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Die Freaks sind los!

Weihnachten ist das Fest der Liebe? Langweilig. Es wird also Zeit, dass wir uns daran erinnern, wie viel Hass uns von bayerischen „Fantasy-Live-Rollenspielern“ entgegenschlug.

In Bayern sind die Bären wieder zum Abschuss frei gegeben. Leute laufen aufwendig als Bären-Menschen verkleidet durch den Wald und nennen das „Fantasy Live Rollenspiel“. Letztens hab ich sie besucht und mir die Frage gestellt: „Sind das irgendwelche Spinner, die ihre Probleme mit Realitätsflucht lösen?“

Freitagmittag im Grünen. Königsdorf südlich von München: Junge Menschen reisen mit dem Auto in einer abgelegenen Waldgegend an. Alles wirkt wie zum Beginn eines Rockfestivals. Sie laden Zelte und Bier aus. Eine ausgelassene Stimmung verbreitet sich. Ein Kerl macht gerade sein Bier mit einem Feuerzeug auf. Das erste Anzeichen, dass hier etwas nicht stimmt, ist, als er sagt: „Ich habe mir diesen Bart jetzt zwei Jahre wachsen lassen, um eines Tages einen Zwerg zu spielen.“ Dabei streicht er sich, mit Daumen und Zeigefinger durch seinen fast zehn Zentimeter langen roten Kinnbart. Er stellt sich als „Metwet” vor—so nennt sich Alex in der Fantasy-Welt, in die er gleich abtauchen wird.

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Metwet ist dort ein „Wendool”. Ein Bärenkrieger, halb Neandertaler, halb Bär. Angelehnt an den Film Der 13. Krieger mit Antiono Banderas. Alex kleidet sich in eine speckige Lederhose und wirft sich ein langes schwarzes Kunstfell über den unbekleideten Rücken. Die Schnüre von zwei ledernen Armschienen zurrt er mit den Zähnen fest. Beim zweiten Blick kann man eingebrannte keltische Runen erkennen. Zuletzt schmiert sich Alex schwarze Schuhcreme ins Gesicht und verteilt sie auch auf seinem nackten Oberkörper. Da ich den 13. Krieger nicht gesehen habe, lässt mich das ganze eher an Bruno den Problembären denken und damit liege ich gar nicht so falsch. Alex wird später auch zum Abschuss frei gegeben. Denn er ist nur ein „Nicht-Spieler“, wie die Teilnehmer das hier nennen. Er erfüllt nur eine von der Spielleitung vorgegebene Rolle und gehört zu den Bösen. Andere sind die Hauptpersonen der Geschichte, die Spieler. Jedem Spieler steht es nahezu frei, der zu sein, der er sein will. Ein Gentleman Agreement herrscht hier darüber, dass du als Spieler alles sein kannst, was du passend darstellst. Angemessen ist alles, wovon du andere Mitspieler überzeugen kannst. Und diese Leute haben eine Menge Vorstellungskraft – und ausgefallene Kostüme. Die Dämmerung bricht herein. Das letzte Licht des Tages zeigt sich nur noch vereinzelt durch die Baumwipfel. Ich irre mit einer Gruppe Spieler durch den Wald. Der Waldboden ist matschig und in kürzester Zeit sind unsere Schuhe durchnässt. Die Spieler sind in ihre Rollen geschlüpft. Sie überzeugen sich gegenseitig davon, ein Kriegerverband zu sein, der einem Dorf gegen die Wendool-Plage zur Hilfe eilt. Es erinnert an ein Laien-Improvisationstheater: Chris, ein Mittzwanziger, spielt einen alten Mann namens McArthur. In langem dunklen Mantel stützt  er sich auf einen Stab, an dessen Spitze ein Tierschädel hängt und kommt wie von Gicht geplagt nur im Schneckentempo voran. Er murmelt verwirrt und mit krächzender Stimme: „Weißt du mein Junge, ich mit 199 Jahren, kann dir sagen, die Bäume erzählen uns viel.“ Von der Spitze der Gruppe ruft ein Kerl, der sich als Anführer aufspielt: „Passt auf, McArthur fällt schon wieder zurück. Nehmt ihn in die Mitte.“ In der Ferne hören wir plötzlich Trommeln und beunruhigende Gesänge—Ich vermute zwar, dass die Trommeln vom Pfadfingerlager nebenan kommen, doch man fürchtet Gefahr. Man behält recht. Wir bewegen uns auf die Geräusche zu, bis sich der Wald lichtet. Vage, im Schein des Abendlichts, sind Gestalten in der Dunkelheit zu erkennen. Fellbedeckt und mit geschwärzter Haut. Jemand ruft: „Wer seid ihr?“—Als keine Antwort kommt, folgen Befehle. „Deckt die Flanke“, „Deckt McArthur“, „Nicht so weit nach vorne, bleibt hier“. Ehe ich mich versehe, stürmen die Gestalten aus der Dunkelheit bedrohlich auf mich zu, doch ein Kerl in Metallrüstung springt vor mich und Klingen kreuzen sich. Hier sehe ich Alex wieder. Er stürmt mit gezogener Axt an mir vorbei und brüllt aus vollem Hals, während er mit seiner Streitaxt auf einen Kämpfer aus meiner Gruppe einprügelt. Ich bin mir unsicher, ob er besonders gut spielt oder einfach nur seinen Aggressionen freien Lauf lässt. Die Waffen sind schaumstoffumhüllte Fiberglasstäbe, die mit Latex überzogen sind. Da könne nichts passieren, solange man sich an die Regeln hält, sagt man mir. Alex stirbt wie die anderen wilden Angreifer in eindrucksvoller Pose und mit markerschütterndem Todesschrei. Im Kampf gelten viele ungeschriebene Regeln. Jeder hält nur eine gewisse Anzahl von Treffern aus. Je mehr Rüstung du trägst, desto mehr Schläge prallen unwirksam von dir ab. Doch genau Buch wird darüber nicht geführt. Vielmehr setzt man Vertrauen in die Spieler, dass diese sich ihren Verletzungen dramaturgisch angemessen verhalten—und das bis zum Tod. Natürlich hält sich nicht jeder daran—wer stirbt schon gern, selbst wenn es nur imaginär ist? Das führt immer wieder zu Konflikten. Dafür gibt es dann die Männer bzw. Frauen im roten T-Shirt. Als Spielleitung laufen sie uns die ganze Zeit hinterher. Sie koordinieren, mit Hilfe von Walkie-Talkies, wann der nächste Bärenangriff folgt. Außerdem sind sie die armen Schweine, die Konflikte lösen müssen, wenn jemand zu stark über die Stränge schlägt mit seiner Performance. Eigentlich sollte das aber egal sein, denkt man, weil die Schlacht übrigens eine reine Farce ist. Längst ist bestimmt, wer gewinnen wird. Reihenweise fallen die Wendools. Tote Bärenkrieger laufen zurück, um die Schlachtreihen neu aufzufüllen. Auch Alex wirft sich unzählige Male ins Messer. Der Sieg der Guten ist vorbestimmt, die niedergestreckten zotteligen Wilden bleiben nach einiger Zeit endgültig liegen. Wir bleiben siegreich—nicht ganz unerwartet. Zum Abendessen geselle mich zu einer Gruppe Nordmänner mit rot-blau kariertem Kilt. Während ein Schotte Fleisch auf einen Dreifußgrill legt, hört man fernen Kampflärm. Dann Schreie: „Sie schießen Brandpfeile!“, „Die Taverne brennt!“ Ich frage den Griller, ob er nicht eingreifen will, er lacht nur und meint: „Ach was, so ernst ist das nicht, es gibt andere, die reißen sich darum zu kämpfen. Es ist ja nur ein Spiel. Wäre ja tragisch, wenn das Fleisch auf dem Grill verbrennt.“ Während andere Spieler panisch versuchen, eine Löschkette vom Brunnen zur Taverne zu bilden, um das imaginäre Feuer zu löschen, dreht der Brust rasierte Nordmann mit den langen blonden Haaren und gestutztem Bart das Grillfleisch gelassen um und fügt lächelnd hinzu: „Ich mag Schlachtenlärm, ich mag es, wenn die Verletzten schluchzen und wimmern.“ Später finden sich alle im großen Tavernenzelt zum Feiern ein. Als das Zelt sich langsam füllt, geht ein massives Büffelhorn herum. Es ist bis zum Rand mit warmem Honigwein gefüllt. Die Spieler sind aus ihren Rollen geschlüpft und haben sich zusammen mit den abgeschminkten wilden Bären zum Siegesfest eingefunden. Alle sind in Siegesstimmung. Bier und Met fließen in Strömen. Grölen geht durch die Menge: „Rauriker Segu!“ Ein aus dem germanischen entlehnter Kriegsschrei. Alle stimmen mit ein. McArthur, der verwirrte Druide, hat auch seine Rolle abgelegt und sagt zu mir: „Das ist ein Freak-Hobby—alles Freaks.“