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Der Typ fragte mich nach meinem Facebook-Kontakt, während wir den Steinen auswichen

Ich rannte den Männern nach, die die Muslimbrüder vermöbeln wollten, und während wir Steinattacken und Pistolenschüssen auswichen, fragte mich dieser Fotograf nach meinem Facebook-Kontakt.

Gestern, am 1.Juli, haben die Demonstranten in Kairo die Zentrale der Muslimbrüderschaft gestürmt. Sebastian Backhaus war dabei und hat seine Erlebnisse zu Papier gebracht. Und mit Papier meinen wir natürlich, dass er sie in seinen Computer getippt und uns geschickt hat.

Der 30. Juni, der erste Jahrestag von Mursis Präsidentschaft, wurde nicht nur in Ägypten mit großer Spannung erwartet. Niemand weiß an diesem bereits hitzigen Morgen auf dem Tahrir-Platz, wie der Tag enden wird.

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Die Demonstrierenden schreien, singen und toben… und das bereits seit über zwei Tagen ununterbrochen. Der Leidensdruck und die Enttäuschung, die vom Mursi-Regime ausgehen, treiben die vielen Tausende, die schon so früh auf dem Platz sind, an. Viele von ihnen sind gar nicht gekommen—sie waren bereits die ganze Nacht hier.

Ich konnte die Nacht auf den 30. Juni, den Tag, an dem der Sturz Mursis geplant war, kaum schlafen. Es war so laut, dass sich gefühlt halb Kairo in meinem Bett schreiend an mich richtete, um so den Rücktritt Mursis zu erreichen; so wirr dann auch die Träume. Es war schon nicht einfach, überhaupt in mein Hotel am Tahrir-Platz zu gelangen—ein Durchkommen war nur mit viel Ellenbogeneinsatz oder gutem Zureden möglich—der Platz war schon nachts vor dem großen Tag so voll wie seit der Revolution Anfang 2011 nicht mehr, die den Sturz Mubaraks auslöste.

Nun sei der islamistische Präsident Mursi an der Reihe, genau ein Jahr nach seiner Machtübernahme, so der Plan der Tamarod-Bewegung, die Rebellen, die mit gesammelten Unterschriften und Demonstrationen Mursi zum Rücktritt zwingen wollen.

Die dieser Nacht habe ich mich auf den Weg zu der Zentrale der Muslimbrüderschaft gemacht. Auf dem Weg dorthin komme mir Krankenwagen entgegen, Rauch steht in der Luft. Ein Mob von etwa 400 jungen Männern versucht, dieses große Gebäude in Brand zu stecken. Die Polizei ist nicht zugegen. In dem Gebäude halten sich einige Mitglieder der Brüderschaft auf und versuchen, sich mit Steinen und Shot Guns gegen die Molotow werfenden Aggressoren zu verteidigen. An der Fassade können sich die Flammen der Brandsätze nur kurz halten. Die Projektile der von den Muslimbrüdern genutzten Shot Guns können in die Haut eindringen oder einem das Augenlicht nehmen.

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Wer sich vor dem Gebäude aufhält, läuft Gefahr, getroffen zu werden. Die Muslimbrüder, die aus dem Fenster schießen und werfen, werden mit Laserpointern geblendet. Auch die Angreifer setzten neben Steinschleudern vereinzelt Pistolen ein. Ich halte mich an Amru, einen erfahrenen Kriegsfotografen, und seinen Kollegen Halim. In dem Tumult fragt Amru, wie er mich auf Facebook finden kann und wir tänzeln zwischen dem Steinregen hin und her, während er meine Daten in sein Smartphone eingibt. Nicht zu fassen, dass er in dieser Situation auf diese Idee kommt.

Es heißt, dass die Muslimbrüder gleich angreifen könnten, um so ihren Gesinnungsgenossen im Gebäude zur Hilfe zu eilen.

Der Schriftzug, der das Gebäude als die Zentrale der „Achwuan Muslimin“ (Muslimbrüderschaft) betitelt, wird geraubt … nicht ganz, der Mob schafft es lediglich, „Muslimin“ von der Fassade zu reißen.

Ich sitze mit Amru und Halim im Auto, abseits des Kampfes, während diese ihre Fotos an ihre Auftraggeber senden. Halim hat es eilig. Er will noch schnell ins Krankenhaus: Die Projektile, die er von den Shot Guns abbekommen hat, müssen noch entfernt werden.

Tags davor, in der Nacht auf den 30. Juni hin, gegen 2 Uhr morgens war ich auch schon mit den Demonstrierenden unterwegs. Da hieß es plötzlich, die Muslimbrüder nähmen Kurs auf den Tahrir-Platz. Eine hochmotivierte Gruppe von etwa 100 jungen Männern rannte in die vermeintliche Richtung, aus der die möglichen Angreifer erwartet wurden.

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Ich rannte mit ihnen, die Richtung wechselte immer wieder, je nachdem welche Hinweise die Anführer von Passanten empfingen. Als wir in eine dunkle Gasse einbogen, wurden wir bereits erwartetet: Plötzlich hörte ich Schüsse, das Dunkel wurde durch Mündungsfeuer blitzartig erhellt. Alle kehrten um, rannten so schnell es ging zurück zum Tahrir-Platz. Verletzt wurde, soweit ich dies auf meiner eigene Flucht ausmachen konnte, niemand. Wer diese Schüsse nun wirklich abgab, ist unklar. Mir war nicht danach, noch mal nachzuschauen.

Nachmittags noch machte ich mich dann auf zum Präsidenten-Palast … mit dem Taxi … schlechte aber einzige Wahl am heutigen Tag. Etwa der dreifache Fahrpreis … Angebot und Nachfrage, außerdem ist das Benzin in Kairo ausgegangen. Das Gebiet um den riesigen Palast, der in ein Märchen aus 1000 und einer Nacht gehören könnte, gleicht einer Festung. Hunderte Container sichern die Mauern zusätzlich und bieten den inzwischen Tausenden Eingetroffenen ein gutes Rhythmusinstrument für ihre Slogans. Ab und zu lugen die Helme der Leibgarde des Präsidenten zwischen den Zinnen auf dem Dach hervor.

„Irhal Irhal“—Mursi soll verschwinden. Bis zu diesem Zeitpunkt ist unklar, wie sich Mursi, wie sich die Polizei, die weit und breit nicht zu sehen ist, und wie sich das Militär verhalten werden. Das Militär ist bereits am Vormittag mit schweren Kampfhubschraubern über den Tahrir-Platz geflogen, um lustige Schleifen zu drehen. Bei den befragten Protestierenden kam der Auftritt gut an. Das Militär hatte bereits nach der Revolution 2011 die Führung des Landes übergangsweise übernommen und stellt in Ägypten die stärkste Macht dar. Viele meiner Gesprächspartner wünschen sich das Militär an die Spitze ihres Landes zurück.

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Die Unterschriftenaktion der Tamarod-Bewegung läuft auch vor dem Präsidenten-Palast weiter. Auf der tagelangen und auch noch jetzt andauernden Pro-Mursi-Demo der Muslimbrüderschaft, die parallel zu den Tamarod-Aktionen in einem entfernteren Stadtteil läuft, haben sich die Mursi-Unterstützter diese Idee auch zu eigen gemacht und sammeln fleißig Unterschriften für ihren Präsidenten.

Selbst die Demonstranten, bei denen aufgrund ihrer Kleidung ein islamistischer Hintergrund zu vermuten ist, sind gegen die islamistische Einstellung Mursis und seiner Anhängerschaft … ein Beispiel, warum Ägyptens politische Struktur so schwer zu begreifen ist. Es gibt viele politische Strömungen gleichzeitig und ebenso viele religiöse Ausrichtungen. Und dann vermischen sich Politik und Religion auch noch.

Dieser Mann hat für Mohammed Mursi zum Abschied einen verwelkten Blumenstrauß mitgebracht.