Die indische Jugend bricht online mit alten Tabus
Porträt von Vivek Singh

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Popkultur

Die indische Jugend bricht online mit alten Tabus

Auf der Bürgermedien-Plattform Youth Ki Awaaz schreiben junge Menschen gegen die "Kultur des Schweigens" und die konservativen Werte des Subkontinents.

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Man könnte Anshul Tewari als Sozialunternehmer bezeichnen, aber er ist auch eine Art angehender Revolutionär. In Indien, wo die Medien und Bürger oft um ihr Recht auf freie Meinungsäußerung kämpfen, inspiriert er Millennials, furchtlos zu sein und sich Gehör zu verschaffen. Der 26-Jährige betreibt online die Bürgermedien-Plattform Youth Ki Awaaz, Hindi für "Stimme der Jugend". Was als persönlicher Blog begann, als Tewari 17 war, ist inzwischen zu einem Start-up mit 26 Mitarbeitern geworden. Die offenen Briefe junger Menschen auf der Website haben schon Online-Kampagnen losgetreten und die Manifeste diverser Parteien beeinflusst.

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Jeden Monat besuchen 2 Millionen Menschen die Website, 95 Prozent der Inhalte generieren die Nutzer selbst. Es gibt persönliche Geschichten, aber auch Meinungsartikel zu Filmen, Politik und sozialen Themen. Tewaris Team arbeitet rund um die Uhr, um Beiträge zu prüfen und redaktionell zu bearbeiten. Seit der Gründung der Plattform 2008 haben Leser mehr als 20.000 Beiträge gepostet. VICE hat mit Tewari in seinem Büro im nordindischen Noida über seine Vision für Youth Ki Awaaz gesprochen.

VICE: Wie ist Youth Ki Awaaz entstanden?
Anshul Tewari: Ich wusste, dass Jugendlichen viele Themen wichtig sind, dass sie Meinungen haben und die Gesellschaft beeinflussen können. Die Medien sind aber äußerst hierarchisch organisiert. In den traditionellen Medien – egal ob es eine Schülerzeitung oder ein landesweiter Fernsehsender ist – treffen ein paar wenige Redakteure alle Entscheidungen: Wer darf schreiben und wer bleibt draußen? Dabei kommen so viele Menschen nie zu Wort. Ich wollte eine Gemeinschaft schaffen, die demokratischer funktioniert und trotzdem journalistische Texte produziert.


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Du sprichst von einer Kultur des Schweigens in Indien. Was meinst du damit?
Wir werden hier als junge Leute nie ermutigt, uns zu äußern und Normen infrage zu stellen. Wir wachsen in dieser Kultur des Schweigens auf: Hinterfrag nicht, was Eltern und andere Autoritätspersonen sagen, finde dich mit unseren Traditionen ab, geh keine Risiken ein. Aber wenn junge Leute nicht mit Tabus oder Vorurteilen brechen, kann sich unsere Gesellschaft nicht weiterentwickeln.

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Im Internet eine Meinung zu haben ist einfach. Hast du schon überlegt, ob du nur noch mehr "Klicktivisten" erzeugst?
Die Offline-Welt und das Internet ergänzen sich. Was du offline nicht sagen darfst, kannst du online schreiben, wo die Anonymität mehr Sicherheit bietet. Eine einzige Unterhaltung kann eine Bewegung auslösen. Beim Arabischen Frühling konnten die Leute zum Beispiel Proteste organisieren, indem sie Facebook-Events anlegten und live über Geschehnisse twitterten. Dieser "Klicktivismus" hat viele junge Leute also überhaupt erst ermutigt, auf die Straße zu gehen und aktiv zu werden. Das Internet ist ein Ort für Geschichten. Wenn die Geschichten die richtigen Emotionen auslösen, können sie Menschen zum Handeln bringen – und zwar offline.

Hat Youth Ki Awaaz schon einmal so eine Wirkung gehabt?
Die Kampagne "Happy to Bleed" ist ein Beispiel. Das Oberhaupt des Sabarimala-Tempels, eines Hindu-Heiligtums in Kerala, wollte ein Gerät aufstellen, das menstruierende Frauen erfasst, um ihnen dann den Zutritt zu verweigern. Eine unserer Leserinnen, Nikita Azad, schrieb auf der Website einen offenen Brief an das Oberhaupt. Sie warf ihm vor, er leiste Menstruationstabus Vorschub, und erklärte, wie sehr Frauen seit Jahrhunderten darunter leiden. So begann die Bewegung. Frauen posteten Bilder, auf denen sie Schilder mit "Happy to Bleed" halten. Die Kampagne machte Menstrualtabus zum Thema in den Mainstream-Medien.

Den Tempel dürfen menstruierende Frauen aber immer noch nicht betreten. Gibt es noch andere Beispiele für erfolgreiche Kampagnen?
Eine junge Frau mit einer Behinderung schrieb auf unserer Seite, sie müsse in der Arbeit Windeln tragen, weil die Toiletten dort komplett unzugänglich seien. Die Welt wird von Nichtbehinderten für Nichtbehinderte gemacht, das Thema interessiert also eher wenige. Aber ihre Geschichte wurde in einer Woche von 20.000 Personen geteilt. Die Firma reagierte sofort, indem sie nicht nur in der Abteilung unserer Autorin, sondern im ganzen Gebäude die Toiletten umbauen ließ.

Youth Ki Awaaz stellt Beiträge immer so schnell wie möglich online. Warum?
Uns wurde klar, dass die Leute über Dinge reden wollen, und zwar sofort. Wenn ich ein Problem mit dem Zugverkehr in Delhi habe, möchte ich heute darüber sprechen, nicht in drei Tagen. Plattformen wie Snapchat und Instagram funktionieren, weil man dort etwas posten und sofort sehen kann, wie die Leute reagieren. Also beschlossen wir, unserer Community zu trauen und die Plattform zu öffnen. Es ist phänomenal. Wir kommen auf 100 Posts am Tag.

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