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Rekrutieren aus dem Jenseits

Kürzlich veröffentlichte Dokumente zeigen, dass US-Nachrichtendienste Angst vor einem bin-Laden-Avatar hatten, der aus dem Jenseits über Hunderte Jahre weiter predigen und Terroristen rekrutieren könnte.
BILD: SHARP Technology, Titelseite der Studie. Eingescannt sieht die Vorstellung der Virtual Reality Zukunft noch futuristischer aus. Das ganze Dokument kann als pdf hier heruntergeladen werden.

Paranoiaproduktion gehört schon länger zum Kerngeschäft von Nachrichtendiensten. Neben der Propaganda zauberhafter Wahrheiten, dem Aufstellen von Geisterarmeen im Zweiten Weltkrieg und den guten alten Desinformationskampagnen ist es eine der zentralen Aufgaben von Geheimdiensten über den neuesten technologischen Stand möglicher Bedrohungen informiert zu sein. Oder die Szenarien zumindest zu fantasieren, bevor es jemand anders tut.

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Eine nun deklassifizierte Studie zu den sicherheitspolitischen Dimensionen des Cyberspace warnte 2008 vor einem virtuell unsterblichen Osama bin-Laden, der noch aus dem Jenseits neue Terroristen rekrutieren könnte. Im Auftrag des Direktors der nationalen Nachrichtendienste zeichnet die Studie mit dem schmissigen Titel „3D Cyberspace Spillover. Where virtual worlds get real" ein bewährt düsteres Bild der Bedrohung durch digital aufgerüstete Terroristen:

„Ihre Realität, ihre Welt, ihr Hass—alles verstärkt durch das Vermischen virtueller und realer Welten."

Schon im Februar 2009 hatte der Bund amerikanischer Wissenschaftler nach dem Freedom of Information Act gefordert, die damalige Forschungen öffentlich zu machen. Und zumindest die zahlreichen unterhaltsamen Praxisbeispiele aus einer zerstörerischen Cyberspace-Zukunft scheinen die lange Wartezeit auf das nun veröffentlichte Dokument zu rechtfertigen: Neben den positiven Aspekten von Virtual Realitys stellten sich die Autoren aus der US-Geheimdienst-Community auch vor, wie militante Neonazis rassistische Parolen auf Gebäude oder auf Personen projizieren würden. Oder auch wie Dschihadisten mit Google Glasses ähnlichen Brillen sich im Zentrum Washingtons versammeln und im Allerheiligsten der Nation ein „virtuelles Meeting auf den echten Stufen des Lincoln Memorials abhalten." Nur schade, dass die vom Bund amerikanischer Wissenschaftler mit angeforderte DVD nicht mit zur Veröffentlichung freigegeben wurde.

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Zeitgleich zu der Analyse im Rahmen des SHARP-Projekts waren andere Teile der US-Geheimdienste weniger zurückhaltend in ihrer Annäherung an die virtuelle Realität. Dokumente von Edward Snowden haben enthüllt, dass sich die NSA zwischen 2007 und 2009 daran machte im großen Stil Online-Spielwelten wie Second Life und World of Warcraft zu infiltrierieren. Während in dem ersten Spiel aufgrund ausgestorbener Popularität die Agenten wohl vor allem unter sich blieben, so haben sie bei Wow vermutlich kaum mehr Erkenntnisse gesammelt, als dass du ein LVL 80 Paladin bist.

Ausgehend von dem cleveren Befund, dass das Zusammenfallen von virtueller und echter Realität mehr als nur ein Trend sei, macht sich die Studie daran, ein paar latent fatalistische Träumereien einer terroristischen Zukunft zu entwerfen, die auch die Märtyrer-Konzepte des Dschihad vor ganz neue Herausforderungen stellen könnten:

„Der reanimierte Avatar von Osama bin Laden könnte predigen, konvertieren, rekrutieren und seine dogmatischen Botschaften an die Medien verbreiten. Der bin-Laden-Avatar könnte für Hunderte von Jahren predigen und Fatwas aussprechen, denn die Genauigkeit und seine Echtheit könnten überzeugend und immer wieder aufs neue Weise animiert werden, um ihn aktuell und frisch aussehen zu lassen. Letztlich könnte jeder sich zu einem virtuellen 3D-Unsterblichen machen und im Cyberspace für immer leben."

Der echte Osama bin Laden aber führte damals schon länger ein eher geisterhaftes Leben. Sein bescheiden-reales Dasein—vermutlich in seinem Versteck am Rande von Abottabad—wurde überlagert von seinem medialen Bild als globales Schreckgespenst. Nach dem 11.9.2001 existierte bin-Laden für die meisten Menschen auf der Welt vor allem durch seine anonym eingesendete VHS-Kassetten mit Audio- und Videonachrichten, die auf Satelliten-TV-Stationen wie Al-Jazeera übertragen wurden

Die Idee eines Terroristen-Image, das auch noch in seinem virtuellen Nachleben noch wirksam Politik und Kultur fesseln könnte, passt zu den Überlegungen des Meisterdenkers  von Hyperrealität, Jean Baudrillard, seines Zeichens Stichwortgeber von The Matrix. Für den französischen Philosophen hatte schon der erste Golfkrieg nur insofern stattgefunden als seine Realität die eines Videospiels war. Und der 11. September 2001 war für ihn eines  der wenigen absoluten Ereignisse, welches den fortschreitenden Zustand unserer Medienwelt als Hyperrealität zwar aufbricht, nur um in all seinen virtuellen, digitalen und imaginierten Folgereaktionen die tragische Wirklichkeit weitgehend zu überlagern. Selbst die folgende Tagespolitik droht demnach mehr denn je zu einer an an virtuelle Daten gekoppelte Simulation zu werden.

Osama Bin Laden jedenfalls wird immerhin in der Fantasie der Geheimdienste noch lange ganz real weiterleben.