, die man beim Schreiben hat, sind deshalb nicht weniger schön. Manche halten an den Gesprächen in Form einer Beziehung fest, manche schreiben einfach weiter. "Vielleicht kann Skype diese Eindimensionalität ein bisschen aufheben", sagt mir Julia. Lisa glaubt nicht mehr an Internet-Schreiberein—und das, obwohl sie ihren Internet-Freund eigentlich zuerst in echt kennengelernt hat. Da hat es nur nicht so gefunkt, sagt sie; es fing erst an, als er sie auf Facebook angeschrieben hat. Trotzdem glaubt sie nicht, dass es erfüllend ist, eine Beziehung nur im Internet zu führen. "Wir waren ja 90 Prozent online. Das war ab einem gewissen Zeitpunkt unbefriedigend. Man wünscht sich ja einen Partner, mit dem das auch in real geht."

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Nirgends wird die Parallele zum schmachtenden Briefschreiben von früher deutlicher.

"Beim ersten Treffen muss der andere bereits das Gefühl haben, am Leben des anderen teilzunehmen", erklärt mir die Psychologin Mag. Steiner auf meine Frage, wie man es schaffen könnte, das Gefühl aus dem Internet auf das reale Gegenüber zu übertragen. "Die Namen der Freunde kennen und die neuesten Ereignisse auch nachvollziehen können, wenn sie erzählt werden. Dann klappt es mit dem ungezwungeneren Gespräch besser."

Ihr Tipp also: Weniger tiefgründig schreiben und so schnell wie möglich ins Reale wechseln. Aber genau die Tiefgründigkeit macht den Reiz des Schreibens aus. Nirgends wird die Parallele zum schmachtenden Briefschreiben von früher deutlicher.

Tanja hat ihren jetzigen Freund im Internet kennengelernt und mit ihm geschrieben. Sie sind noch zusammen, findet aber schon, dass es im Internet anders war als im realen Leben: "Man weiß halt sofort total viel über den andern. Man unterhält sich auch ausführlicher, weil man einfach so einen Schwall Text hinknallen kann, während bei einem echten Gespräch man ja nur sehr kurze Sätze formuliert und meistens schnell vom Thema abkommt."

Das Verlieben in Internet-Gespräche ist ein Phänomen, das mit Dating-Apps und sozialen Netzwerken in Hand geht, auch wenn es nicht von ihnen ausgelöst wurde. In Österreich sind 1,2 Millionen Accounts in der Altersgruppe 20 bis 29 auf Facebook angemeldet. Nur: In was genau verlieben wir uns da eigentlich? Eine Idealvorstellung des Gegenübers? Eine stilisierte Schriftversion, die tiefgründiger ist als wir es offline je sein könnten?

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Mag. Steiner sieht das anders: "Hauptsächlich—und das klingt sicher bitter und einige werden rebellieren—liebt man die Offenheit, zu der man online selbst fähig ist. Das wird dann der anderen Person zugeschrieben, von der man sich ermutigt und verstanden fühlt. Ein besonderes Merkmal dieser Freundschaften ist, dass man sich mit seinen eigenen Texten viel stärker auseinandersetzt, als mit den Texten des Gegenübers. Das ist ein Alarmsignal. Es ist klarerweise für eine Beziehung nicht die ideale Voraussetzung und beantwortet schon, was genau man so liebt." Die Antwort hat gesessen.

Die Schwierigkeit liegt darin, sich nicht zu sehr in dieser Welt zu verlieren.

Lisa hat jetzt einen Freund, mit dem sie in einer Firma arbeitet und setzt sich mit dem Dating-Game von heute nicht mehr auseinander. Julia gibt zu, nichts gelernt zu haben und das Schreiben zu lieben. Sie lernt weiterhin Menschen im Internet kennen, obwohl sie weiß, dass es schwierig ist, dieses Ideal-Gefühl auch offline aufrechtzuerhalten. Trotz schlechter Treffen gibt sie das Schreiben mit vermeintlichen Seelenverwandten nicht auf. Lukas hat die Beziehung mit seiner Ex traumatisiert, er lässt inzwischen die Finger von langen Gesprächen.

Aber so einfach ist es heutzutage nicht mehr, Partner im realen Leben kennenzulernen. Das Dating wurde aufs Internet outgesourced—und da tummeln sich viele potenzielle Traumpartner. Wozu dem Arbeitskollegen also Aufmerksamkeit schenken, wenn es da jemandem gibt, der toll aussieht und mich auf jeder Ebene vermeintlich versteht. Und mein Seelenverwandter ist.

Man kann seine große Liebe übrigens auch im Club treffen.

Die Schwierigkeit liegt darin, sich nicht zu sehr in der Welt zu verlieren—und seine Gefühle nicht allzu ernst zu nehmen, beziehungsweise die Ansprüche der Seelenverwandtschaft nicht auf reale und potenzielle Partner zu verlagern. Das ist einfacher gesagt als getan. Aber wir können es ja zumindest so versuchen wie Julia—uns daran zu erinnern, dass es sich offline nicht so toll anfühlt wie gerade im Internet. Oder man macht es wie Lisa und meldet sich aus allen Dating-Apps ab und geht ganz nostalgisch im realen Leben auf Jagd. Chatten kann man nachher immer noch—wer jetzt den Wein für die deepen Gespräche in der Realität mitnimmt.

Fredi auf Twitter: @Schla_Wienerin


Titelbild: Vanessa Huang | Flickr | CC 2.0