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Rassismus

Tottis Abrechnung mit Higuaín ist ein Traum für Fußballromantiker—aber falsch und rassistisch

Wegen Higuains Wechsel zu Juve beschwerte sich der ewige Römer Totti über treulose Wandervögel. Eigentlich eine tolle Aussage, wäre da nicht der Vergleich mit „zingari“ gefallen.
Foto: imago

— SportMediaset.it (@Sport_Mediaset)July 27, 2016

Der Transfer ist fix: Gonzalo Higuaín wechselt für 90 Millionen Euro vom SSC Neapel zum Ligakonkurrenten Juventus Turin. Und damit steht auch fest: All die von erbosten Napoli-Fans ins Klo geworfenen Higuaín-Trikots, all die Hass-Tweets und spöttischen Gifs wurden nicht zu früh gezündet. Der Argentinier macht das, was seine (Ex-)Verehrer in Neapel nie von ihm gedacht hätten—und ihm niemals verzeihen werden. Er geht zum verhassten Serienmeister („und Betrüger!") aus dem genauso verhassten Norden. Zack, jedes noch so kleine bambino am Golf von Neapel weiß seit spätestens gestern, welchen Verräter es bis zum Abi auf den Tod zu hassen hat.

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L'hanno preso bene — Enzo G. (@EnzoCalcio)July 23, 2016

Jetzt hat sich auch die Roma-Legende Francesco Totti zum Higuaín-Wechsel zu Wort gemeldet. Und man geht nicht zu weit, wenn man sagt, dass er mit dem modernen Fußball und dem Wechsel des Argentiniers ordentlich abrechnet. Gleichzeitig führt er uns frustrierten Fußballromantikern vor Augen, warum wir mehr von seiner Sorte brauchen. Hier sind einige seiner wichtigsten Aussagen laut Gazzetta dello Sport: Und bevor wir uns jetzt alle einen auf Totti runterholen: Im ersten Satz hat er leider nicht Nomaden, sondern einen rassistischen Begriff verwendet. Dazu später mehr.

„Sie gehen woandershin, um mehr zu gewinnen und mehr zu verdienen. Sie sind *Nomaden. Ich glaube, dass das der Unterschied zwischen mir und all den anderen ist."

„Wenn ich nur an das Geld gedacht hätte, hätte ich die Roma schon vor zehn Jahren verlassen und mehr verdient, als ich jetzt verdiene. Für mich geht es um etwas anderes: Und das ist Leidenschaft und nicht Geld."

„Der Sport hat sich sehr gewandelt. Heute liegt der Fokus auf dem Geld. (…) Es ist mehr Business als Leidenschaft. Die Menschen kommen ins Stadion, um Spaß zu haben und einen Spieler zu sehen, der seit eh und je für dieselbe Mannschaft spielt. Sie erwarten sich, dass er sie nicht verrät. Schaut euch an, was bei Higuaín passiert ist. Er hat Napoli für Juventus verlassen. Das ist ein Desaster."

„Wir sprechen nur noch Englisch. Spieler, Trainer, Therapeuten—alle sprechen Englisch. Sie sind alle Ausländer."

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Tottis Aussagen sind der feuchte Traum eines jeden Fußballnostalgikers. Und wenn sie einer äußern darf, dann er—seiner Autorität in Sachen Vereinstreue sei Dank. Seit 1992 spielt er für die Roma, stand bei den Profis sage und schreibe 601 Mal für seinen Heimat- und Herzensclub auf dem Platz. Seinen ersten Serie-A-Einsatz hatte er im März 1993. Zum Vergleich: Die neue italienische Torhüterhoffnung, Gianluigi Donnarumma, kam 1999 zur Welt. Totti ist die Roma und die Roma ist Totti. Und bei all den Wandervögeln und Söldnern im modernen Fußball ist Totti eine echte Rarität. Ein fußballerisches Fossil. Ein Anachronismus, ein Ding also, was eigentlich nicht mehr zeitgemäß ist.

Und genau das ist die Sache. Wir können einen Totti zwar feiern (was wir auch tun!) und uns wünschen, dass es mehr von seiner Sorte gibt, aber wir sollten nicht alle anderen, die nicht an seinen Maßstab der Vereinstreue rankommen, verurteilen. Statt die Higuaíns zu hassen, sollten wir die Tottis einfach umso mehr lieben. Totti ist das Überbleibsel einer Zeit, die gerne—und wahrscheinlich auch zurecht—als paradiesisch wirkender Vorläufer und Gegenentwurf zum Bösewicht Moderner Fußball hochstilisiert wird. Totti bringt es ja selbst auf den Punkt: Beim Fußball geht es heute vor allem um wirtschaftliche Interessen. Fußball als Ausdruck der Globalisierung. Als Totti bei der Roma anfing, waren Ausländer in der Serie A noch ein seltenes Phänomen. Mittlerweile—wie er im Interview beklagt—ist auch sein Verein international und englischsprachig geworden. Was uns zurück zu Higuaín bringt.

Totti und seine Roma im Spiel gegen den AC Mailand im Jahr 1998. Foto: imago.

Muss man den Argentinier für seinen Juve-Wechsel wirklich verurteilen? Als feuriger Napoli-Tifoso bestimmt. Doch aus Sicht eines neutralen Fußballfans? In diesem Zusammenhang könnte man auch die „Verräter" Götze und Hummels nennen. Fakt ist: Die Tottis sind nicht mehr fester Bestandteil des modernen Fußballs. Das heißt nicht, dass wir uns nicht wünschen, dass es wieder mehr von ihnen geben würde. Wir brauchen mehr Tottis, auch um beim Fußball wieder mehr zu spüren—ein Mehr-Gefühl, das sich bitte nicht nur auf die immer teurer werdenden Eintrittspreise beschränken soll. Gleichzeitig muss man auch der Realität ins Auge blicken. Und die sieht bei Higuaín so aus: Er ist kein Italiener, geschweige denn Neapolitaner, sondern Argentinier, und die Nord-Süd- bzw. Napoli-Juve-Rivalität wird ihm ziemlich schnuppe sein. Mit seiner Nationalmannschaft hat er in den letzten drei Jahren dreimal im Finale gestanden und alle drei Endspiele verloren. Auch mit Napoli wurde er letzte Saison mal wieder nur Zweiter. Multimillionär ist er schon, was er nicht hat, sind Titel. Und die wird er mit Juve mit hoher Wahrscheinlichkeit holen können. Sein Wechsel ist natürlich kein Ausdruck von Treue, aber irgendwie doch menschlich.

Und dann gibt es da noch einen weiteren Punkt in Tottis Interview, den man erwähnen sollte. Fast alle Medien im Netz—auch die italienische Zeitung, auf die wir uns anfangs berufen haben—haben das Wort nomadi abgedruckt. Nomaden. Das Problem an der Sache: Im Originalinterview mit der englischen Ausgabe der Gazzetta dello Sport, GazzettaWorld, ist nicht von nomads, sondern von gypsies die Rede. Hat Totti also in Bezug auf wechselwillige Spieler wie Higuaín von Zigeunern gesprochen? VICE Sports hat den Interviewer, Julian Cardillo, angetwittert und er hat uns später per Privatnachricht bestätigt, dass Totti nicht von nomadi, sondern von zingari sprach. Zingari bzw. seine Singularform zingaro ist das italienische Pendant zum Schimpfwort Zigeuner. Ja, Schimpfwort: Wer Zigeuner sagt, äußert sich rassistisch. So verbittet sich der Zentralrat Deutscher Sinti und Roma die Bezeichnung Zigeuner, weil er als sie als diskriminierend ablehnt. Auch zingaro ist rassistisch und beleidigend (wenn auch—leider—sehr verbreitet in Italien), die politisch korrekte Form würde rom lauten.

Darum hat Tottis gehyptes Interview auch einen ordentlich bitteren Beigeschmack. Ja, wir feiern dich als Fußballer. Und ja, wir feiern auch deine Vereinstreue. Aber spätestens mit deinem zingari hast du uns gezeigt, dass du leider nicht mehr zeitgemäß bist. Du magst den modernen Fußball nicht akzeptieren wollen (und sprichst damit vielen aus der Seele), aber bitte akzeptiere doch, dass wir im Jahr 2016 nicht mehr Zigeuner sagen.