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Vergangenheit

Eine Gemeinde in Niederösterreich stellt sich ihrer dunklen Vergangenheit

Kirchberg am Wagram – Bis in die 1970er-Jahre bedeutete dieser Ort für die Heimkinder von Kaiserebersdorf Gewalt und Psychoterror. Es brauchte 40 Jahre um den langen Weg der Aufarbeitung zu gehen.

Die Sonne erhitzt den Asphalt am Marktplatz in Kirchberg am Wagram an diesem Sonntag im Mai 2017. Kirche, Arztpraxis, Apotheke, ein Fachgeschäft für den Haushalt, ein leerstehendes Kaffeehaus, eine Polizeidienststelle – so kenne ich Kirchberg am Wagram. Unzählige Tage habe ich hier als Kind bei Verwandten verbracht, Eis gegessen und bei der Weinlese geholfen. Inmitten der Weingärten scheint die Dorfidylle perfekt.

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Im Hof der heutigen Polizeidienststelle, dem ehemaligen Bezirksgericht, steht das örtliche Bläserensemble und spielt die Melodie von "Die Gedanken sind frei". Der Bürgermeister hält eine Rede und bekennt sich dazu, dass es einige dunkle Stunden in der Geschichte der Gemeinde gab: "Ein schwarzer Fleck wird heute aufgedeckt." Kirchberg muss sich an diesem Tag mit seiner Vergangenheit auseinandersetzen, denn ein Kulturverein hat das Kunstprojekt "Öffnungszeit" ins Leben gerufen. "Unsere Kunst übernimmt jetzt die Verantwortung", mit diesen Worten eröffnet Projektleiterin Hanna Scheibenpflug die Ausstellung.

Der Marktplatz in Kirchberg am Wagram heute und in den 1930er-Jahren

Vom Marktplatz aus kann man es nicht sehen, aber hinter dem ehemaligen Bezirksgericht befindet sich ein weiteres Gebäude: das frühere Gefangenenhaus, das vor einiger Zeit renoviert wurde und in den letzten Jahren vorrangig für das Lagern von Akten Verwendung fand. 1912 unter Kaiser Franz Josef erbaut, wurden während der beiden Weltkriege und in der Nachkriegszeit Kriegsdienstverweigerer oder Andersgesinnte hier gefangen gehalten.

Zwischenzeitlich, etwa ab den 1930er-Jahren, wurde das Haus zur Außenstelle der Bundesanstalt für Erziehungsbedürftige Kaiserebersdorf in Wien-Simmering. Insbesondere nachdem Kaiserebersdorf im Jahr 1945 dem österreichischen Justizministerium unterstellt wurde, wurde das Gefangenenhaus in Kirchberg zum "Exilheim" für schwer erziehbare Jugendliche.

Die Jugendlichen, die nach Kaiserebersdorf gebracht wurden, waren meist Waisen oder kamen aus zerrütteten Familien. Es waren ihre Lebensumstände, für die sie oft nichts konnten, die ihnen den Stempel "schwer erziehbar" aufdrückten. Die Bundesanstalt für Erziehungsbedürftige in Kaiserebersdorf wurde innoffiziell als Straflager geführt und eine Verlegung nach Kirchberg galt als die härteste aller Strafen.

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Das ehemalige Gefangenenhaus hinter der heutigen Polizeidienststelle in Kirchberg am Wagram, 2016. Aus der Serie "Suche nach dem Licht", 2017 © Nadja Meister

Staatliche Archive beherbergen kaum Informationen darüber, was innerhalb der Mauern der "Erziehungsanstalt" wirklich geschah. Bisher lassen nur einige wenige mündliche Schilderungen das Grauen erahnen, das sich rund 50 Jahre lang in Kirchberg zugetragen haben muss.

Als der Verein Kunst Kultur Kirchberg aktiv wurde, fanden die Funktionäre im alten Gefangenenhaus nur noch ein unpräzises Gerüst einer verworrenen und grausamen Geschichte vor. Sämtliches Inventar wurde entfernt, die Wände gestrichen und neue Fenster eingebaut. Doch manche Spuren lassen sich selbst durch eine Gebäudesanierung nicht beseitigen.

"Wenn du nicht spurst, kommst nach Kirchberg!"

Der Pensionist Karl Martinek ist der einzige noch lebende Insasse der Außenstelle Kirchberg am Wagram. Er wurde als Jugendlicher zu drei Monaten Haft mit Erziehungsmaßnahmen verurteilt. Da er sich gegen einen brutalen Erzieher in der Justizanstalt Kaiserebersdorf zur Wehr setzte, wurde er nach Kirchberg gebracht – im Lastwagen und nur mit einem T-Shirt bekleidet. "Die Kinder in Kaiserebersdorf haben alle gewusst, dass es in Kirchberg scharf zur Sache geht.

Wenn du nicht spurst, kommst nach Kirchberg", erinnert sich Karl heute. Kurator Wolfgang Giegler beschreibt diese Methode als Kalkül: "Die Aufmüpfigen werden noch mehr bestraft und der Rest kriegt Angst."

Karl Martinek in einem Kellerraum des Gefangenenhauses. Aus der Serie "Der Koarl", 2017 © www.friedlundpartner.at

Die Erzieher, die eigentlich Justizbeamte ohne pädagogische Ausbildung waren, schoren den Burschen die Haare ab und verfrachteten sie in Einzelzellen. Eine der Zellen verwendeten die Beamten nur zum Prügeln. Sie nannten diese "das Lachkabinett".

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Aus der Serie "Suche nach dem Licht", 2017 © Nadja Meister

All das war der Anfang einer Taktik, die zum langfristigen Ziel hatte, junge Menschen zu brechen und ihnen ihren freien Willen zu nehmen. "Wir durften nicht aufrecht gehen. Alles war in der Hocke zu gehen und zu hüpfen. Häschen hüpf. Zum Duschen sind wir in den Keller gehüpft. Da haben die Erzieher einen irrsinnigen Spaß dabei gehabt", erzählt Karl. Durch militärischen Drill sollte den Kindern gezeigt werden, dass sie wertlos und ohne jegliche Rechte ihr Dasein zu fristen hatten. Die Justizbeamten hatten bei der Bestrafung völlig freie Hand.

Pro Tag bekam jeder Zögling drei Scheite Holz, zwei Seiten der Kronen Zeitung und zwei Briketts zum Heizen, wovon der Hausarbeiter aber die Hälfte stahl. Deshalb war es im Winter unmöglich, die eigene Zelle jemals warm zu bekommen. Zwangsarbeit gehörte zum Tagesablauf. Die Jugendlichen mussten von fünf Uhr früh bis zehn Uhr abends in ihren Zellen Manufakturaufträge erledigen. Sie mussten zum Beispiel kleine Metallteile zusammenbauen, Papiersäcke kleben oder Etiketten anfertigen.

Die Handschellen wurden ihnen dabei oft nicht abgenommen. Von welchen Betrieben die Aufträge stammten, ist nicht bekannt. Unterbrochen wurde die Arbeit von einer Stunde Fußballspielen im ummauerten Bewegungshof. Auch heute reicht die Aussicht im Hof lediglich nach oben Richtung Himmel. Für jedes Verlusttor beim Fußball wurden die Justizbeamten gewalttätig. "Es hat fürchterliche Hiebe gegeben. Die Kinder haben fürchterlich geschrien. Das müssen die Leute gehört haben", sagt Karl.

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Perfomance-Künstlerin Cynthia Schwertsik wäscht im Bewegungshof die Wäsche der Besucher weiß. "Weiß Waschen", 2017.

Karl Martinek geht weiter ins Detail: "Mich hat man schon gefoltert. Man hat meine Hoden absichtlich mit Zigaretten verbrannt. Andere Kinder wurde blutig geschlagen." Karl bezeichnet Kirchberg als das "Guantanamo von Österreich" und berichtet über Foltermethoden, die tatsächlich an das US-amerikanische Gefangenenlager erinnern. Auch Waterboarding soll in Kirchberg angewandt worden sein. "Sowas vergisst du nicht", versichert Karl.

Ein paar Worte, handgeschrieben auf einem Blatt Papier, sind der einzige amtliche Beweis dafür, dass Karl von 18. November 1968 bis 3. März 1969 in Kirchberg am Wagram in Haft war. Die Grausamkeiten, die ihm dort zugefügt wurden, beweisen sie nicht. Aus der Serie "Der Koarl", 2017 © Karl Martinek

Im Gegensatz zu Kaiserebersdorf gab es in Kirchberg keinen Ausgang. Dass Dorfbewohner und Zöglinge also jemals aufeinanderstoßen hätten können, war unwahrscheinlich. Einzelne Interaktionen gab es aber durchaus.

Kurator Wolfgang Giegler erzählt, dass das damalige Gasthaus Eiselt, dessen Gebäude heute immer noch direkt gegenüber liegt, Mahlzeiten an das Gefangenenhaus lieferte. Das zweite Gasthaus Mantler soll zeitweise als Unterkunft für Erzieher beziehungsweise Wachtmeister gedient haben. Karl Martinek berichtet von einem weiteren Berührungspunkt mit den Gasthäusern:

"Unsere Justizbeamten haben sich dort angesoffen. Die haben sicher erzählt, was da ist. Ich glaub schon, dass sie's gewusst haben. Vielleicht nicht, dass sie uns blutig und deppert hauen. Die Beamten hatten ja einen Job zu verlieren."

Das aufgelassene Gasthaus Eiselt gegenüber vom ehemaligen Bezirksgericht, 2017.

Der gebürtige Kirchberger Gerhard K.* erklärt sich bereit, mir nach dem Besuch des Gefangenenhauses seine Sicht der Dinge zu schildern. In seinem Arbeitszimmer hat er mehrere Kisten aufbewahrt, voll mit alten Fotos und Postkarten von Kirchberg am Wagram aus den 1920ern bis 1950ern.

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Der Schulweg verlief an den Mauern des Gefangenenhauses entlang, wie Gerhard K. anhand einer Luftaufnahme zeigt. Er erinnert sich, dass er früher als Jugendlicher manchmal mit Freunden am Weg zum Kino an dem Gebäude vorbeilief. "Dann schauten da manchmal Burschen heraus, die uns schimpften: ‚Ihr könnt ins Kino gehen und wir sind hier drinnen."

Eine Luftaufnahme ist das einzige auffindbare Foto aus der Vergangenheit, auf dem das Gefangenenhaus abgebildet ist.

Seinen Erzählungen zufolge sollen Gefangene zum Röntgen in die ebenfalls direkt am Marktplatz gelegene Arztpraxis gebracht worden sein. "Ich weiß nur Eines", erklärt Herr K., "dass es keinen einzigen Hinweis darauf gibt, dass da drin je ein Kirchberger gearbeitet hat. Ich habe mindestens 20 Kirchberger angerufen und sie gefragt, ob sie was wissen." Ob er damit die Gemeinde von Anschuldigungen entlasten will? "Nein, ganz bestimmt nicht, aber es war nun einmal eine Anstalt des Bundes und nicht der Gemeinde. Vielleicht hat man das auch bewusst so gemacht." Ein Mädchen, das zumindest bis ans Tor gelangte, war die Tochter des Bäckers.

Heute Pensionistin, damals ein Volksschulkind, musste sie öfters Brot in das Haus hinter dem Bezirksgericht bringen. Sie berichtete den anderen Kindern schon damals davon, wie furchteinflößend sie diesen Weg fand und nach ihrem Auftrag schnell wieder davon lief. Laut Gerhard K. war die Zahnärztin eine der wenigen Personen von außen, die das Gefangenenhaus in den 60ern und 70ern ab und zu betreten durfte, um unvermeidbare Behandlungen durchzuführen. "Ich habe sie gefragt und sie hat nichts von den Gewalttaten mitbekommen", so Herr K. Als sich Gerhard K. schließlich wieder seinen Postkarten in der Kiste widmet, wird er beim Durchblättern immer energischer. "Das Gefangenenhaus ist auf keinem dieser Bilder zu sehen! Das ist wirklich nicht zu glauben."

Die Geschichte von Kirchberg am Wagram ist Teil des Unrechts, das Heimkindern in Österreich bis in die 1980er-Jahre widerfahren ist. In Kirchberg geschah all das Grauen nicht etwa außerhalb des Dorfes, sondern direkt hinter dem Marktplatz, bis die Anstalt schließlich 1974 geschlossen wurde. Unter dem Deckmantel der Erziehungsmaßnahmen wurde jungen Menschen, die aus zerrütteten Familien kamen, gewaltvoll jegliche Perspektive genommen. Der Ort wandte sich, bewusst oder durch die Republik getäuscht, jahrzehntelang vom Geschehen hinter der Fassade ab und auch der Bund sah lange Zeit die Verantwortung nicht bei sich. Erst nach Drängen und Aktivwerden der Heimkinder selbst, unter anderem durch eine Petition im Jahr 2015, entschuldigten sich Politiker öffentlich für die Grausamkeiten, die Heimkindern in Österreich jahrzehntelang zugefügt wurden. Den Betroffenen wurde eine Opferpension zugestanden.

Heute sind die meisten Kirchberger froh, dass sich der Verein Kunst Kultur Kirchberg der Geschichte annimmt. Einige Gemeindemitglieder, so auch die Schüler der Neuen Mittelschule, beteiligen sich bereits aktiv an der Aufarbeitung in Diskussionsrunden und an Aktionstagen. In der Gemeinde besteht der Wunsch, das Gebäude des Gefangenenhauses dauerhaft als Kulturvermittlungsraum zu nützen. "Die Aufdeckung kam 40 Jahre zu spät, aber ich sehe das hier als Mahnmal, dass so etwas nicht mehr passiert", sagt Gerhard K. und deutet in Richtung Marktplatz. Und Karl Martinek betont noch, dass er den Kirchbergern nicht böse sei: "Sie hätten nichts machen können."

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