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I(talians) Believe, in Anarchy!

Europa im Pogo-Fieber.

Carlo Giuliani, ein 23-Jähriger aus Genua, liegt auf der Straße, nachdem er von den Carabinieri während einer Demonstration gegen den G-8-Gipfel 2001 erschossen wurde.  Foto mit freundlicher Genehmigung von Alberto Ramella/Black Archives

Während die Amerikaner vorzugsweise gegen die Fehler der Regierung protestieren, indem sie auf Senatorinnen schießen und Schulkinder mit Rohrbomben in die Luft sprengen, haben wir Europäer sehr viel ausgeklügeltere und ehrenhaftere Methoden, den Kapitalistenschweinen unsere Schmerzensschreie zu Gehör zu bringen. Da unsere Bullen keine Knarren tragen und einen winzigen Touch weniger brutal sind als die auf der anderen Seite des Atlantiks, hat sich bei uns die schöne Tradition des öffentlichen Protests erhalten können. Letztes Jahr ging Griechenland in Flammen auf, ebenso wie London. Wie wir schon in unserem Artikel aus der letzten Ausgabe, „Dann macht doch, ihr schwulen Säcke!“, schrieben, bereitet sich Europa auf künftige neue Proteste vor, indem es seine Polizei einem paramilitärischen Training unterzieht und sie mit Waffen ausstattet, die bisher nur angewendet wurden, um Orte wie Afghanistan und den Iran von ihrem Leiden zu befreien, nicht der Zone des westlichen Kapitalismus anzugehören. Wir haben uns vor Kurzem mit ein paar Anarchisten getroffen, und hier folgt, was wir erfahren haben … ITALIANS DO IT BETTER Den Kern dieser neuen Welle öffentlicher Proteste bilden anarchistische Organisationen mit Operationsbasis in Rom. Während viele (uns eingeschlossen) Italiener vor allem mit langen Schlangen missgelaunter Touristen mit 700-Dollar-Sonnenbrillen assoziieren, ist Italien auch die Heimat von ein paar der leidenschaftlichsten Anarchisten der Welt. Das ist der Grund, warum Hunderte von ihnen letzten Monat bei den Demos am Parliament Square in London auftauchten. Viele Briten, ein paar Holländer—aber (wie auch beim Fußballhooliganismus) waren die Italiener diejenigen, die bei Weitem am aktivsten waren. „Was die Aggressivität betrifft, sind sie uns um Lichtjahre voraus“, sagte ein Typ von Green and Black Cross, einer Anarchistentruppe, die ihren Hauptsitz ganz in der Nähe des Londoner Vice-Büros hat. Diese Leute legen es so darauf an, die Straße in ein Schlachtfeld zu verwandeln, dass sie einen Teil ihrer ca. 200 Mitglieder als Sanitäter ausbilden. „Während wir mit Steinen werfen, lassen sie Bomben hochgehen“, fügte er hinzu. Die italienischen Anarchisten machten 1920 das erste Mal in der internationalen Gemeinschaft der Freiheitskämpfer auf sich aufmerksam, als sie die J.-P.-Morgan-Bank auf der Wall Street in die Luft gehen ließen und damit das beachtliche Resultat von 38 Toten und 143 schwer verletzten Bänkern (und komplett unschuldigen Passanten) erzielten. Seitdem gehen wesentlich mehr Bombenanschläge auf das Konto der Italiener—insgesamt ca. 150—als auf das der Anarchisten anderer Länder. Während des Zweiten Weltkriegs schlossen sich viele Anarchisten mit ihren Erfahrungen im Bombenlegen der Resistance gegen die Nazis an. Nach dem Krieg nutzten sie ihre Fähigkeiten, um Safes zu knacken und Leute auszurauben, und ihre Bewegung so finanziell zu unterstützen. Sie rechtfertigten das mit der Doktrin des „Illegalismus“—der Vorstellung, dass Anarchisten kriminell sein dürfen, weil der Staat niemandem vorschreiben darf, was er tun soll. Das aktuellste Beispiel waren die Anschläge der Italiener auf die Schweizer und Chilenischen Botschaften kurz vor Weihnachten letzten Jahres mit Hilfe von mit Sprengstoff und Metallsplittern gefüllten Videokassetten, die von Neun-Volt-Batterien gezündet wurden.

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Anarchisten rennen 1970 während einer Demonstration vor der Università Cattolica durch die Straßen Mailands. Foto mit freundlicher Genehmigung von Benzi/Contrasto

SIE HABEN COOLE SLOGANS Die Bomben waren das Werk von Lambros Founas, einer Zelle der Informellen Anarchistischen Föderation (FAI), die nach einem griechischen Anarchisten benannt worden ist, der im März bei einer Schießerei mit der Polizei ums Leben kam. Die italienischen Anarchisten sind extrem anfällig für internes Gezicke. Die Initialen FAI sind ein häufiger Anlass für Verwirrung, weil sie sowohl für die Italienische Anarchistische Föderation (eine „offizielle“ Gruppe) als auch für die Informelle Anarchistische Föderation (eine „inoffizielle“ Gruppe) und die Iberische Anarchistische Föderation stehen, eine seit 80 Jahren bestehende spanische Gruppe. Für die jüngsten Bombenanschläge hat die inoffizielle italienische Gruppe die Verantwortung übernommen—die Mitglieder der offiziellen italienischen FAI sind eher der Meinung, dass Bomben und Gewalt nur zu Vergeltungsaktionen der Polizei gegen Anarchisten führen. Die Antwort der inoffiziellen FAI auf solche Bedenken ist: „Fuck off! Ihr seid totale Weicheier und Gewalt ist die einzige Antwort.“ Diese Haltung teilen sie mit einer inzwischen vielleicht schon nicht mehr bestehenden Gruppe namens Black Dog, die sagt, dass die Streitereien unter Anarchisten, ob Gewalt nötig ist (was sie im Übrigen glauben), es dem Staat erlaubt haben, zu „teilen und herrschen“, indem sie die „guten“ Anarchisten der offiziellen FAI von den schlimmen, bombenlegenden „bösen“ Anarchisten der inoffiziellen FAI unterscheiden. Wie eine Regierung eine anarchistische Organisation überhaupt je als „gut“ einschätzen kann, ist uns nicht ganz klar, aber vermutlich sind die Dinge alle eher relativ, wenn Leute versuchen, einen in die Luft zu sprengen.

Zwei Polizisten nehmen 1970 während der Aufstände an der Università Cattolica in Mailand einen Jungen fest. Foto mit freundlicher Genehmigung von Perrucci/Contrasto

DIE CIA HAT EINEN NEONAZI-AUFSTAND GEGEN SIE FINANZIERT Diese andauernden Meinungsverschiedenheiten führen manchmal dazu, dass die sogenannten bösen Anarchisten die guten auf Demos angreifen—was für die Bullen eine unterhaltsame Abwechslung davon ist, ständig großen Betonbrocken und Benzinbomben ausweichen zu müssen. Allerdings haben die italienischen Anarchisten auch gute Gründe, einander mit Argwohn zu begegnen. In den 50ern und 60ern beschlossen die NATO und die CIA, eine Geheimarmee europäischer Widerstandskämpfer aufzubauen, die Widerstand gegen die Sowjetunion leisten sollte, falls sich die Russkis je vornehmen sollten, einzuwandern und den Kontinent zu übernehmen. Die einzigen Leute, die die NATO für diesen Job gewinnen konnte, waren irgendwelche Durchgeknallten und Neo- bzw. Ex-Nazis, von denen viele in Italien lebten. Die NATO stattete die italienischen Faschisten dann unglaublicherweise noch extra mit massenhaft Knarren und Bomben aus, welche sie übers ganze Land verteilt in Kirchen versteckten. Sie bildeten die Leute in CIA-Camps aus, wo man ihnen beibrachte, wie man Menschen ermordet und Gebäude in die Luft sprengt. Die Sowjetunion brach dann natürlich zu einem stinkenden Haufen zusammen und die befürchtete Invasion fand nicht statt. In Italien gruben die Faschisten die NATO/US-gesponserten Waffen aus und begannen damit ihre eingeschworenen Feinde zu erschießen—die Anarchisten. Sie betrieben außerdem einen sogenannten „Terrorismus unter falscher Flagge“, was eine nette Umschreibung dafür ist, wahllos Menschen aus der Bevölkerung umzubringen und dann auf Pressekonferenzen zu behaupten, dass die Anarchisten dahinter stecken. Das schrecklichste Beispiel dieser Art Terrorismus spielte sich am 2. August 1980 ab, als eine Bombe im Bahnhof von Bologna hochging, wobei 85 Personen ums Leben kamen und 200 verletzt wurden. Zunächst wurden die Anarchisten (und Kommunisten) beschuldigt, und wohlplatzierte Quellen riefen sofort nach der Einsetzung einer proamerikanischen, autoritären Regierung. Aber die italienische Polizei roch Lunte, weil sie wusste, dass Anarchisten bei ihren terroristischen Unternehmungen normalerweise präzisere Angriffe auf Agenten des Staates wie Polizisten und Politiker bevorzugten, statt wahllos Zivilisten in die Luft zu jagen. Sie hatte recht. Wie sich herausstellte, ging die Gräueltat auf das Konto der faschistischen Bewaffneten Revolutionären Nuclei (NAR), die mit korrupten Beamten und Gangstern zusammenarbeiteten. SIE PLANEN DIE WELTHERRSCHAFT ZU ÜBERNEHMEN Noch vor zehn Jahren hätte es fünf Jahre der Planung und Nötigung bedurft, um 100 Anarchisten gemeinsam in denselben Raum zu kriegen. Aber heute ist dies dank einer neuen subkulturellen Gruppe namens „Leute, die den ganzen Tag Pot rauchen und sich Videos über Verschwörungstheorien auf Foren über die Neue Weltordnung ansehen“ innerhalb eines einzigen Tages möglich. Und das trifft für Gruppen in ganz Europa zu, besonders an so miesen Orten wie Whitechapel, Turin, Dresden oder in Ländern wie Lettland oder Stadtvierteln wie Exarcheia in Athen. Wenn du zusätzlich bedenkst, dass Anarchie in Drecklöchern floriert, und dir dann noch den fortschreitenden ökonomischen Kollaps Europas vor Augen führst, der die momentanen Drecklöcher noch schlimmer macht und gleichzeitig auf der ganzen Welt neue davon erschafft, dann macht das, was uns unser Typ von Green and Black Cross erzählt hat, total Sinn. „Die italienischen Anarchisten haben ihrem Kampf neue Energie eingehaucht, um von der um sich greifenden Desillusionierung der jungen Leute mit dem Staat zu profitieren“, erklärte er. „Die griechischen Krawalle haben sie inspiriert, wieder aktiv zu werden, und jetzt sehen sie rund um sich diese ganzen anderen Proteste und so weiter laufen. Sie werden diese Gelegenheit ergreifen, um so gewaltsam und kompromisslos zurückzukehren, wie sie können. Ihre Gruppen sind immer wieder abgeschrieben und verlacht worden, aber jetzt können sie der Welt zeigen, aus welchem Stoff sie wirklich gemacht sind. Bei den Krawallen am Parliament Square sagte einer von ihnen zu uns: ‚Dies sind wirklich besondere Zeiten.‘“